Grußansprache von Bundespräsident Roman Herzog zur Eröffnung der Asien-Pazifik-Wochen

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 15. September 1997

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Herr Regierender Bürgermeister, meine Damen und Herren, I. ich habe es schon einmal gesagt: In Berlin wird Zukunft gestaltet. Nirgendwo sonst in unserem Land entsteht so viel Neues. Hier spürt man: Wir können etwas gestalten, etwas verändern. Einen neuen Aufbruch schaffen, wie ihn nicht nur Berlin, sondern unser ganzes Land braucht. Deshalb begrüße ich es sehr, daß der Berliner Senat einen Monat lang Asien-Pazifik-Wochen veranstaltet. Das ist eine Initiative, die einer Bundeshauptstadt würdig ist. Berlin übernimmt hier ein Stück Führung in Deutschland. Ernst Reuter hat einst gesagt: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt. Heute könnte man sagen, daß diese Stadt auf die Völker der Welt sehen muß; denn die Welt ist in Bewegung geraten. Insoweit steht Berlin nur als Metapher für Deutschland. Die Stadt hat damit eine große Chance: Sie kann für Deutschland, vielleicht sogar für ganz Europa zu einem wichtigen Scharnier des europäisch-asiatischen Austausches und Dialogs werden. II. Über die wirtschaftliche, politische, demographische und geostrategische Bedeutung des asiatisch-pazifischen Raums muß ich hier nicht viele Worte verlieren. Das Thema wird heute und in den bevorstehenden Wochen sicher noch in allen denkbaren Varianten vertieft werden. Doch uns allen ist schon heute klar: In Asien spielt viel Musik - und es ist keine Zukunftsmusik mehr. Die Pazifikwelle rollt. Nebenbei: Nicht nur der asiatisch-pazifische Raum ist im Aufbruch. Rußland, Lateinamerika, ja auch einige Länder und Regionen Afrikas sind in Bewegung geraten. Das heißt: Entweder wir in Deutschland beginnen uns auch zu bewegen, oder wir werden überholt. Vor unseren Augen schließt sich ein Kreis, den schon der britische Historiker Arnold Toynbee beschrieben hat: Im Laufe der Jahrtausende sei der Schwerpunkt der menschlichen Geschichte immer weiter von Osten nach Westen gewandert. Anfänglich lag er in den Steppen Innerasiens. Später rückte er ins Zweistromland von Euphrat und Tigris vor. Über Athen und Rom verschob er sich ins nordwestliche Europa. Vor ca. 200 Jahren übersprang er den Atlantik. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert sind wir Zeugen, wie sich der Schwerpunkt möglicherweise noch weiter nach Westen verschiebt: Von den USA in den asiatisch-pazifischen Raum, zurück an den Ausgangspunkt. Die Folgen dieser Entwicklung spüren wir alle: Von Asien geht heute ein globaler Wettbewerb der Produkte, der Verfahren, der Arbeitskosten, der Institutionen, der Standorte, und - vielleicht am wichtigsten - eine neue Betrachtung der Werte und Kulturen aus. Das ist in meinen Augen die größte Herausforderung: Dort werden Zukunftsvisionen entworfen und umgesetzt, während wir uns noch immer allzu oft in Klein/Klein verlieren. III. Innovation, Dynamik, Veränderung zu lernen, heißt heute also auch: von Asien und dem Pazifischen Raum zu lernen. Wie selbstverständlich haben wir lange angenommen, der Rest der Welt müsse dem westlichen oder gar dem westeuropäischen Modell folgen. Lösungen für unsere Probleme können heute aber keineswegs mehr nur in Europa gefunden werden. Sie müssen auch nicht mehr nur in Europa gefunden werden. Denn Globalisierung bedeutet nicht nur Herausforderung, sondern auch Chance: Die Chance, voneinander zu lernen, zu einer lernenden Weltgesellschaft zusammenzuwachsen, positive Synergien zu entwickeln und weltweite Arbeitsteilung zu praktizieren. Nicht nur der Markt der Wirtschaft ist heute weltweit offen, sondern auch die Märkte der Information, des