Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich eines Empfangs für die Teilnehmer der 47. Deutsch-Englischen Gespräche der Königswinter-Konferenz in Schloß Bellevue in Berlin

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 14. März 1997

Meine Damen und Herren,

in einer großen deutschen Tageszeitung las man kürzlich, für unsere britischen Nachbarn sei "Europa ein Kontinent, der von frechen Ausländern bewohnt wird, deren Englisch sich spaßig anhört, und deren Politiker alle im falschen Jahrhundert leben, im 20. nämlich". Eine etwas forsche Aussage für so ein gediegenes Blatt, sagte ich mir und kam zum Schluß, daß man die Entstehung des Bildes, das Völker voneinander haben, besser nicht den Tageszeitungen überlassen sollte.

Besser dafür geeignet sind Einrichtungen wie die "Königswinter"-Konferenzen. Sie sind seit fast einem halben Jahrhundert ein Markenzeichen für die Kontinuität und die Qualität des deutsch-britischen Gedankenaustausches. Sie sind ein Muster von so bahnbrechender Originalität, daß sie, wenn ich es richtig sehe, vielleicht Nachahmer gefunden haben, doch keinen, der sich in dieser unverwechselbaren Form mit ihnen messen könnte.

In diesem Jahr tritt die Königswinter-Konferenz erstmals in Berlin zusammen. Als ich vor knapp einem Jahr in London war, bin ich ja mit einigen von Ihnen schon zusammengetroffen und wir haben uns damals für heute verabredet. Seitdem habe ich mich auf "Königswinter in Berlin" gefreut. Als Beweis der Verbundenheit mit der deutschen Hauptstadt wissen wir Berliner, einschließlich der bayerischen Berliner, das sehr zu schätzen. Wieder einmal setzt "Königswinter" damit das richtige Zeichen zur richtigen Zeit. Für diese Initiative bin ich Ihnen, Herr Ruhfus, von Herzen dankbar.

Auch Ihnen, Sir Oliver, gilt mein besonderer Dank. Sie sind heute zum letzten Mal in amtlicher Eigenschaft dabei. In den langen Jahren Ihres Engagements für "Königswinter" haben Sie mit Leidenschaft und Sachverstand ganz wesentlich dazu beigetragen, den Charakter dieses Konferenzmodells als Instrument der Begegnung so unverwechselbar zu machen.

Zwei Tage intensiver Diskussion liegen bereits hinter Ihnen. Freundschaftliche, offene Streitgespräche sind ja typisch für Königswinter. Ich habe mir sagen lassen, daß das auch dieses Mal der Fall ist.

Gerade hier in Berlin können wir uns gemeinsam auf die Grundlagen der deutsch-britischen Beziehungen in den letzten 50 Jahren besinnen. Wir Deutschen erinnern uns daran, daß britische Soldaten - Seite an Seite mit ihren amerikanischen und französischen Kameraden - die Freiheit der Berliner verteidigt haben. Hier hat sich bewiesen: "A friend in need is a friend indeed." - Das werden wir niemals vergessen! - Der Dank der Deutschen dafür ist den Briten immer gewiß.

Die deutsch-britische Freundschaft ist in diesem halben Jahrhundert stetig gewachsen und beständig geblieben. Sie hat sich gerade in Krisenzeiten gefestigt. Sie ist widerstandsfähig geworden gegen das Auf und Ab in der politischen Konjunktur, den Klamauk der Presse. Entscheidend ist und bleibt dabei, daß Briten und Deutsche auf einen Grundstock gemeinsamer Werte, Überzeugungen und Interessen aufbauen.

Aber keine Regel ohne Ausnahme. Zum Thema Europa gibt es neben offenkundigen Gemeinsamkeiten auch manchen Gegensatz. Allerdings habe ich auch den Eindruck, daß diese Gegensätze in der Debatte zuweilen überzeichnet, daß sie zu "clashes of national identities", um nicht zu sagen "civilisations", hochstilisiert werden.

Natürlich beschäftigen uns in Europa die Differenzen nationaler Traditionen und Denkschulen. Deutscher Idealismus und britischer Pragmatismus, französischer Merkantilismus und britischer Freihandel, das deutsche Modell der unabhängigen und im Gegensatz dazu das britische Modell der demokratisch kontrollierten Zentralbank. Das sind nur einige der Gegensatzpaare, die von nationalen Eliten als kollektive Identitäten wahrgenommen werden und deswegen ernstzunehmen sind.

