Botschaft von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich einer Diskussion mit deutschen und tschechischen Jugendlichen

Schwerpunktthema: Rede

Policka, , 4. September 1996

Sehr geehrter Herr Präsident Havel, liebe Teilnehmer des deutsch-tschechischen Jugendtreffens!

Ich freue mich sehr, daß ich heute mit Ihnen zusammensein kann, so wie Präsident Havel und ich uns das vor gut einem Jahr vorgenommen haben.

Sie sind als Tschechen und Deutsche zusammengekommen, um sich kennenzulernen, um gemeinsam zu diskutieren, gemeinsam zu arbeiten und auch ein bißchen miteinander zu feiern - kurz, um sich besser kennenzulernen und um schließlich ein wenig klüger und wissender nach Hause zu fahren.

Es ist noch gar nicht so lange her, da wäre ein solches Treffen nicht - oder doch nur höchst schwerlich - denkbar gewesen. Und bitte vergessen Sie das alles nicht! Denken Sie bei allen Schwierigkeiten, die es immer noch gibt, stets daran, wieviel sich in den letzten Jahren zum Besseren gewandelt hat! Das heutige Treffen ist eigentlich schon ein Ausdruck der Normalität, die es zwischen unseren Völkern auf vielen Gebieten inzwischen gibt, und wo dieses Ziel noch nicht ganz erreicht ist, da kann es doch wenigsten zum Modell einer Normalität werden, die Sie erreichen können, die Ihre Generation erreichen kann, wenn sie es nur will.

Genau das wollten Vaclav Havel und ich, als wir solche Zusammenkünfte vorschlugen, und deswegen sind wir heute hierher gekommen, um Ihnen zu sagen: Ihr seid die Zukunft! Begegnet euch, sooft und so gut es geht! Macht besser, was die Generationen vor uns und vor euch schlecht gemacht haben!

Und vor allem: Befaßt euch immer wieder mit der tschechisch-deutschen Geschichte, um daraus zu lernen, daß sich Krieg, Terror und Barbarei - von welcher Seite auch immer - nicht wiederholen dürfen.

Ich weiß, daß manch einer von Ihnen gehofft hat, wir hätten bei diesem Treffen die deutsch-tschechische Erklärung schon auf dem Tisch, über die unsere Regierungen verhandeln. Ich bin ganz sicher, daß sie kommen wird. Aber ich meine, wie es Vaclav Havel ausgedrückt hat, daß sie ungeheuer schwierige Probleme - vor allem auch psychologische - zum Gegenstand hat und daß deshalb größte Sorgfalt am Platz ist; da darf es auf einige Wochen nicht ankommen.

Hier bei Ihrem Treffen sollte sie ohnehin nicht im Vordergrund stehen. Denn alles, was diese Erklärung kann, ist, dabei zu helfen, daß die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Diese Vergangenheit war schlimm und es kommt daher nicht von ungefähr, daß die älteren Generationen in unseren beiden Ländern einander oft noch voller Zurückhaltung und Mißtrauen begegnen. Der Geschichte muß man sich stellen, mit dem Mut zur vollen Wahrheit, ohne irgend etwas wegzulassen und ohne etwas hinzuzufügen. Bereit zum Eingeständnis eigener Schuld und bereit zur Vergebung. Bereit, nicht nur vor der Tür des anderen, sondern auch vor der eigenen Tür zu kehren - so weh das uns allen tun mag.

Was die deutsch-tschechische Erklärung dazu leisten kann, das muß und wird auch geschehen. Aber Ihnen, den jungen Menschen aus unseren beiden Völkern, sage ich mit Nachdruck: Vergeßt zwar diese Geschichte nicht und kehrt sie um Gotteswillen nicht unter den Teppich! Aber vergeßt auch nicht, daß es hier letztlich um die Verantwortlichkeiten und um die Leiden eurer Großelterngeneration geht, an denen diese schwer genug getragen hat und immer noch trägt, die euch aber nicht den Weg in eine bessere, in eine menschlichere Zukunft verstellen dürfen!

Mit Freude habe ich im Programm dieses Treffens gesehen, daß Sie unsere gemeinsame Vergangenheit -'' und zwar gerade auch ihre bösen Seiten - sehr wohl zum Gegenstand eines Arbeitskreises gemacht haben, daß es aber andere Arbeitskreise zu Themen Ihrer Generation gibt: zur politischen Mitsprache der Jugend, zu Themen der Technik und der Medienentwicklung, des Umgangs von Behinderten miteinander und mit uns, vor allem auch solche Arbeitsgruppen, in denen gemeinsam kulturell gearbeitet wird - Musik, Tanz, Theater usw. Das ist der richtige Weg, und der heißt: nichts ausblenden und schönreden (übrigens auch nichts schönschweigen), vor allem aber die Gegenwart und die Zukunft gestalten. Vergessen Sie das nie! Das ist Ihre Aufgabe. Das ist das, was wir Alten von Ihnen erwarten.

Und die Zukunft heißt Europa. Vor vierzig Jahren gab es "nur" eine europäische Vision. Aber es war die Vision, aus einem Kontinent der Kriege und des Hasses einen Kontinent des Friedens und der Versöhnung zu machen. Es war eine Vision der Freiheit, der Mündigkeit des Menschen, des Rechts, des Wohlstands und der sozialen Gerechtigkeit. In Westeuropa ist diese Vision schon lange Wirklichkeit geworden. Und wenn wir sie nur im Auge behalten, wird sie auch in Mittel- und Osteuropa sich vollenden.

Europa ist mehr als ein Markt, mehr als Bürokratie. Europa hat eine eigene Philosophie, eine eigene Lebensphilosophie, ist eine Idee, lebt als gemeinsame Kultur. Für euch, die Jungen, soll es eine Erfahrungsgemeinschaft, eine Erlebnisgemeinschaft, und damit auch eine Zukunftsgemeinschaft werden. Denn: Dieses geeinte Europa muß von unten wachsen, von den Menschen her.

Hier soll kein moralischer Schlußstrich gezogen werden. Man kann seine Vergangenheit nicht per Beschluß verabschieden. Sie bleibt als Erinnerung und Mahnung präsent. Aber die Chance zum Neuanfang besteht zu jeder Zeit. Sie müssen wir nutzen.

Sie alle, die Sie hier versammelt sind, können Beispiele des guten Zusammenlebens sein. Sie können Vorbilder schaffen, auch für die ältere Generation, wenn diese nicht mehr in der Lage ist, Brücken der Verständigung und Bande der guten Nachbarschaft zu schaffen. Es ist meine feste Überzeugung: Die Tschechen und die Deutschen haben eine gute Zukunft als Nachbarn und vor allem als Freunde im vereinten Europa. Nehmen Sie diese Chance wahr.