"Chancen und Perspektiven des europäischen Zusammenwachsens 50 Jahre nach dem Marshallplan"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 27. Juni 1997

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Heute ist es das dritte Mal, daß ich in diesem Jahr über die Bedeutung des Marshallplanes spreche, und zwar zweimal auf einer Veranstaltung der Citicorp/Citibank und zweimal auf einer Veranstaltung des German-Marshall-Fund of the United States... Bitte rechnen Sie jetzt alle scharf nach, der Jurist Herzog bietet Ihnen kreative Mathematik. Die Herren Ruding und Kennedy sind am Schluß der Veranstaltung sicherlich bereit, Ihnen die Auflösung dieser Rechenaufgabe mitzuteilen.

Aller guten Dinge sind jedenfalls drei, so sagt es ein deutsches Sprichwort, und ich bin deswegen froh über diese dritte Gelegenheit, für die Ideen des politischen Visionärs und zugleich Pragmatikers George Marshall als Vorbild des Umgangs mit den Herausforderungen der Zukunft zu werben.

George Marshall hat mit beispiellosem politischen Mut zum Unbekannten das Neue angepackt und uns - im Wortsinn - eigensinnige Europäer nach einem selbstzerstörerischen Krieg zur Partnerschaft überlistet.

Damals ging es um den Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg, heute um den Aufbruch nach dem Kalten Krieg. Damals haben sich die westeuropäischen Nationen über jahrhundertelange Erzfeindschaften hinweg in einem Geflecht internationaler Organisationen zusammengeschlossen. Sie haben nicht nur wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch politische Freiheit, Demokratie und Frieden aufbauen können. Heute geht es für die Osteuropäer um das gleiche.

Das Erfolgsgeheimnis des Marshallplans bestand aus zwei Bestandteilen:

1. Niemanden ausschließen;

2. die Aufbaukräfte der Betroffenen selbst mobilisieren.

Ich will auch hier mit dem ersten Teil des Geheimnisses beginnen: Niemanden ausschließen. Das ist in diesen Tagen für alle Länder Mittel- und Osteuropas, die den Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union wünschen, besonders aktuell. Ich werde mich hüten, in die Diskussion der Experten über "Startlinien", "Gruppenszenarien" oder "Prozeßlösungen" einzugreifen. Aber ich will doch dafür werben, daß wir im Getöse der Diskussion eines nicht vergessen: Sowohl die Europäischen Gemeinschaften als auch die NATO haben sich schon bei ihrer Gründung der Strategie George Marshalls, niemand auszuschließen, verschrieben. Dean Acheson definierte die NATO als "open covenant openly arrived at", und die Vision einer Erstreckung der Europäischen Gemeinschaften auf ganz Europa war schon in den Römischen Verträgen verankert.

Können die Westeuropäer, die das Glück hatten, fünfzig Jahre lang die Segnungen von Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu genießen, den Mittel- und Osteuropäern, die fünzig Jahre lang darauf warten mußten, jetzt die Teilhabe an der Erfolgsstrategie George Marshalls verweigern? Schon das Gefühl historischer Gerechtigkeit sollte uns davor bewahren, uns in der Diskussion über das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen euro-atlantischen Strukturen und über die konkurrierenden Erweiterungsverfahren dogmatisch zu verheddern. Halten wir das Ziel im Auge und nähern wir uns ihm dann allerdings mit dem gebotenen Pragmatismus. (Selbstverständlich muß das auch für die baltischen Staaten gelten und ebenso selbstverständlich auch für die südosteuropäischen.)

Natürlich kommt es auch auf die Bereitschaft der beitrittswilligen Länder an, die Bedingungen der Teilnahme zu erfüllen: Demokratische Regierungen, Menschenrechte, Schutz der Minderheiten, Öffnung der Märkte. Aber an Beweisen für diese Bereitschaft fehlt es ja nun wirklich nicht. Denken Sie an Ungarns vorbildlichen Umgang mit seinen Minderheiten, an Sloweniens Bereitschaft, sich auf den EU-Beitritt auch durch eine Verfassungsänderung vorzubereiten, an die besonders mutigen Reformanstrengungen der neuen Regierungen in Bulgarien und Rumänien. Wir können heute auch über die NATO-Erweitung viel pragmatischer sprechen als noch vor kurzem, nachdem für die Zusammenarbeit Russlands mit den euro-atlantischen Strukturen so bahnbrechende Fortschritte erzielt worden sind, wie sie noch zu Beginn des Jahres kaum denkbar erschienen. Je besser diese Zusammenarbeit funktioniert, je mehr Vertrauen sie schafft, desto leichter werden nach der ersten Erweiterungsrunde weitere folgen.