Aber - keine Nation hat die eine oder andere Denkschule für sich gepachtet. Auch die Gurus der innereuropäischen Identitätskampfszenarien werden das einräumen müssen. Es gibt britische Idealisten und deutsche Pragmatiker (mich eingeschlossen). Es gibt britische Bewunderer der Bundesbank und deutsche Bewunderer der Bank of England. Sind wir nicht alle stolz auf Europas offene Gesellschaften? Kollektivieren wir sie doch nicht künstlich, gerade dort, wo die Kollektivierung am gefährlichsten ist, nämlich im Denken.

Davor hat uns schon Sir Karl Popper, der große britische - wenn auch in Wien geborene - Philosoph der offenen Gesellschaft, gewarnt. Führen wir also einen grenzüberschreitenden europäischen Dialog, bei dem alle Denkschulen überall Gehör finden. Es könnte ja tatsächlich zu dem unerhörten Resultat der Einsicht in die Fehlbarkeit sogar von Denkschulen kommen. Und diese Einsicht könnte ja tatsächlich zum Katalysator neuer Erkenntnis werden, die hilft, Europas Probleme zu lösen.

Deswegen fand ich es nötig und nützlich, daß der britische Außenminister Rifkind kürzlich durch Deutschland reiste, mit Nachdruck seinen Standpunkt vortrug und das, was er als deutschen Standpunkt verstand, kritisierte. Vielleicht wundern Sie sich, wenn ich ihn zitiere und ihm - jedenfalls insoweit - zustimme. Das Zitat lautet wie folgt: "Was wir brauchen, sind Nationen ohne Nationalismus, Staaten ohne Dirigismus und ein Europa ohne Zentralismus." Meine Zustimmung dazu ist 100 %. Und ich bedauere nur, daß nicht dieses Zitat des britischen Außenministers, sondern seine Religionszugehörigkeit in den Mittelpunkt des Interesses geriet.

Wir werden die Europadebatte nur dann zu einem fruchtbaren Ergebnis führen, wenn wir einer Einsicht zum Durchbruch verhelfen: Das "Europa der Vaterländer" ist möglich. Die Synthese zwischen dem Denken de Gaulles und dem Denken Jean Monnets ist möglich. Die europäischen Nationen können Vaterländer sein und sich dennoch einigen. Der Vertrag von Maastricht resümiert das mit einem Wort "Subsidiarität". Das heißt: Die Lösung der Probleme unserer Zeit sollte auf der Entscheidungsebene erfolgen, die den Betroffenen am nächsten ist, und auf der die effektivsten (d.h. wirksamsten) Mittel am effizientesten (d.h. zu den geringsten Kosten) eingesetzt werden können. Auch in diesem Verständnis der Subsidiarität stimmen Deutsche und Briten, wenn ich es richtig sehe, überein.

Die wichtigste Meinungsverschiedenheit zwischen uns betrifft die Demokratie. Britische Äußerungen über Europa scheinen oft als selbstverständlich vorauszusetzen, daß Demokratie nur auf der nationalen Ebene möglich ist. Deutsche Föderalisten - wie - ich glauben dagegen, daß sie auf allen Ebenen möglich ist, der lokalen, der regionalen, der nationalen und der europäischen. Aber auch das ist ein Thema, über das man ruhig und undogmatisch, d.h. mit britischem Pragmatismus reden sollte.

Mehr möchte ich - erst recht in heißen Wahlkampfwochen - zum deutsch-britischen Lieblingsreizthema heute nicht sagen.

Ihr gut organisiertes Programm läßt Ihnen morgen auch ein wenig Freizeit. Ich möchte mir daher eine Empfehlung erlauben. Besuchen Sie im Deutschen Historischen Museum die großartige Ausstellung "Victoria & Albert, Vicky & The Kaiser - Ein Kapitel deutsch-englischer Familienbeziehungen". Ich empfehle Ihnen den Besuch nicht nur, weil ich die Schirmherrschaft über diese Ausstellung mit Ihrer Majestät Königin Elisabeth II teile. Ich empfehle ihn auch deshalb, weil dort in spannender und anschaulicher Weise eine überaus bewegte Epoche gezeigt wird, die Politik und Privates widerspiegelt. Wir erleben eine fesselnde deutsch-britische "Familiengeschichte" mit, die aber leider auch zeigt, daß es zwischen engen Verwandten zum Streit mit tragischen Konsequenzen kommen kann. Ich bin jedoch überzeugt, daß wir aus der Geschichte lernen können und auch gelernt haben. Einer der Beweise ist heute die feste Freundschaft zwischen Briten und Deutschen.

Ich danke Ihnen, daß Sie nach Berlin gekommen sind. Ich wünsche Ihrer Begegnung weiterhin einen guten Verlauf.