Einführungsstatement zum Thema "Interkultureller Dialog" von Bundespräsident Roman Herzog vor dem Bonner Gesprächskreis des DIHT in Bonn

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 7. Juli 1997

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen,
sehr geehrte Herren,

langjährige Erfahrungen im politischen Geschäft zeigen, daß es eine gute Methode ist, Reden bzw. Zuhören und Essen miteinander zu kombinieren. Der Bonner Gesprächskreis ist damit seit dreißig Jahren erfolgreich. Dazu gratuliere ich sehr. Die Idee von Heinz Commer war es damals, Menschen aus verschiedensten beruflichen Sparten und auch Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen zusammenzubringen und zu informieren - ein Gedanke, der damals in seiner Brisanz für das, was wir heute "interkulturellen Dialog" nennen, noch gar nicht ermessen werden konnte. Das hat vier Gründe:

1. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes setzte sich mit großer Dynamik die Globalisierung durch. Globalisierung heißt dabei mehr, als Autos aus Japan, Software aus den USA und Sportbekleidung aus China kaufen zu können. Die Globalisierung ist durch die Technik möglich geworden und wird durch die Wirtschaft vorangetrieben. Und wie bei allen Umbrüchen dieser Art müssen wir uns fragen, was das für das Zusammenleben, das Denken und das Bewußtsein der Menschen bedeutet.

2. Die Mobilität der Menschen nimmt zu. Zum einen ist das wiederum durch die Technik bedingt; zum anderen treiben Armut, Krieg oder Verfolgung Menschen aus ihren Ländern in der Hoffnung auf bessere Lebensperspektiven. Das heißt, daß gerade in den westlichen Ländern zunehmend Minderheiten aus anderen Kulturen leben. Welche Wirkung hat es zum Beispiel, wenn in Kalifornien fünfzig Prozent der Schulkinder nicht mehr englisch sprechen?

3. Auch Satelliten und Internet machen Staatsgrenzen zu papierdünnen Trennwänden - besonders, da diese Technologien immer preiswerter und somit immer mehr Menschen zugänglich werden. Welche Wirkung hat es etwa, wenn inzwischen fast überall in der Welt zugeschaut werden kann, wie Menschenrechte gewaltsam unterdrückt werden? Oder wenn politisch Verfolgte Informationen über das Internet in die Welt schicken können?

4. Kulturen und Philosophien, die bis vor kurzem noch unterdrückt waren oder sich doch international kaum artikulierten, erwachen zu neuem Selbstbewußtsein, verschiedene Sichten der Welt und des Menschen beginnen auch in der internationalen Politik aufeinander zu treffen; ich nenne die Beispiele Buddhismus, Hinduismus, Islam und Konfuzianismus.

Je selbständiger die Völker der ehemals sogenannten "Dritten" Welt werden, desto mehr erkennen sie ihren eigenen Wert und suchen nach eigener Identität. Viele von ihnen wollen sich von den Verwundungen und Kränkungen langer kolonialer Bevormundung befreien.

Auf den ersten Blick scheint da manchen die Abgrenzung gegen den Westen als geeignetes Mittel. Aber für alle Länder - mit extremen Ausnahmen - gilt: In einer Zeit von Globalisierung, unbegrenzter Mobilität und zunehmender Vernetzung wird Abschottung auf die Dauer nicht mehr möglich sein. Abschottung und Expansion sind Wege der Vergangenheit, und dahin würde es führen, wenn man sie wieder beginge.

Darum brauchen wir den Dialog zwischen den Kulturen. Wir brauchen ihn, wenn wir das friedliche Miteinander wollen und eben keinen "Kampf der Kulturen". Mit friedlichem Miteinander meine ich das Mehrfamilienhaus in Deutschland, wo Familien unterschiedlicher Kultur und Religion wohnen, ebenso wie die friedliche Begegnung von Staaten mit unterschiedlichen kulturellen Fundamenten. Wir können gar nicht anders, als uns mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen.

Wir entdecken dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Ich plädiere aber dafür, einen Dialog zu führen, der hilft, die Gemeinsamkeiten, die vorhanden, aber vielleicht verschüttet sind, ans Tageslicht zu fördern und zu stärken. Unterschiede gibt es ebenso; es wäre unrealistisch, das wegreden zu wollen. Es ist aber schwer, kulturelle Unterschiede zu verstehen, wenn man die historische, geistige und soziale Entwicklung eines Landes nicht kennt.

Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen. In der Frage, welche Rechte ein Individuum in der Gesellschaft hat, wie diese Rechte verbürgt sind und wie sie durchzusetzen sind, unterscheiden sich die europäische und die chinesische Antwort deutlich. Das habe ich mehrfach dem chinesischen Präsidenten Jiang Zemin gesagt. Mir reicht es jedoch nicht, daß so ein Dissens festgestellt und öffentlich beklagt wird. Erreicht wird damit nichts. Und es reicht auch nicht, nach Wirtschaftssanktionen zu rufen, wenn man in China sowieso das Gefühl hat, Deutschland sei auf die Wirtschaftsbeziehungen stärker angewiesen als China. Mir ist es vielmehr wichtig, daß über diese Fragen geredet wird - immer wieder und mit Geduld -, daß die heute oft noch latenten Gemeinsamkeiten bei Werten und Interessen klarer erkennbar werden als das, was uns trennt.