Aber auch das zweite Erfolgsgeheimnis Georg Marshalls, die Mobilisierung der Aufbaukräfte der Betroffenen selbst ist nach wie vor von hochaktueller Bedeutung für die Perspektiven Europas im 21. Jahrhundert, und das gilt auch nicht nur für die Transformationsprozesse in Osteuropa, sondern ebenso für die notwendigen Reformen in Westeuropa und schließlich für die gegenseitige Befruchtung west- und osteuropäischer Erfahrungen in diesem gemeinsamen Prozess. Hier geht es zugleich um politische, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Erfahrungen. Natürlich verlangt das Westeuropäern, den Mitteleuropäern und den Osteuropäern gleichermaßen viel ab. Chancen und Risiken liegen dicht beieinander. Langfristige Gewinne müssen erkennbar gemacht werden, um kurzfristige Kosten akzeptabel zu machen.

Das beginnt schon bei der wirtschaftlichen Integration. Gerade haben am 5. Juni Harvard-ökonomen in Cambridge heiß darüber gestritten, ob der Erfolg des Marshallplans dem damals geflossenen Geld oder der ideellen Konzeption des Wiederaufbauprogramms zu verdanken sei. Die Antwort lag dann doch in der Mitte - Gott sei Dank denken Harvard-ökonomen noch pragmatisch. Natürlich waren die Ideen die entscheidenden Weichenstellungen, aber das Geld half dabei, den Zug ins Rollen zu bringen.

Heute geht es gewiss nicht um eine Neuauflage des Marshallplans von damals für das heutige Mittel- und Osteuropa, aber es gibt doch ein umfassendes Instrumentarium zur Unterstützung der Transformationsprozesse. Denken Sie an die Nothilfe-Programme mit Spendenaktionen zur Überbrückung drohender Hungersnöte und Energiekrisen. Denken Sie an das PHARE-Hilfspaket, das für Beratung eingesetzt wurde. Denken Sie schließlich an die finanziellen Hilfen von IWF und Weltbank, zwei Institutionen, die ebenfalls zur Zeit Marshalls gegründet wurden, oder an die eigens für Osteuropa gegründete EBRD, die sich einer Fülle von Projekten in der Region verpflichtet hat. Es ist nun an den betroffenen Ländern, dieses Instrumentarium zu nutzen, ebenso wie vor fünfzig Jahren die westeuropäischen Länder selbst ein Programm entwickeln mußten, um aus den Marshallmitteln das Beste zu machen.

Eines ist wichtig: Eine Armutsgrenze in Europa können wir uns auf die Dauer nicht leisten; denn Armut in unseren Nachbarländern würde sofort zu Migrationswellen führen. Vielmehr gilt es, die wirtschaftlichen Probleme in jedem Land selbst zu lösen. Den Westeuropäern kann ich nur sagen: Wenn wir nicht helfen, die Probleme Osteuropas in Osteuropa zu lösen, kommen sie zu uns. Aber es gibt bereits gute Nachrichten. Einige Länder Osteuropas erzielen inzwischen die höchsten Wachstumsraten in Europa überhaupt, 1996 im Durchschnitt um 4%. Es besteht begründete Hoffnung, daß das beeindruckende Wachstum bald auch jenen zugute kommt, die sich heute noch als Verlierer der Reformen empfinden. Ich bin deswegen zuversichtlich, daß der Reformkonsens überall bestehen bleibt.

Ein wichtiger Teil des Strukturprogramms ist übrigens die Reform der Rechtssysteme. Kein geringerer als Karl Popper hat offenen Gesellschaften zum Ausschluß von staatlicher Willkür und privaten Mißbräuchen der Freiheit einen verläßlichen rechtlichen Rahmen empfohlen. Für die meisten Reformländer Osteuropas sind Rechtsreformen sogar Bedingung der erfolgreichen Transformation zur Marktwirtschaft. Man denke an das Zivilrecht, das Handelsrecht, ja, zur Förderung der Zahlungsmoral, sogar an das Zwangsvollstreckungsrecht und das Konkursrecht. Auch Ökonomen gestehen inzwischen ihren juristischen Kollegen die Bedeutung dieses Rechtsrahmens für die wirtschaftliche Entwicklung zu. Der amerikanische ökonom Douglass North hat für diese Einsicht der institutionellen ökonomie 1993 sogar den Nobelpreis erhalten. Als Jurist war ich besonders froh über diesen Fortschritt der Wirtschaftswissenschaft.

