Artikel zum Thema "Die Rechte des Menschen" in der Wochenzeitung "Die Zeit"

Schwerpunktthema: Rede

6. September 1996

Die Diskussion um die Menschenrechte wird in Deutschland derzeit wohl intensiver geführt als in allen anderen Ländern. Das ist gut so. Schließlich geht es um die überzeugendste Idee, die nach heutigem Wissen imstande ist, Frieden zwischen Menschen und auch zwischen Staaten zu schaffen. Bosnien hat das in aller Deutlichkeit bewiesen. Erst dem Druck der öffentlichen Meinung in den westlichen wie den islamischen Ländern war es zu verdanken, daß nach dem Fall von Srebreniza eine Intervention zustandekam, die dem Völkermord Einhalt gebot und den Weg zum Abkommen von Dayton öffnete. Ob sich alle mit diesem Abkommen verbundenen Hoffnungen erfüllen werden, wissen wir noch nicht. Aber eines wissen wir: Es mußte um der Menschenrechte willen versucht werden.

Daß die Menschenrechte in Deutschland eine besondere Rolle spielen, kann nach den Erfahrungen unserer Geschichte nicht überraschen, und wenn die Diskussion über sie hierzulande leidenschaftlicher als anderswo geführt wird, so bestärkt mich das in der Zuversicht, daß wir imstande sind, die Lehren aus dieser Geschichte zu ziehen. Denen, die in der Debatte über Bosnien an diese Lehren erinnert haben, gebührt unser Dank. Es ist nicht immer leicht, sich in solchen Fragen verständlich zu machen, und wer es dennoch versucht, der läuft Gefahr, "quer zu liegen", "gegen den Strich zu bürsten", politische Gewohnheiten, ja Trägheiten zu stören. Dennoch war und ist es notwendig.

Gedankliche Hürden

Freilich reicht es in der Menschenrechtsdebatte nicht aus, die vorhandenen Energien in öffentliche Debatten und Aktionen zu investieren. Auch hier ist noch lange nicht alles gut, was gut gemeint ist. Das gilt vor allem für die scheinbaren Alternativen, die auf den ersten Blick so einleuchtend sind und bei genauerem Hinsehen dann doch den Weg zur Verwirklichung der Menschenrechte eher verstellen. In Wirklichkeit geht es bei einer erfolgreichen Menschenrechtspolitik selten um ein "entweder-oder". Fast immer kommt es auf nüchternes Abwägen und Differenzieren an.

- Es geht nicht mehr um die Wahl zwischen der Achtung vor der Souveränität anderer Staaten und dem gleichgültigen Zusehen bei Menschenrechtsverletzungen. Seit es internationale Menschenrechtskataloge gibt, liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen diesen Extremen. Es ist unsere Aufgabe herauszufinden, wo das ist.

- Es geht auch nicht mehr um den Gegensatz zwischen einer "imperialistischen" Menschenrechtsmission und einem permissiven Werterelativismus. Auch hier liegt die Wahrheit mit Sicherheit zwischen den Extrempositionen.

- Und es geht ganz gewiß nicht nur um den Ausverkauf der Menschenrechte zugunsten wirtschaftlicher Beziehungen; denn weder ist bisher bewiesen, daß sich beides notwendigerweise aus-schließt, noch ist bewiesen, daß es nicht auch noch andere gewichtige Gesichtspunkte gibt, die in eine solche Abwägung hineinwirken können.

Daß die Menschenrechte, zumindest in ihrem Kern, universal sind, darf man bei alldem nicht in Zweifel ziehen lassen. Aber darum geht es heute erst in zweiter Linie. Im Vordergrund steht die Frage, wie sie in jeder einzelnen Region der Welt und in jeder konkreten politischen Situation verwirklicht werden können. Nicht mehr das "ob" steht zur Debatte, sondern das "wie".

Veränderte Welt

Wir stehen heute, wenn nicht alles trügt, am Beginn einer neuen politischen Epoche. Kulturen und Philosophien, die bis vor kurzem noch ideologisch unterdrückt waren, erwachen zu neuem Selbstbewußtsein. Unterschiedliche Sichten der Welt und des Menschen beginnen aufeinander zu prallen. Je selbständiger die Völker werden, um so mehr erkennen sie ihren eigenen Wert und suchen nach eigener Identität. Manche müssen sich dabei noch heute von den Nachwirkungen langer kolonialer Bevormundung befreien. Das sind schwierige Prozesse, die noch keineswegs abgeschlossen sind. Wer den internationalen Menschenrechtskatalog voranbringen will, muß sich dieser Schwierigkeit stets bewußt sein. Er sollte sich vor allem drei Fragen stellen.