Ich frage mich, ob nicht eine Chance für einen Dialog der Kulturen in dem liegt, was ich "gleiche Interessenbasis" nennen möchte.

In unserer globalisierten Welt wirken wirtschaftliche Interessen auf einmal in eine völlig neue Richtung. Viele gehen immer noch vom nationalen Rahmen der Volkswirtschaft aus. Das führt zu Verwerfungen in der politischen Debatte. Dagegen gehen die Unternehmen genau in die umgekehrte Richtung: Ein System weltweiter, gegenseitiger Abhängigkeiten funktioniert nur so lange effektiv, wie es - salopp gesagt - " nicht brennt". Ähnliches trifft auf die Politik zu: Neue transnationale Sicherheitsrisiken und globale Umweltrisiken machen die internationale Staatengemeinschaft zu einer Interessengemeinschaft, ob sie es will oder nicht.

Ich habe ohnehin den Eindruck, daß die Gefahr nicht primär in der Unterschiedlichkeit der Kulturen selbst liegt und daß ein Dialog zwischen den aufgeklärten Mehrheiten - ob Christen, Muslime, Buddhisten oder Hindus - gelingen kann. Die Gegner eines solchen Dialoges sind die Fundamentalisten, die es in allen Kulturen gibt.

Es ist das Unbekannte, das leider sehr schnell zu irrationalen Reaktionen wie Vorurteilen, Ablehnung, Angst oder eben Abschottung führt. Schlimmer noch: Es sind diese einstudierten Reaktionen, die zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden können - übrigens auf allen Seiten. Die einfachen Antworten fundamentalistischer Verführer und ihr einfaches, in Gut und Böse geordnetes Weltbild haben in einer hochkomplexen Welt ein leichtes Spiel.

Ein Dialog der Kulturen bedarf deswegen zunächst der Bereitschaft, etwas über die anderen Kulturen erfahren. Dialog der Kulturen heißt für mich: Neugierig auf das Andere sein, über Gemeinsames und Unterschiedliches reden, sich dem Austausch von Ideen und Modellen stellen. Ich habe es einmal so formuliert: Ohne gegenseitiges Wissen gibt es kein gegenseitiges Verständnis, ohne Verständnis gibt es keinen gegenseitigen Respekt und kein Vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es keinen Frieden, sondern wirklich nur die Gefahr des Zusammenpralls. Das heißt, wir müssen bereit und imstande sein, uns in fremde Begrifflichkeiten und fremde Erfahrungs- und Überzeugungswelten hineinzudenken, ohne dabei aber den eigenen Standpunkt zu verlieren. Toleranz heißt nämlich nicht Standpunktlosigkeit. Man kann aber auf Dauer nicht miteinander leben, wenn man nichts voneinander weiß und nicht miteinander redet.

Unweigerlich wird jeder Gesprächspartner in solch einem Dialog lernen. Was ein Dialog allerdings ganz und gar nicht vertragen kann, sind Hochmut, missionarischer Eifer und Belehrung. Das Überlegenheitsgefühl ist die kulturpolitische Schwester des europäischen Kolonialismus. Das müssen wir dringend ablegen, und zwar nicht nur aus Gründen der Toleranz und Gerechtigkeit, sondern auch in unserem eigenen Interesse.

In meinem ersten Amtsjahr habe ich das selbst eindrucksvoll erleben können: Bei meiner Reise nach Pakistan habe ich an der Universität Islamabad im Rahmen allgemeiner weltpolitischer Erörterungen auch davon gesprochen, daß es für uns Europäer hoch an der Zeit sei, uns ein realistisches - und das heißt zunächst einmal vorurteilsfreies - Bild des Islam und seiner kulturellen Traditionen zu machen. Das hat mir die Herzen und Ohren meiner Gesprächspartner geöffnet.

Das sind erste Schritte. Aber vielleicht müssen wir uns in diesem Zusammenhang mit zwei grundlegenden Fragen stärker beschäftigen, auf die ich auch keine abschließende Antwort habe: Erstens: Was veranlaßt Menschen dazu, andere dazu bringen zu wollen, daß sie so denken, wie sie selbst? Woher kommt dieser Missionierungseifer? Und zweitens: Was sind die psychologischen Mechanismen, die zur Gewalt führen?

Darauf gibt es keine schnellen Antworten. Auch der interkulturelle Dialog ist kein Wundermittel. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn er eine wichtige Erkenntnis stärken würde, nämlich: Die Kosten des Gegeneinanders sind hoch, und die Interessen an einem Miteinander groß. Wir dürfen nicht müde werden, über Kulturgrenzen hinweg gemeinsame Interessen zu finden, auf denen wir weiter aufbauen können und die es erlauben, die Wirkungskette der Gewalt zu durchbrechen.