Grußansprache von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich des debis-Forums "Die Zukunft der Dienstleistungen"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 24. Oktober 1996

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Herr Mangold, meine Damen und Herren,

Sie haben heute morgen schon einiges zur Zukunft der Dienstleistung in Deutschland gehört. Im Verlauf des Tages werden Sie noch einiges weiteres erfahren. Erwarten Sie deshalb nicht vom Bundespräsidenten, daß er schon vorab sämtliche relevanten Fragen stellt oder gar beantwortet. Aber: Die Herausforderungen der Dienstleistungsgesellschaft sind vielschichtig. Der notwendige Wandel in den Köpfen, aber auch in der Wirklichkeit verlangt mehr, als wir heute gemeinsam zu leisten vermögen. Ich möchte mich deshalb nur auf einige Thesen beschränken:

Erstens: Seit den Prophezeihungen Jean Fourasties zu den Chancen der Dienstleistungsgesellschaft als den "Großen Hoffnungen des 20. Jahrhunderts" bewegt die Industriegsellschaften die Frage nach der Zukunft des tertiären Sektors. Der Trend zur Dienstleistungsgesellschaft ist neben der weltweiten Globalisierung herausragendes Merkmal unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels. Diesen Strukturwandel nicht passiv zu erleiden, sondern aktiv mitzugestalten, damit die Dienstleistungen auch in Deutschland zum Motor für die Zukunft werden können: Das ist die große Herausforderung.

Zweitens: Viele in Deutschland warnen vor dem wachsenden Verlust industrieller Arbeitsplätze infolge der allumfassenden Globalisierung. Daß die Dienstleistungswirtschaft allein in den alten Bundesländern zwischen 1984 und 1994 3,2 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen hat, daß selbst in der Konjunkturkrise von 1994/95 hier neue Arbeitsplätze entstanden sind, daß das Schwergewicht der wirklich neuen Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern ebenfalls im Dienstleistungsbereich entstanden ist, daß 90 % der von 1976 - 1992 gegründeten Firmen Dienstleistungsunternehmen waren - über alle diese positiven Fakten wird in Deutschland viel zu wenig geredet.

Es hat also auch bei uns ein kleines Beschäftigungswunder gegeben. Wenn wir uns anstrengen, kann es sich wiederholen und kann es sich verbreitern. Wenn wir es ernst meinen mit dem ehrgeizigen Ziel, bis zum Ende des Jahrzehnts unsere unerträglich hohe Zahl von 4 Mio. Arbeitslosen zu halbieren oder zu reduzieren: Dann müssen wir in einer großen, gesamtgesellschaftlichen wie gesamtwirtschaftlichen Anstrengung auf den Dienstleistungssektor setzen.

Drittens: Ein großer Teil der in Deutschland erbrachten Dienstleistungen läuft bisher nicht über den Markt und auch nicht über die Statistiken. Sie entstehen unentgeltlich in den Haushalten, den Nachbarschaften, den Vereinen, im Ehrenamt und in der Sozialtätigkeit. Wir stehen hier vor bewundernswerten Leistungen - nicht nur, aber überwiegend - von Frauen. Entsprechend niedrig ist im internationalen Vergleich bei uns die Frauenerwerbsquote. Länder mit höherer Frauenerwerbsquote und höherem Dienstleistungsanteil erbringen mehr klassische Hausfrauen- und Familiendienstleistungen über den Markt.

Hier haben wir noch ein Defizit abzubauen: Zunächst sind die Männer zu mehr Gleichverpflichtung und Mithilfe im Haushalt zu motivieren. Zum zweiten brauchen wir familienfreundliche Strukturen in den Betrieben, aber auch in den Gemeinden, um der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen Rechnung zu tragen. Wir brauchen schließlich aber auch eine Art "Modell des kleinen Dienstleistungsunternehmens Haushalt". Arbeitsplätze in den Haushalten zu schaffen sollte erleichtert werden und wir sollten dies nicht mehr als "Dienstmädchenprivileg" abqualifizieren. Die Franzosen weisen uns mit ihrem "Dienstleistungsscheck" einen Weg, wie Arbeitsplätze im Haushalt rechtlich korrekt geschaffen werden können.

Allerdings sollten auch in der modernen Dienstleistungsgesellschaft nicht alle unentgeltlichen Tätigkeiten vollständig in den Marktprozeß einbezogen werden. Damit wäre ein Verlust an Kultur und Lebensqualität in unserem Lande verbunden, und ich vermute, wir könnten es uns finanziell auch nicht leisten.

Viertens: Ungeachtet aller vermeintlichen oder tatsächlichen säkulären Trends in Richtung Dienstleistungsgesellschaft: Wir werden in Deutschland auch in Zukunft nicht ohne einen wettbewerbsstarken industriellen Sektor auskommen. Insofern ist es ein für uns Deutsche typischer, aber gleichermaßen unnötiger Schulenstreit, ob unser Land überindustrialisiert ist oder ein Dienstleistungsdefizit hat. Es geht hier nicht um "entweder oder", sondern um "sowohl als auch": Wir brauchen in Deutschland sowohl eine innovative Industrie wie einen dynamischen Dienstleistungssektor. Nur mit beiden können wir die Herausforderungen der Globalisierung meistern, vor allem aber auch unsere Beschäftigungsprobleme.

Fünftens: Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, müssen wir zuerst und vor allem eine gewiß nicht nur für Deutschland typische, aber bei uns besonders spürbare Mentalitätslücke schließen. Wir haben in Deutschland keine Dienstleistungskultur, zu wenig "Tugend des Dienens", wie es Friedrich Schorlemer genannt hat. Wir haben allerdings auch Schwierigkeiten, uns bedienen zu lassen!