Erstens: Was ist unser westliches Verständnis der Menschenrechte wirklich und wie sind wir zu ihm gelangt?

Zweitens: Welche kulturellen Wurzeln haben Menschenrechte in anderen Teilen der Welt und in welcher Ausgestaltung sind sie dort bereits anerkannt?

Und schließlich drittens: Wie müssen Strategien aussehen, die die Menschenrechte dort fördern, wo sie - insbesondere in ihrer Ausgestaltung durch die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 - noch nicht erfüllt sind?

Menschenrechte bei uns

Beim ersten Schritt wären wir Europäer, ja alle Völker der westlichen Welt, gut beraten, von dem hohen Roß herunterzusteigen, auf dem wir in Fragen der Menschenrechte so gern sitzen Wir haben ähnliche Entwicklungsprozesse durchgemacht, wie wir sie heute in anderen Teilen der Welt beobachten. Die amerikanische Bill of Rights von 1776 und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, die zum Modell für alle späteren Menschenrechtserklärungen wurden, sind vor jetzt gerade zweihundert Jahren verkündet worden, und auf die Rückfälle, die es danach immer noch gegeben hat, braucht man wohl nicht besonders hinzuweisen. Zur wirklichen Demokratie, d.h. zu einer Verfassungsform, in der die Regierenden von der Mehrheit der Bevölkerung frei gewählt werden können, kam es in der westlichen Welt noch später, nämlich erst im letzten Jahrhundert. In anderen Teilen der Welt war - und ist - der Ablauf vielfach umgekehrt. Erst nach einer wirklichen Demokratisierung werden, als deren Folge, auch die Menschenrechte allmählich respektiert, weil die Bürger sie zunehmend einfordern.

Man kann daraus zweierlei lernen. Einerseits liegt es nahe, die Demokratisierung überall in der Welt als eine der wirkungsvollsten Strategien zur Durchsetzung der Menschenrechte zu betrachten und dementsprechend zu fördern. Andererseits kann es auch Staaten geben, die sich ernsthaft als Demokratien verstehen, in denen die Verwirklichung der Menschenrechte aber trotzdem noch zu wünschen übrig läßt.

Universalität der Menschenrechte

Die Menschenrechtspolitik als einen Entwicklungsprozeß anzuerkennen ist etwas grundlegend anderes als eine Relativierung der Menschenrechtsidee. Vor allem ist kein Zweifel an der - zumindest grundsätzlichen - Universalität der Menschenrechtsidee daraus abzuleiten.

Manche Eurozentriker, auch manche Verfechter des aus den USA kommenden Szenarios eines unvermeidlichen "clash of civilizations", sind allerdings der Ansicht, eine Menschenrechtszivilisation sei nur in westlichen, besonders in christlich fundierten Kulturen möglich, andere seien dazu nicht fähig. Wir werden später noch genauer überlegen müssen, ob das richtig ist oder nicht. Jedenfalls hat dieser Relativismus schon jetzt zu einem gefährlichen Echo geführt. Manche Vertreter asiatischer Länder hat er nämlich zu der umgekehrten These provoziert, die Menschenrechte seien als "westliche Erfindung" für asiatische Kulturen überhaupt ungeeignet.

Für uns Deutsche sollte das Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte zumindest im Prinzip selbstverständlich sein. Wir haben selbst erlebt, wohin es führt, wenn die Menschenwürde nur den Angehörigen eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Rasse zugebilligt wird.

Aber auch sonst kann das Urteil nicht anders lauten, und auf die Zustimmung der Staaten allein kann es dabei auch nicht ankommen. Gegen sie richten sich die Menschenrechte ja in den meisten Fällen. Den Anspruch auf Beachtung und Schutz der Menschenrechte erheben Menschen, wenn sie sich von ihrer jeweiligen Obrigkeit in ihrem Wunsch nach Freiheit und Gleichwertigkeit verletzt fühlen. Gefragt ist daher ebenso die Überzeugung der Menschen, der "einfachen Leute", wie die der Staaten.

