Rede von Bundespräsident Roman Herzog auf dem Berliner Bildungsforum im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 5. November 1997

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor einem halben Jahr habe ich unweit von hier einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik gefordert. Bildung, so sagte ich damals, muß in unserem Land zum "Megathema" werden, wenn wir uns in der Wissensgesellschaft des nächsten Jahrhunderts behaupten wollen.

Ich weiß, daß die Debatte über die Reform unseres Bildungswesens in vollem Gang ist. Aber es sind nur die Experten, die über den Wert des Abiturs, über die Erneuerung des dualen Ausbildungssystems, über verkürzte Regelstudienzeiten und neue Studienabschlüsse streiten. Viel zu selten erreicht die Diskussion die Titelseiten unserer Zeitungen und Zeitschriften. Deshalb mündet die Debatte nicht in wirkliche Veränderungen.

Ich wage mich heute als Bundespräsident auf vermintes Gelände. Aber wir dürfen diese Diskussion nicht nur in den Ländern führen. Sie ist auch nicht nur den Spezialisten und Lobbyisten vorbehalten. Eltern, Lehrer, Schüler und Studenten müssen sich beteiligen - mit einem Wort: wir alle. Denn schließlich handelt es sich um eine der ganz großen Zukunftsfragen unseres Landes. Wir brauchen eine breite, nationale Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems!

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Wissen ist heute die wichtigste Ressource in unserem rohstoffarmen Land. Wissen können wir aber nur durch Bildung erschließen. Wer sich den höchsten Lebensstandard, das beste Sozialsystem und den aufwendigsten Umweltschutz leisten will, der muß auch das beste Bildungssystem haben.

Außerdem ist Bildung ein unverzichtbares Mittel des sozialen Ausgleichs. Bildung ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt und noch immer die beste Prophylaxe gegen Arbeitslosigkeit. Sie hält die Mechanismen des sozialen Auf- und Abstiegs offen und hält damit unsere offenen Gesellschaften in Bewegung. Und sie ist zugleich das Lebenselixier der Demokratie in einer Welt, die immer komplexer wird, in der kulturelle Identitäten zu verschwimmen drohen und das Überschreiten der Grenzen zu anderen Kulturen zur Selbstverständlichkeit wird.

Man sagt das so leicht, Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Aber wie steht es dann um diese Zukunft, wenn die besten Köpfe dieser Welt auf der Suche nach den besten Ausbildungsmöglichkeiten nicht mehr nach Deutschland kommen? Noch ist es so, daß Eliten in Asien oder Südamerika häufig deutsch sprechen, weil sie in Deutschland studiert haben. Das schafft Bindungen für das ganze Leben. Aber die Söhne und Töchter dieser Eliten zahlen inzwischen lieber hohe Studiengebühren in den USA, als daß sie an unseren Universitäten studieren möchten. Es ist nicht nur der Verlust an Internationalität, der uns schadet. Darin steckt vor allem die unverblümte Nachricht: Ihr seid nicht mehr gut und rasch genug. Diese Nachricht müßte uns so treffen wie einst der Sputnikschock die USA! Als Signal dafür, jetzt alle Kräfte zusammenzunehmen und einen neuen Aufbruch zu wagen.

Mit halbem Herzen ist diese Reform nicht zu schaffen. Auch nicht mit dem Hin- und Herschieben von Verantwortung und mit billiger Gruppenschelte.

Es stimmt nicht, daß unsere Jugendlichen Aussteiger mit Null-Bock-Mentalität sind! Es ist falsch, Lehrer pauschal als faul zu beschimpfen, obwohl sie tatsächlich mehr Unterrichtsstunden mit größeren Klassenstärken als vor wenigen Jahren bewältigen. Und vielen Professoren werden gewaltige Überlastquoten an Studenten als Dauerzustand aufgedrückt, obwohl von ihnen gleichzeitig Wunderdinge in der Forschung erwartet werden.

Es ist auch nicht richtig, alle Defizite auf das fehlende Geld zu schieben! Natürlich ist gute Bildung nicht im Billigangebot zu haben; trotzdem sind unsere Defizite nicht allein mit dem Scheckbuch zu lösen! Und erst recht ist Kosten-Nutzen-Denken nicht bildungsfeindlich.

Es geht darum, Tabus zu knacken, Irrwege abzubrechen und falsche Mythen zu beseitigen:

1. Menschen sind Individuen. Sie haben unterschiedliche Begabungen. Wer das leugnet, vergißt einerseits die herausragenden Talente, die unser Bildungssystem oft genug behindert, und andererseits die weniger Begabten, denen unser Bildungswesen jeglichen Abschluß verweigert.