Welchen Beitrag können die EU-Länder zur Integration leisten? Der wichtigste ist die Öffnung der Märkte im Westen. Das ist es doch gerade, was wir mit dem Konzept des Binnenmarktes meinen! Wettbewerb und Außenwirtschaftsliberalisierung bringen mehr Wachstum und Wohlstand als Abschottung und Protektionismus. Sie führen am Ende zu einer neuen internationalen Arbeitsteilung zwischen Osten und Westen, von der vor allem die Verbraucher durch bessere und preiswertere Angebote profitieren werden.

Die Öffnung der Märkte ist bei hoher Arbeitslosigkeit auf den westeuropäischen Märkten eine schwere Bürde. Wir müssen deshalb entschlossen, energisch und nach vorn gewandt für bessere Rahmenbedingungen sorgen: Mehr Flexibilität im Arbeitsrecht, Senkung der Lohnnebenkosten, der dazugehörende Sozialumbau und die Differenzierung der Lohnstrukturen. Die Transformationsprozesse im Osten, die wir unermüdlich ermutigen und anmahnen und auch als engagierte Advokaten begleiten, können durch Reformen im eigenen Haus am besten unterstützt werden. Transformation dort braucht auch Reformen hier. Das ist ein Aspekt der vielbeschworenen Vertiefung der EU, der oft nicht klar genug gesehen wird.

Die Reformen sollten aber weitergehen, auch damit wir auf die Frage "wer zahlt?" eine praktikable Antwort geben können. Wir müssen uns etwas einfallen lassen zur Agrarpolitik, zur Strukturpolitk, zur Subsidiarität und nicht zuletzt zu den Entscheidungsverfahren. Ich habe schon früher gesagt, daß aus der Doppelstrategie Erweiterung und Vertiefung eine Dreifachstrategie Erweiterung, Vertiefung und Verschlankung werden muß; Verschlankung auch der EU, in der es mir zuviel Bürokratie gibt, auch zu viele bürokratische Vorschriften. Ich zögere nicht, das hier noch einmal mit Nachdruck zu wiederholen.

Aber, wie schon gesagt, das Zusammenwachsen Europas und der atlantischen Gemeinschaft ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Geistes. überhaupt nicht bezifferbar ist die kulturelle Bereicherung, die Westeuropa und Nordamerika durch die Öffnung Osteuropas nach Westen erfahren haben. Muß ich daran erinnern, daß der Kommunitarismus, der heute die gesellschaftspolitische Debatte in Amerika bewegt, seine stärksten Impulse von Solidarnocz und den anderen mittel- und osteuropäischen Bürgerbewegungen der achtziger Jahre erhielt? Haben nicht Vaclav Havel und Gyöyrgi Konrad in Deutschland den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten? Finden wir nicht in Osteuropa Inspirationen wieder, die uns in der Saturiertheit des westlichen Wohlstandes schon abhanden gekommen waren?

Was ich nicht müde werde, über das vereinigte Deutschland zu sagen, gilt auch für das erweiterte Europa und die erweiterte atlantische Gemeinschaft: Unsere politische Kultur ruht fortan auf zwei Säulen: Der lange erprobten Verfassungserfahrung der westlichen Demokratien und der noch frischen Revolutionserfahrung der östlichen Bürgerbewegungen.

Auf diese Weise politisch, wirtschaftlich, institutionell und kulturell gestärkt, kann Europa damit beginnen, die Aufgaben des 21. Jahrhunderts anzugehen. Das macht es auch interessant als Partner für die USA, die mit ihren wirtschaftlichen Erfolgen und wissenschaftlichen Durchbrüchen zur Zeit in eine etwas einsame Dynamik geraten zu sein scheinen. Wenn es uns aber gelingt, als gestärktes Europa in eine neue Partnerschaft mit den USA hineinzuwachsen, so können wir erheblich zum transatlantischen Potential beitragen.

Wir würden damit den USA nach dem Ende des Kalten Krieges etwas zurückgeben, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg von ihnen empfangen haben. Ein starkes, friedliches, handlungsfähiges Europa liegt auch im Interesse der USA. Ich freue mich, daß Präsident Clinton das in jüngster Zeit immer wieder unterstrichen hat. "Einheit macht stark" ist ein Motto, das sich nicht nur für Europa, sondern auch für die transatlantische Gemeinschaft im 21. Jahrhundert eignet.

Ich wünsche Ihnen bei Ihrer Konferenz viel Erfolg.