Daraus folgt etwas, was auch Staaten und Regierungen nicht außer Betracht lassen sollten. Politische Instabilität ist fast immer auch die Reaktion auf die Mißachtung der Menschen und ihrer Rechte, und je zentraler diese Rechte sind - Recht auf Leben, Verbot von Sklaverei und Folter, Schutz vor willkürlichem Freiheitsentzug - , desto wahrscheinlicher schlägt ihre Verletzung auf das politische System zurück, das sie verletzt. Die Achtung der Menschenrechte muß von den Regierenden also nicht nur als Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch als Gebot der Klugheit begriffen werden.

Pluralismus der Kulturen, Gemeinsamkeit der Humanität

Damit stehen wir vor der zweiten Frage, die oben aufgeworfen wurde: der Frage nach der Verwurzelung der Menschenrechte in anderen Kulturen.

Die weit verbreitete Annahme, die Wurzeln der Menschenrechtsidee seien nur in den westlichen Kulturen zu suchen, ist nicht nur eurozentrisch. Sie ist ganz einfach falsch. Wirkliche Kenner der nahöstlichen und asiatischen Kulturen wissen, daß die klassischen Quellen des Hinduismus, des Konfuzianismus, des Buddhismus und des Islam ähnliche Standards der Humanität aufgestellt haben wie die griechische Antike, das Judentum und das Christentum, auf denen unsere Kultur beruht.

Alle haben sie eine Ethik der Humanität begründet. In allen gilt beispielsweise die Goldene Regel: "Was Du nicht willst, daß man Dir tu', das füg' auch keinem andern zu". Schon dieser Satz würde, in die Wirklichkeit übertragen, den ganzen Kernbereich der Menschenrechte abdecken, von dem soeben die Rede war. Denn wer will schon umgebracht, gefoltert oder ins Gefängnis gesperrt werden? Zumindest der Kernbereich der Menschenrechte ist also unmittelbarer Ausfluß der Goldenen Regel, und diese gilt, wie dargelegt, in allen Kulturen.

Man vergißt zu oft, daß Konfuzius und Sokrates im gleichen Jahrhundert lebten. Sie wußten zwar nichts voneinander, aber sie plädierten für die gleiche Ethik der Menschlichkeit, die gleiche Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die gleiche Überwindung von Unrecht und Gewalt.

Freilich müssen dann auch Aristoteles und Konfuzius nebeneinander gestellt werden, die eine wesentliche Weggabelung markieren. Gewiß: Beide unterschieden zwischen Recht und Ethik. In der aristotelischen Tradition gewannen dann aber das Recht und mit ihm die bürgerlichen Freiheiten an Gewicht, während in der konfuzianischen Tradition die Ethik und mit ihr die bürgerlichen Pflichten in den Vordergrund traten. Man kann beiden nur wünschen, daß sie sich wieder aufeinander zubewegen möchten. Wenn Konfuzius und Aristoteles heute noch lebten, würden sie wohl nachdrücklich dazu raten. Schließlich haben sie beide auch den Gedanken der "richtigen Mitte" verfochten.

Noch ein weiteres Beispiel: Der klassische Islam des 9. bis 13. Jahrhunderts war ungleich toleranter, aufgeklärter und humaner als die christlichen Gesellschaften der gleichen Zeit, und in sozialer Hinsicht ist der Islam seit je egalitärer gewesen als mancher andere Kulturkreis. Eine prinzipielle Menschenrechtsfeindlichkeit signalisiert auch das nicht.

Das sollte uns vorsichtig im Urteil werden lassen, auch wenn wir beobachten, daß Regierungen in anderen Teilen der Welt die politische Bedeutung der Menschenrechte anders einstufen als wir. Ob wir es wollen oder nicht: Wir müssen das auch dann mitbedenken, wenn wir es nicht gutheißen können. Vor allem aber sollten wir uns in die Lage solcher Regierungen versetzen, ehe wir sie anprangern oder mit unseren Ratschlägen überziehen.

Wissen wir genug von den Problemen der anderen?

Ich wiederhole: Im Kernbereich der Menschenrechte - beim Verbot von Folter und Sklaverei, beim Recht auf Leben, beim Verbot des willkürlichen Freiheitsentzugs - gibt es keine kulturelle Rechtfertigung für eine Verletzung, zumindest keine, die wir akzeptieren könnten. Das hat die Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 erneut und zu Recht hervorgehoben. Schließlich haben alle Mitgliedsländer der Vereinten Nationen die Menschenrechtserklärung von 1948 akzeptiert und ebenso haben sie die Charta der Vereinten Nationen unterschrieben, die schon in ihrer Präambel die Würde der menschlichen Person betont. Die Folter ist für einen Inder genau so unerträglich wie für einen Deutschen oder Briten, die Verhaftung ohne faires Gerichtsverfahren ist für eine Iranerin ebenso schlimm wie für einen Argentinier. Dieses zivilisatorische Minimum ist aus den Gedankensystemen aller Hochkulturen ableitbar. Es ist auch nicht verhandelbar. Es ist ein Essentiale der Weltzivilisation.