2. Bildung beginnt nicht erst mit dem Abitur! Praktische und theoretische Begabungen sind gleichwertig! Das muß sich auch in den Bildungsangeboten, den Abschlüssen und Berufschancen, der gesellschaftlichen Achtung niederschlagen.

3. Es gibt keine Bildung ohne Anstrengung. Wer die Noten aus den Schulen verbannt, schafft Kuschelecken, aber keine Bildungseinrichtungen, die auf das nächste Jahrtausend vorbereiten.

4. Es ist ein Irrglaube, ein Bildungssystem komme ohne Vermittlung von Werten aus! Viele Lehrer leisten diese Wertevermittlung durch ihr Beispiel und durch Diskurse in ihren jeweiligen Fächern. Aber es ist auch auf wertevermittelnde Fächer zu achten. Deshalb gehört z. B. der Religionsunterricht in die Schule und darf nicht in die Pfarrsäle verdrängt werden.

5. Falsch ist auch die Vorstellung, die Schule sei Reparaturbetrieb für alle Defizite der Gesellschaft. Hier sind schon auch die Eltern gefordert! Die Schule kann die Eltern bei der Erziehung nur unterstützen, ersetzen kann sie sie nicht.

6. Es ist falsch zu glauben, daß alle Bildungsinhalte durch bürokratische Vorgaben festgelegt und möglichst einheitlich geregelt sein müßten.

7. Es ist ebenso falsch anzunehmen, das beste Bildungsangebot könne nur vom Staat kommen. Gerade in einem guten öffentlichen Bildungssystem brauchen private Initiativen Ermutigung.

Keiner von uns weiß, wie die Welt von morgen aussehen wird. Wir können nur ahnen, was durch die modernen Kommunikationsmedien und Informationstechnologien entstehen wird. Wir haben noch kaum eine Vorstellung von dem künftigen multikulturellen Kosmos, in dem man in einer vernetzten Welt auf globalen Märkten jederzeit Wissen und Dienstleistungen abrufen kann. Wir wissen nur eines schon jetzt: Vor uns liegt eine offene Welt, mit großer Komplexität und neuer Freiheit, damit aber auch mit größerer Verantwortung für den einzelnen. Es geht für unsere Kinder und Enkel darum, daß sie sich in dieser komplexeren Welt zurecht finden können und daß sie nicht in einer Woge ungeordneter Fakten und Ereignisse untergehen.

Mit kosmetischen Korrekturen ist es da nicht getan. Es geht nicht um kleine Retuschen an Studienordnungen, es geht auch um mehr als eine Rechtschreibreform. Wir müssen an die Inhalte unseres Bildungswesens herangehen! Ich rufe auf zu einem öffentlichen Diskurs über die Inhalte, die das 21. Jahrhundert bestimmen werden.

Dazu brauchen wir - zumindest im Kern - einen neuen Grundkonsens über unsere Bildungsziele, an dem sich alle Bildungsinstitutionen orientieren können. Damit meine ich beileibe nicht neue verordnete Einheitlichkeit, sondern neue Leitgedanken, die Freiräume für Kreativität und Farbigkeit bieten. Ich weiß, wie schwierig das ist. Dennoch möchte ich Ihnen - in aller Subjektivität - die Eckpunkte eines solchen Bildungsmodells skizzieren.

Ich glaube an die Zukunft eines Bildungssystems, das sich durch sechs Eigenschaften auszeichnet:

das erstens wertorientiert und zweitens praxisbezogen ist, das drittens international und viertens vielgestaltig ist, das fünftens Wettbewerb zuläßt und sechstens mit der Ressource Zeit vernünftig umgeht.

Zum ersten: Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert ist.