Vielleicht liegt es wirklich auch an der Sprache und ihren sog. "Konnotationen" bei dem Wort "Dienen". Wenn das richtig ist, müssen wir ein anderes Wort finden. Vielleicht hat unser Mentalitätsdefizit auch mit dem individualistischen Wertewandel zu tun. Wer nur an sich denkt, dem fällt naturgemäß die Dienstleistung für andere schwer. Wir sind schon ein merkwürdiges Volk, wenn wir mit Freude Maschinen bedienen, aber jedes Lächeln verlieren, wenn es sich um die Bedienung von Menschen handelt. Allerdings ist auch der "Minister" ein "Diener", und ich kenne keinen nichtministeriellen Politiker, der nicht gerne diesen Dienst anträte.

Wie dem auch sei: Die Orientierung am Konsumenten, am Kundennutzen ist bei uns noch entwicklungsbedürftig, um es einmal ganz vorsichtig auszudrücken. Jeder von uns kennt unangenehme Erlebnisse mit unwilligem Verkaufspersonal, bei dem sich Kunden zuweilen nicht als Könige, sondern als Störenfriede fühlen.

Kundenorientierung gilt aber nicht nur für die Mitarbeiter selbst. Es betrifft auch die Führungskräfte und die von ihnen zu verantwortenden Motivations- und Anreizstrukturen. Sie sollte überall zur "Chefsache" werden.

Zu unserer beklagenswerten, aber überwindbaren Mentalitätslücke gehört auch die einseitige Konzentration von Politik, Forschung, Bildung und Verbänden auf die industrielle Güterproduktion. Die Zukunft verlangt aber eine Orientierung an Produktion, Dienstleistungen und Information als Ganzem. Um ein Beispiel zu nennen: Der Markt wird zunehmend nicht bloß Autos nachfragen, sondern Mobilität für die verschiedenen Einsatzbereiche. Verkehrs-, Güter- und Stoffströme werden ökologisch günstiger durch körperlose Informationsdienstleistungen ersetzt. Wer hier nicht kunden- und dienstleistungsorientiert sein Angebot verbreitert, wird schnell ins Hintertreffen geraten. Auch international wird es nicht mehr genügen, nur Automobile anzubieten. Gefragt sind - vor allem auch in den Entwicklungsländern - integrierte Verkehrsdienstleistungskonzepte.

Sechstens: Nur so werden wir auch unsere beachtliche Exportlücke im Dienstleistungsbereich schließen können. Unser Land ist erfreulicherweise immer noch Vizeweltmeister beim weltweiten Warenexport. Beim Export von Dienstleistungen begnügen wir uns jedoch mit einem sehr viel bescheideneren Platz weiter hinten. Wir haben eine "Dienstleistungsverspätung" und müssen uns bemühen, wieder aufzuholen.

Ich bin aber zuversichtlich: Auch in Deutschland können Sektoren wie Medien- und Informationsdienste, Versicherungen, Finanzdienstleistungen, Umwelt- und Gesundheitsdienstleistungen, vielleicht sogar einmal - wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg - unser Universitäts- und Bildungswesen zu Exportschlagern heranwachsen. Jedenfalls wäre das ein schöner Traum.

Auch beim Tourismus besteht noch ein ganz erhebliches Potential. Gerade die neuen Bundesländer sollten hier mit ihren Pfunden wuchern, die Schönheit ihrer Landschaften erhalten und pflegen und einen besonderen Akzent auf die Tourismusdienstleistungen setzen, die auch viele Gäste aus dem Ausland anlocken können. Hier die noch nicht ausgeschöpften Wettbewerbsvorteile zu nutzen, kann unter Umständen sinnvoller sein, als auf bereits vollbesetzen industriellen Märkten dabei sein zu wollen. Im übrigen sollten wir ruhig noch mehr als bisher die neuen Länder in unsere Urlaubsplanung einbeziehen. Es ist sehr schön dort. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Siebtens: Schließlich brauchen wir einen neuen Infrastrukturbegriff, um unsere Infrastrukturlücke im Dienstleistungsbereich zu schließen. Wir haben uns daran gewöhnt, unter Infrastruktur vor allem die harten, klassischen Faktoren wie Straßen, Kanäle, Eisenbahnen, Energienetze etc. zu verstehen. Für die Dienstleistungsgesellschaft brauchen wir aber möglicherweise eine moderne, flexible, innovative Infrastruktur. Sie wird weniger auf Hardware als auf Software setzen: auf Information, Kommunikation, Wissen und Wissenstransfer. Nicht mehr Autobahnen für ohnehin nicht zu absorbierende Verkehrsströme, sondern ein funktionierendes, weltweit eingebundenes Netz von Datenautobahnen entscheiden über die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland im Dienstleistungsbereich. Hier haben wir im internationalen Vergleich gute Voraussetzungen. Sehen wir mit Optimismus auf diese Technologien!

Achtens und letztens: Wir wissen alle: Der Übergang zu einer Gesellschaft, in der der größere Teil der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor arbeitet, verläuft nicht ohne Reibungen und Probleme. Auch die Dienstleistungsgesellschaft wird die Erwartungen nach mehr Wohlstand, Vollbeschäftigung und besserer Qualität der Arbeit nicht automatisch erfüllen. Wie bei allen Umbruchprozessen gibt es hier nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Ich bin allerdings überzeugt: Wir werden sie meistern. Dieser Kongreß wird hierzu sicher einen Beitrag leisten. Ich wünsche ihm einen erfolgreichen Verlauf.