Wissens und der Ideen. Deshalb können wir überall nach den innovativsten und zugleich tauglichsten Ideen und Konzepten suchen. Für die Wirtschaft verlangt das z.B. einen Strategiewechsel, der den Hauptakzent nicht mehr auf den einfachen Export setzt, sondern vor Ort, das heißt auch im asiatisch-pazifischen Raum, forschen und fertigen läßt: Nicht um Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen, sondern um sie zu sichern. Hier ist bei den Unternehmern und in der Politik schon vieles Positive auf den Weg gebracht worden, das ich hier nicht im einzelnen aufzählen will. Immerhin haben die Investitionen der deutschen Wirtschaft in der Region 1996 einen Anteil von fast 12% an der gesamten deutschen Auslandsinvestition erreicht. Möglicherweise muß hier aber noch quantitativ, vor allem aber auch qualitativ zugelegt werden. Warum gehen nicht mehr Mittelständler, immerhin das Rückgrat unserer Wirtschaft, nach Asien und Ozeanien? Wenn das für den einzelnen zu schwierig ist, sollten mittelständische Unternehmen mehr kooperieren und sich auf ein gemeinsames strategisches Vorgehen auf internationaler Ebene verständigen. Warum lassen deutsche Automobilhersteller neue High-tech-Produkte nur in Nordamerika und nicht auch im asiatisch-pazifischen Raum fertigen? Wer dort mit abgespeckten Einfachversionen oder hierzulande längst ausgelaufenen Modellen operiert, wird rasch den kürzeren ziehen. Ich habe mich kürzlich bei meiner Chinareise davon überzeugen können. In der Bildungspolitik fehlt bisher die strategische Reaktion auf die asiatische Herausforderung weitestgehend. Die Zahl asiatischer Studenten an deutschen Universitäten geht zurück. Das ist ein Alarmzeichen. Japanische Musikstudenten in Deutschland reichen allein als Botschafter für den Standort Deutschland nicht aus. Wir brauchen deshalb mehr Vielfalt und Wettbewerb im Bildungssektor und eine Internationalisierung der Studiengänge und Abschlüsse an unseren Hochschulen. Sie müssen weltweit wieder attraktiver werden und auch den deutschen Studenten mehr als bisher interkulturelle Kompetenz vermitteln. Unsere angelsächsischen Partner sind uns hier entschieden voraus. Sie ziehen erfolgreich junge asiatische Studenten und Wissenschaftler an. Und sie nehmen sie gleichzeitig lebenslang für sich ein. Natürlich gibt es auch bei uns positive Beispiele: die erfolgreiche Arbeit der Alexander von Humboldt-Stiftung; das Stipendienprogramm der deutschen Wirtschaft für junge Russen, das ich kürzlich während meines Staatsbesuches in Rußland übergeben konnte; die künftige Möglichkeit, auch an deutschen Hochschulen international anerkannte akademische Grade wie den Master oder den Bachelor zu erlangen. Das alles muß aber noch viel mehr werden. Auch die Arbeitsmarktpolitik, vor allem die Tarifparteien, muß die asiatische Herausforderung annehmen. Es geht keineswegs darum, deutsche Löhne und Arbeitsbedingungen auf das Niveau asiatisch-pazifischer Niedriglohnländer abzusenken. Aber ohne Flexibilität, ohne mehr Leistungsanreize, mehr Spielräume für Betriebe, Arbeitnehmer und Arbeitslose und eine wirklich produktivitätsgerechte Entlohnung werden wir kaum neue, rentable Arbeitsplätze bekommen. Nicht zuletzt in der Politik müssen wir die asiatische Lektion lernen. Das bedeutet nicht, bewährte demokratische Strukturelemente außer Kraft zu setzen. Wer meint, den Erfolg der dynamischen asiatisch-pazifischen Länder auf einen Mangel an demokratischen Institutionen und auf die Unterdrückung der Arbeitnehmer und ihrer Vertretungen zurückführen zu können, der macht es sich zu einfach. Er übersieht nämlich, daß Länder wie Japan und Indien nach dem letzten Weltkrieg ebenso wie Deutschland zu gefestigten Demokratien geworden sind und daß Länder in Asien in den vergangenen Jahrzehnten in ähnlicher Weise wie Länder in Ost-Europa einen Prozeß der Demokratisierung erfahren haben. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich propagiere asiatische Staaten nicht als Politikmodell für Europa. Aber glaubt irgend jemand, das westliche politische Modell stelle schon den Idealzustand dar und könne nicht auch noch weiterentwickelt werden? Übers Ziel hinaus schießt aber auch, wer demjenigen die demokratische Gesinnung abspricht, der angesichts der asiatisch-pazifischen Herausforderungen die Frage nach der Funktionsfähigkeit und Entscheidungsfreude unserer staatlichen Institutionen stellt. Wenn in Deutschland notwendige Reformen nicht oder nicht mit der notwendigen Geschwindigkeit zustandekommen, muß doch ein Blick über den Zaun in die Länder erlaubt sein, die Wandel und Veränderung besser und schneller als wir geschafft haben. Dieser Blick über den Zaun ist auch aus einem weiteren Grund nötig: Deutschland, vor kurzem noch für viele unserer Partner weltweit ein Modell des Ausgleichs zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Dynamik, wird in ausländischen Medien immer öfter als der neue "kranke Mann" bezeichnet. Wir wissen alle, daß hier vieles medial heillos übertrieben wird. Unterhalb der Ebene des politischen Feldgeschreis tut sich nämlich eine Menge in Deutschland: Die starren Flächentarife sind mit Zustimmung von Gewerkschaften und Betriebsräten in Bewegung geraten. Die meisten Unternehmen haben sich erfolgreich neu organisiert und gehen auch beim Umgang mit ihren Mitarbeitern, beim Angebot kreativer, beschäftigungsfördernder Arbeitszeitmodelle neue Wege. Es wächst die Zahl der neuen Selbständigen. Das reicht gewiß alles noch nicht aus. Es hilft aber wenig, nur noch Klagelieder zu singen und die vermeintliche strukturelle Reformunfähigkeit Deutschlands generell und global zu beweinen. Das Land braucht mehr fröhliche Lust auf Zukunft statt Jammern über die Gegenwart. Es muß Schluß sein mit der deutschen Weinerlichkeit. Denn wenn sich im Ausland der Eindruck nachhaltiger Entscheidungs- und Reformunfähigkeit der Institutionen in Deutschland verfestigt, wird auch unser internationaler Einfluß dauerhaft beeinträchtigt. Wenn das größte und wirtschaftlich potenteste Mitglied der Europäischen Union gelähmt erscheint, dann gibt es keinen Fortschritt in Europa. Deutschland steht deshalb nicht nur gegenüber seinen eigenen Bürgern, sondern auch gegenüber seinen Partnern in Europa, Asien und der ganzen Welt in der Pflicht zur zügigen Reform. Ich wiederhole im Ausland immer wieder: Wir schaffen es. Unsere Partner werden sich noch wundern!. Wir müssen es uns aber auch selber zutrauen IV. So wichtig das Lernen von Asien geworden ist: Im Zeitalter der Globalisierung und des internationalen Dialogs gibt es auch für den Austausch von Ideen, Meinungen, Werten und Konzepten in die umgekehrte Richtung, von Deutschland und Europa nach Asien, neue Perspektiven. Denn auch in Asien wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Es gibt dort keineswegs nur bruchlosen Fortschritt, kein unbehindertes Aufwärts aller wirtschaftlichen und politischen Parameter. Das zeigen gerade jetzt die Währungsprobleme mancher südostasiatischer Länder. Die jungen Tiger zeigen auch gewisse Konditionsschwächen. Ich teile zwar nicht die Einschätzung, daß es sich beim asiatischen Wirtschaftswunder um kaum mehr als eine forcierte Industrialisierung nach Art stalinistischer Vorbilder ohne größere Langfristperspektiven handelt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wachsen jedoch auch die jungen asiatischen Industrieländer in Probleme hinein, die die "alten" bereits hinter sich haben oder mit denen sie wenigstens mit einiger