Ich weiß sehr wohl, daß jede Art von Wertekatalog seit Jahren unter den Ideologieverdacht fällt, zumindest wenn er sich nicht auf Allgemeinplätze zurückzieht. Aber Bildung darf sich nicht auf die Vermittlung von Wissen und funktionalen Fähigkeiten beschränken! Zur Persönlichkeitsbildung gehört neben Kritikfähigkeit, Sensibilität und Kreativität eben auch das Vermitteln von Werten und sozialen Kompetenzen. Dabei denke ich durchaus auch an die Vermittlung von Tugenden, die gar nicht so altmodisch sind, wie sie vielleicht klingen: Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber der Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung. Wir sollten uns auch die Zusammenhänge bestimmter Werte stärker bewußt machen: Toleranz kann es nur geben, wo es auch einen eigenen Standpunkt gibt. Eine Auseinandersetzung mit fremden Denk- und Wertesystemen setzt das Wissen über die eigene Herkunft und die eigenen prägenden Traditionen voraus. Andere Kulturkreise nehmen das kreative Potential unserer auf die Freiheit setzenden abendländischen Gesellschaft viel bewußter wahr als wir selbst. Hier liegen unsere Stärken, die wir nicht geringschätzen sollten. Wir müssen unseren Kindern aber auch vermitteln, daß Freiheit ohne Ziele Orientierungslosigkeit ist und daß Individualismus ohne Solidarität kein Gemeinwesen begründen kann. Wir brauchen also den Mut, erzieherische Werte wieder offensiver in den Unterricht einzubauen. Zugleich müssen sich unsere Bildungsinstitutionen wieder darauf besinnen, daß man Leistung nicht fördern kann, ohne sie auch zu fordern. Das setzt freilich das Bewußtsein aller voraus, daß es im Leben ohne Anstrengung nicht geht. Wenn wir uns als Bildungsziel darauf verständigen können, junge Menschen auf ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung vorzubereiten, reicht dafür kein "Laissez-faire", sondern wir müssen schon auch deutlich machen, daß Freiheit anstrengend ist, weil eben jeder die Ergebnisse seiner Freiheit zunächst selbst verantworten muß. Kurz: Wir brauchen eine neue Kultur der Selbständigkeit und Verantwortung! Und beides kann nicht durch abstrakte Theorie vermittelt werden, sondern nur durch das täglich gelebte Beispiel von Eltern, Lehrern und Erziehern.

Ich wünsche mir - zweitens - ein Bildungssystem, das praxisbezogen ist.

Das heißt nicht, einem "Bildungsmaterialismus" das Wort zu reden, bei dem es nur um vordergründig verwertbares Wissen für die Wirtschaft geht. Aber mich beeindruckt die Klage, daß bis zu fünfzehn Prozent der Lehrstellenbewerber nicht ausbildungsfähig seien, und das nicht zuletzt, weil ihnen die erforderlichen Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen fehlen. Und mich beunruhigt, daß ein beträchtlicher Teil unserer Hochschulabsolventen keinen der Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz findet.

Ich verstehe sehr wohl, daß bei der heutigen Spezialisierung von Wirtschaft und Verwaltung keine Ausbildung alles vermitteln kann, was ein junger Mensch auf seinem ersten Arbeitsplatz braucht, und daß daher betriebliche Einweisung unvermeidlich bleiben wird. Aber deshalb darf die Bildungsphase eines Menschen doch nicht vollständig von der Lebenswirklichkeit abgekoppelt sein. Manchmal verrät ja schon ein Blick in die Schulbücher, daß die Realität davon meilenweit entfernt ist. Schulbildung bereitet oft auf andere Fächer und Bildungswege, nicht unbedingt aber auf die Lebenspraxis vor.

Nicht jedes Schulfach muß ein akademisches Propädeutikum sein. Physik für Physiker und Linguistik für Linguisten gibt es an den Universitäten genug. In einer Welt, die sich immer mehr in kleine Fachwelten aufsplittert, in denen Eingeweihte und Experten im jeweils eigenen Jargon kommunizieren, sollten wir nicht noch einer allzu frühen Spezialisierung Vorschub leisten. Die Palette unserer Pflichtschulfächer muß also breit bleiben, oder besser: wieder breiter werden. Das heißt aber nicht, daß auf alle Schüler noch mehr stofflicher Inhalt zukommen wird. Im Gegenteil: Es geht darum, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren und allen ein breites Grundwissen zu vermitteln, ob sie nun später Rechtsanwalt, Arzt, Techniker oder Polizeibeamter werden wollen.

Zur Vorbereitung auf die Lebens- und Berufswelt gehört aber selbstverständlich auch das Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge und eine Vertrautheit mit den neuen Medien. Die Beherrschung der Grundfähigkeiten im Umgang mit dem Computer wird in Zukunft genau so selbstverständlich sein wie heute Lesen und Schreiben. Wie wir unsere jungen Leute auf das Informationszeitalter vorbereiten, darüber lohnt sich trefflich zu streiten - nicht aber über die Frage, ob man Schifffahrt mit drei "f" schreibt.