Aber jenseits dieses Kernbereichs gibt es Zonen von geringerer Sicherheit. Ich frage mich in diesem Zusammenhang mitunter, ob wir in Deutschland wirklich eine Vorstellung davon haben, vor welchen Problemen andere Staaten stehen. Wissen wir wirklich, was es bedeutet, in Indien 900 Millionen, in China 1,2 Milliarden Menschen zu ernähren? Machen wir uns hinreichend klar, daß in diesen Ländern die uneingeschränkte Gewährung des Menschenrechts auf Freizügigkeit die Landflucht von hunderten Millionen Menschen und damit unvorstellbares Massenelend in verslumten Städten nach sich ziehen kann? Vielleicht hilft es ja, sich diese Größenordnungen einmal zu vergegenwärtigen. Bei uns bricht jedenfalls schon die Furcht vor Überfremdung und Arbeitsmarktkonkurrenz aus, wenn einige hunderttausend Süd- und Osteuropäer ins Wandern kommen.

Haben wir - ein weiteres Beispiel - ein Gefühl dafür, wie sehr in manchen Regionen der Welt der Kampf ums Überleben zur Einordnung des Menschen in die Familie und andere gesellschaftliche Gruppen geführt hat? Ich bin weit davon entfernt, Kasten-, Clan- und Klassengesellschaften samt den ihnen zugrunde liegenden Formen der Ungleichbehandlung, ja Diskriminierung von Menschen zu entschuldigen. Aber ich warne auch hier vor Verständnislosigkeit und vor allem vor Überheblichkeit. Schließlich fällt es uns bereits schwer, die Gleichberechtigung der Geschlechter, eines der nächstliegenden Prinzipien überhaupt, nicht nur im Gesetz, sondern auch im beruflichen Alltag zu verwirklichen.

Und noch eines: Haben wir ein Patentrezept dafür, wie die rapide Wirtschaftsentwicklung und der fundamentale Strukturwandel, in dem sich beispielsweise Länder wie Rußland oder China heute befinden, ohne soziale Verwerfungen und ohne Ungerechtigkeiten bewältigt werden sollen? Tun wir uns nicht schon mit dem ver-gleichsweise "leichten" Fall der neuen Bundesländer schwer? Und hatten wir nicht bis weit in unser Jahrhundert hinein eine ebenfalls menschenrechtswidrige "soziale Frage", die aus vergleichbaren Umbrüchen entsprang?

Für einen unbeirrbaren Pragmatismus

Es bleibt noch der dritte und wichtigste Schritt. Wie sieht die Strategie aus, die wir zur Verwirklichung der Menschenrechte anwenden sollten? Aus meinen bisherigen Ausführungen ergeben sich, wie ich meine, fünf Konsequenzen.

1. Ich plädiere für Unbeirrbarkeit in der Zielsetzung. Unser Ziel ist die weltweite Achtung der Menschenrechte, wie sie insbesondere in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 niedergelegt sind. (Und wenn gefragt wird, ob ein Parlament wie der Deutsche Bundestag eine Resolution über Menschenrechtsprobleme in einem anderen Land verabschieden darf, so lautet meine Antwort eindeutig "ja".)

2. Bei der Verwirklichung des Ziels plädiere ich aber für Pragmatismus. Nur "Bekennermut" zu zeigen - und das meist auch noch ohne Gefährdung der eigenen Person -, hat keinen Sinn; es geht um die tatsächliche Verbesserung tatsächlicher Verhältnisse.

Solcher Pragmatismus ist etwas fundamental anderes als zielloses Durchwursteln oder gar Opportunismus. Er ist eine rationale Methode zur Annäherung an ein für richtig erkanntes Ziel. Amerikanische Philosophen haben diese Methode auch auf die Politik übertragen, und wir tun gut daran, sie uns zu eigen zu machen.