Aussicht auf Erfolg kämpfen. Länder, die eher am Anfang des Modernisierungsprozesses stehen, wie die Volksrepublik China, haben vor allem die sozialen Probleme der Privatisierung ihres umfangreichen Staatssektors und des Fehlens funktionierender Sozialversicherungsträger noch vor sich. Auch sie werden den Druck der Bürger nach breiter Teilhabe am neu erwirtschafteten Wohlstand noch deutlich zu spüren bekommen. Weiter fortgeschrittene, wie z.B. Korea, sind auf einmal selber dem Lohnkostendruck noch jüngerer, zum Teil noch dynamischerer Wettbewerber ausgesetzt. Auch sie müssen mit Produktionsverlagerungen ins Ausland reagieren. Länder, die schon längst den europäisch-nordamerikanischen Entwicklungsstand erreicht haben wie Japan kämpfen mit uns ganz vertraut klingenden Problemen wie mangelndem wirtschaftlichen Wachstum oder Überalterung der Bevölkerung. Nach einer beeindruckenden Steigflugphase flacht eben auch in Asien die Entwicklungskurve irgendwann einmal ab und es beginnt die Suche nach neuen Formen, insbesondere des wissensgestützten Wachstums. Die heimische Nachfrage steigt. Die Exportorientierung verliert ihren Vorrang. Neben der Erzeugung wird auf einmal auch die Verteilung wichtig. Wirtschaftliche Partizipation weckt gleichzeitig den Wunsch nach politischer Teilhabe. Umgekehrt ist weitergehender wirtschaftlicher Fortschritt über ein mittleres Niveau hinaus nicht ohne politischen Fortschritt, freien Ideen-, Technologie- und Personenaustausch möglich. Unternehmer- und Konsumentensouveränität erzwingen letztlich auch politische Souveränität des einzelnen. Ich kann nicht einschätzen, ob die Berechnungen von Ökonomen zutreffen, wonach die Demokratie unaufhaltsam wird, sobald das pro-Kopf-Einkommen in einem Land 5.000 $ überschreitet. Jedenfalls bin ich zuversichtlich, daß sich auch in den Ländern Asiens, die noch nicht zu den stabilen Demokratien gehören, im Lauf der Zeit durch Handel und Wandel demokratische Strukturen stabilisieren und auch die grundlegenden Menschenrechte mit den sich aus den kulturellen Wurzeln ergebenden Differenzierungen gesichert werden. Ich will mit diesen Hinweisen keinesfalls Entwarnung geben, etwa in dem Sinne, daß der Druck zu Anpassung und Innovation aus Asien und Ozeanien automatisch nachlassen wird. Es wachsen immer wieder neue, noch jüngere, noch dynamischere Wettbewerber nach. Zunehmende gemeinsame Probleme im weltwirtschaftlichen Entwicklungsprozeß schaffen aber eine neue Grundlage für den europäisch-asiatischen Dialog: Z.B. zu Fragen der Sozialen Marktwirtschaft, unserem besten Exportartikel. Oder wie der Transformationsprozeß von der Staats- zur Marktwirtschaft zu meistern ist. Auch das europäische Modell der wirtschaftlichen und politischen Integration und Sicherheitspartnerschaft kann meines Erachtens Anregungen für eine umfassendere regionale Zusammenarbeit in Asien geben. Mit der wechselseitigen wirtschaftlichen Verflechtung wachsen auch in Asien Notwendigkeit und Potential für eine stärkere politische Zusammenarbeit. Europas Vergangenheit soll und darf nicht Asiens Zukunft werden. Konfrontation ist nur die eine Möglichkeit, die wir in Europa nach leidvollen Erfahrungen überwunden glauben, Konvergenz ist die andere. Gewiß wird manches Trennende bleiben. Zugleich kann durch intensiveren wirtschaftlichen wie geistigen Austausch aber auch mehr Verbindendes entstehen. Kultureller Pluralismus und der universale Zivilisation schließen sich ja keineswegs aus. Zu all diesen Fragen haben wir Europäer einiges anzubieten. Hierzu tragen auch die Berliner Asien-Pazifik-Wochen bei. Durch diesen Dialog kann sogar der Frieden sicherer werden: In Asien wie in Europa. Die Berliner Asien-Pazifik-Wochen sind hiermit eröffnet. Vielen Dank!