In der Lebens- und Berufspraxis spielt sich das Wesentliche immer öfter in den Zwischenräumen ab: Neue akademische und berufliche Entwicklungsgebiete entstehen zwischen den Grenzen des klassischen Fächerkanons. Das verlangt ein neues projektorientiertes und interdisziplinäres Lernen, in dem - beispielsweise - das Fachwissen der Biologie mit dem der Chemie und der Ethik, das der Mathematik mit dem der Elektronik und das der Soziologie mit dem der Wirtschaftskunde verknüpft wird. Nicht zuletzt deshalb warne ich auch davor, unsere Überlegungen zur Bildungsreform allein auf Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft zu konzentrieren. Wir werden auch diese Disziplinen Grenzüberschreitungen aus den Geisteswissenschaften und der Kunst aussetzen müssen, vor allem aus der Ethik und umgekehrt!

Dafür brauchen wir persönliche Flexibilität der Lehrer und Schüler, aber auch mehr Flexibilität im Schulalltag. Die Überalterung mancher Lehrerkollegien ist dafür ebenso gefährlich wie starre bürokratische Vorgaben.

Daß solch ein fächerübergreifendes Lernen auch eine veränderte Kommunikationskultur nach sich zieht, ist sicher. Eine Kommunikationskultur übrigens, die auf geübtem Lesen, Schreiben und Reden aufbaut. Nehmen wir uns ein Beispiel an der in England gepflegten Debatten- und Dialog-Praxis, durch die ja nicht nur die Kunst der Rhetorik, sondern auch das Einfühlen in den Standpunkt des anderen vermittelt wird.

Sind unsere Lehr- und Ausbildungspläne hinreichend aktuell und zeitgemäß für die Praxis? Vor allem in unserem dualen Ausbildungssystem habe ich daran Zweifel. Es ist schlimm genug, daß wir offenbar zu wenig Ausbildungsplätze haben und leistungswillige junge Leute auf "Last-Minute-Initiativen" vertrösten müssen. Das eigentliche Problem aber ist, daß die Veränderungen in der Berufswelt heute hundertmal schneller verlaufen als die Anpassung und Formulierung zeitgemäßer "Berufsbilder". Viele der boomenden Dienstleistungsbranchen bei uns haben keinerlei definierten Ausbildungsweg! Viele Jugendliche müssen sich mit einem "Training on the Job" begnügen - und das in Zukunftsbranchen!

Wenn wir verhindern wollen, daß unser zu Recht gerühmtes duales Ausbildungssystem zum Auslaufmodell wird, wenn wir weiterhin Arbeitgebern und Jugendlichen eine festgeschriebene Ausbildungsqualität garantieren wollen, dann müssen wir unsere Ausbildungsordnungen also permanent modernisieren, und wenn der klassische Facharbeiter, wie manche sagen, langsam auszusterben droht und in Zukunft der multifunktionale Mitarbeiter mit Teamqualitäten gefragt ist, dann muß unser Berufsbildungssystem auch darauf reagieren: durch neue Ausbildungsverbünde, fächerübergreifende Rotationsmodelle, Stärkung von Schlüsselqualifikationen usw. Ich weiß, daß hierfür schon längst Vorschläge auf dem Tisch liegen und daß in den letzten Jahren schon über fünfzig Ausbildungsberufe gründlich überarbeitet worden sind. Auch die Berufsakademien setzen gute Beispiele und manche Unternehmen haben eigene, vorbildliche Betriebs-Berufsschulen eingerichtet. Aber die Mühlen unserer Ausbildungsbürokratie mahlen immer noch zu langsam, trotz der Fortschritte in der letzten Zeit.

Auch von den Hochschulen fordere ich mehr Praxisbezug. Wenn heute bis zu 40 % eines Jahrgangs studieren, ist es unrealistisch zu erwarten, jedem stünden die klassischen Akademikerlaufbahnen offen - zudem im gewünschten Fachgebiet. Wir können es uns nicht mehr leisten, jährlich Tausende von hochintelligenten Menschen am Arbeitsmarkt vorbei auszubilden. Viele Unternehmen leisten sich heute teure betriebsinterne Zusatzausbildungen, um junge Universitätsabsolventen auf die Arbeitswirklichkeit vorzubereiten. Ich habe schon gesagt, daß sich das bei der Hochspezialisierung vieler Unternehmen nicht ganz vermeiden lassen wird. Aber auch die Hochschulen haben hier zu tun, wozu sie imstande sind!