Am erfolgreichsten war dieser Pragmatismus bisher in der menschenrechtsorientierten Politik des KSZE-Prozesses. Mehrere Ebenen des Handelns waren in ihm verbunden: Ständiger politischer Dialog bei gleichzeitigem Eintreten für die Menschenrechte, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Vervielfältigung der Kommunikation, vertrauensbildende Maßnahmen.

Die damals praktizierte Methode läßt sich verallgemeinern. Wer sich bewußt ist, daß menschliches Handeln stets mit dem Risiko der Fehlbarkeit und Unvollständigkeit behaftet ist, der wird sich, wenn es zu einem Ziel mehrere Wege gibt, nicht dogmatisch für den einen und gegen den anderen entscheiden, sondern er wird beide nebeneinander beschreiten.

3. Ich plädiere dafür, bei der Formulierung unserer Menschenrechtspolitik sorgfältig zu differenzieren. Im Kernbereich der Menschenrechte kann es, wie schon ausgeführt, keine Relativierungen geben. In allen anderen Fragen aber muß jedes einzelne Problem gesondert betrachtet werden, auch unter Einbeziehung der kulturellen und entwicklungsbedingten Besonderheiten des betreffenden Landes. Und bei der Festlegung des konkreten politischen Handelns empfiehlt es sich, zumindest auch nach den Erfolgschancen einer Intervention, nach der Geeignetheit des Zeitpunkts und nach der richtigen politischen Ebene des Einsatzes zu unterscheiden.

4. Ich plädiere aus den schon genannten Gründen für eine Strategie der weltweiten Demokratisierung als Mittel zur Verwirklichung der Menschenrechte. Natürlich dürfen wir in einem Land nicht erst für die Menschenrechte eintreten, wenn das Ziel der Demokratisierung bereits erreicht ist. Aber soviel ist richtig: Wenn auch nicht jede Demokratie heute schon durch eine einwandfreie Menschenrechtspolitik besticht, so ist die Wahrscheinlichkeit bei ihr doch wesentlich größer, daß sie sich dieses Ziel setzt und es auch nach Kräften anstrebt, als bei jeder anderen Staatsform.

Es gibt Länder, die sich zu Demokratie und Rechtsstaat bekennen oder jedenfalls ernsthaft auf dem Wege dazu sind, die aber noch unter "Altlasten" aus früheren Zeiten (etwa im Strafvollzug, in der Führung und Ausbildung der Polizei o.ä.) leiden. Sie müssen immer wieder auf diese Probleme hingewiesen, ggfs. auch durch konkrete Maßnahmen zu ihrer Lösung veranlaßt und dabei unterstützt werden. Aber sie sollten zugleich etwas von dem Vertrauen spüren, das wir in ihre demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung setzen.

Bei Ländern, die sich bewußt nicht - oder noch nicht - zu Demokratie und Rechtsstaat bekennen, spricht zumindest die KSZE-Erfahrung gegen einen ausschließlichen Konfliktkurs und für die Methode des "Bohrens dicker Bretter". Zur Zeit der KSZE war die Sowjetunion nicht bereit, mit sich über ihre innere Menschenrechtslage reden zu lassen. Ein Abbruch der Beziehungen zu ihr hätte damals gravierende Folgen auch für den Westen gehabt; denn er hätte selbstverständlich auch zum Ende aller Rüstungskontrollverhandlungen geführt. Es war also die bessere Strategie, die Beziehungen aufrecht zu erhalten und die Menschenrechtspolitik auf multi- und transnationale Ebenen zu verlagern.

Außerdem wurde zunehmend eine Politik der Kontakte unterhalb der Regierungsebene betrieben. Vielfältig und dezentral, teilweise sogar höchst spontan unterstützte sie noch vor dem Ende des Kalten Krieges die Bildung eigenständiger Formen einer Bürgergesellschaft, die später, beim Übergang zur Demokratie und ihrem Aufbau, wertvolle Hilfen leisten konnten. Die Beispiele Polens, Ungarns und der seinerzeitigen Tschechoslowakei weisen darauf hin, daß es sich hierbei um eine in vielen Teilen der Welt wirksame Methode handeln könnte.

5. Das gilt selbstverständlich auch für die Frage der wirtschaftlichen Beziehungen. Die Alternative "Menschenrechte oder Profitgier" ist hier zu billig, und der Abbruch aller wirtschaftlichen Beziehungen kann sich unter bestimmten Voraussetzungen als ein gewiß tapferes, dafür aber auch unwirksames Mittel der Politik erweisen. In Südafrika haben, wie man heute weiß, die Wirtschaftssanktionen der Amerikaner zur Überwindung des Apartheidssystems beigetragen. Ähnliche Sanktionen gegen die Sowjetunion wären damals wohl unwirksam geblieben und wurden deshalb gar nicht versucht. Ich bin nicht ganz sicher, ob man daraus einen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts herleiten kann, daß Wirtschaftssanktionen überhaupt nur gegenüber Ländern wirken, die bereits marktwirtschaftlich organisiert sind und überdies ein starkes politisches Interesse an freundschaftlichen Beziehungen mit der westlichen Staatengemeinschaft haben. Aber ich halte einen solchen Satz zumindest für bedenkenswert.

Deshalb - und nicht wegen ökonomischer "Gewinnmaximierung" - plädiere ich für eine fortgesetzte Strategie des wirtschaftlichen Austausches. Dazu ermutigen mich die Erfahrungen mit den neuen asiatischen Demokratien, von den christlichen Philippinen über das konfuzianische Korea und das buddhistische Thailand bis zum islamischen Malaysia. Überall dort hat sich gezeigt, daß die Bildung eines wirtschaftlich erfolgreichen und dementsprechend selbstbewußten Mittelstandes auch den Hoffnungen der Bevölkerung auf Demokratie zum Durchbruch verhelfen kann. Denn Marktwirtschaft setzt Vertragsfreiheit und Vertragssicherheit - und damit ein erhebliches Maß an individueller Freiheit und an Rechtsstaatlichkeit - voraus. Menschen, die sich unter solchen Bedingungen wirtschaftlich betätigen und damit Erfolg haben, werden eines Tages auch politische Mitverantwortung fordern - und bekommen.

Natürlich ist wirtschaftliche Entwicklung nicht der einzige Weg zur Demokratie. In Burma führt uns eine Friedensnobelpreisträgerin vor, wie im Buddhismus wurzelnde demokratische Erwartungen der Mehrheit sich bereits artikulieren, ehe die wirtschaftliche Entwicklung der umgebenden Region im eigenen Land nachvollzogen ist. Aber auch hier gilt die pragmatische Einsicht: Wo immer mehrere Wege offen stehen, sollten sie alle beschritten werden. Wo immer also die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung sich anbietet, sollte auch sie versucht werden.

Wirtschaftlicher Austausch fördert nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung des Partnerlandes und er stabilisiert auch nicht automatisch das Regierungssystem. Denn er transportiert zugleich unsere Vorstellungen von Menschenrechten. Wir können Menschenrechte in anderen Staaten ja nicht dekretieren, sondern wir müssen überzeugen. Die Chancen dafür stehen gut. Es ist unverkennbar, daß gerade das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft auf der ganzen Welt, von Nicaragua bis China, Anhänger findet. Gerade wir können dafür werben, die ungeheuren Kreativitätsreserven, die in den Völkern schlummern, dadurch freizusetzen, daß ihnen die Möglichkeit gegeben wird, sie in offenen Gesellschaften und sozialen Marktwirtschaften zu mobilisieren. Daß dafür Zeit benötigt wird und der Erfolg nicht von heute auf morgen zu erreichen ist, ist kein Argument gegen die Methode, höchstens gegen ihre alleinige Anwendung.

Ich plädiere also, zusammenfassend, für die Überwindung des dogmatischen Schulenstreits, der unsere Menschenrechtspolitik augenblicklich beherrscht. Da uns das Ziel eint, können wir nur gewinnen, wenn wir uns nicht gegenseitig Heuchelei vorwerfen. Realismus und Idealismus, Interessenpolitik und Verantwortungspolitik schließen sich nicht aus. Mit der Sowjetunion über Sicherheitspolitik zu sprechen, war nicht unmoralisch. Ebensowenig ist es unmoralisch, beim Wirtschaftsaustausch mit konfuzianischen und islamischen Staaten an den Transport der Menschenrechte, an die Vermeidung des "clash of civilizations" und an die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu denken.

Es ist schließlich nicht unmoralisch, wenn wir über die Wahl der Mittel unserer Menschenrechtspolitik im Einzelfall nachdenken. Gesinnungsethik verpufft, wenn sie nicht durch Verantwortungsethik ergänzt wird. Die deklaratorische Menschenrechtspolitik bleibt ohnmächtig, wenn ihr nicht strategisches Handeln folgt.