Für die Hochschulen heißt Praxisbezug, stärker als bisher auf den Verbleib der Absolventen zu schauen. Natürlich erwarte ich von jedem Hochschulabgänger genügend Selbständigkeit, den eigenen Weg in das Berufsleben zu gehen. Aber ich frage mich doch schon lange, wie eine Hochschule eigentlich die Qualität ihrer Ausbildung überprüfen will, solange nicht auch handfeste Daten über die beruflichen Werdegänge ihrer früheren Studenten ausgewertet werden. Jedes Wirtschaftsunternehmen weiß heute alles über den Verbleib seiner Produkte und über die Abnehmer seiner Dienstleistung. In Amerika gibt es an den Universitäten schon lange Career-Centers, in denen sich Absolventen und zukünftige Arbeitgeber begegnen können und mit denen eine direkte Verbindung zwischen Hochschule und Berufswelt geschaffen ist, die beide Seiten zwingt, ihre Ansprüche und Angebote immer wieder aufeinander abzustimmen. Bei uns ist so etwas leider immer noch eine große Seltenheit.

Ich wünsche mir - drittens - ein Bildungssystem, das international ist. Dafür reicht die Einführung neuer, international anerkannter Hochschulabschlüsse, so wichtig sie ist, nicht aus. Alle unsere Bildungsstätten sind gefordert, sich noch mehr als bisher der Welt zu öffnen, kosmopolitischer zu werden. Wir müssen schon früh die wichtigsten Sprachen der Welt lehren; warum beginnen wir nicht mit dem Englischunterricht in der Grundschule? Sprachen lernt man am effektivsten in ganz jungen Jahren. Warum bauen wir nicht den bilingualen Unterricht an unseren Schulen konsequent aus? Und ist es wirklich abwegig, ganze Schulklassen für ein halbes Jahr im Ausland unterrichten zu lassen und dafür Austauschschüler für sechs Monate auf deutsche Schulbänke zu holen?

Provinzielles Denken darf vor allem in unserer Hochschullandschaft keinen Platz haben. Ich weiß: Es gibt inzwischen schon eine Reihe von Hochschulen, in denen - beispielsweise - Vorlesungen auf Englisch zum Alltag gehören und die ein enges Netzwerk mit ausländischen Universitäten geknüpft haben. Aber ich sehe auch noch immer große Inseln des Provinzialismus: Warum bedarf es immer noch einer Sondergenehmigung, um eine Diplomarbeit in Englisch abzufassen, der Lingua franca vieler Wissenschaften? Warum werden den zum Wechsel bereiten deutschen Studenten bei einem Auslandsaufenthalt zusätzlich Steine in den Weg gelegt, weil die Prüfungsbürokratie ausländische Studienleistungen nicht anerkennt? Im Examen stellt sich sowieso heraus, ob der Prüfling etwas gelernt hat oder nicht! Warum sind die Worte "Service" und "Kundenorientierung" auf dem Campus noch immer Fremdwörter? Es gibt auch 1997 noch Bibliotheken, die ihre Pforten um 16.30 Uhr schließen! Warum lebt ein Teil des wissenschaftlichen Nachwuchses noch immer in altertümlichen Abhängigkeitsverhältnissen unter der Patronage von Ordinarien, anstatt, wie anderenorts, durch eigenverantwortliche Forschung die produktivsten Lebensjahre bestmöglich zu nutzen? Warum lassen wir als Folge schlechter Studienbetreuung und -beratung Begabungen verkümmern oder in andere Länder abwandern?

Wir müssen bei unseren Reformen bei Gott nicht das Rad neu erfinden. Oft genügt ein Blick auf das, was längst internationaler Standard ist. Ohne eine ganz klar internationale Blickrichtung werden wir jedenfalls schnell hinter diese Standards zurückfallen.

Ich wünsche mir - viertens - ein Bildungssystem, das vielgestaltig ist.

Wir besitzen ein vorbildlich gegliedertes Schulsystem. Diese Vielfalt müssen wir aber auch nutzen! Wir müssen ehrlich fragen: Welche Schule sichert welchem Kind die beste Förderung? Das ist nicht immer die Schule mit dem höchstmöglichen Abschluß. Deshalb darf die Hauptschule nicht immer mehr zur Restschule verkümmern. Sie muß für viele Berufe qualifizieren, indem sie praktische Neigungen weckt und fördert und frühzeitig auch Praxisbezüge herstellt. Wer die Welt mit der Hand begreift, hat nicht weniger Anspruch auf bildungspolitische Beachtung als der theoretisch Begabte.

Auch innerhalb der Schularten erscheint mir noch viel mehr Differenzierung möglich, ohne daß dabei die Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse mehr auf dem Spiel stünde als heute. Wir sollten wieder den Mut finden, gute Schüler gut und schlechte Schüler schlecht zu nennen. Das verpflichtet uns aber zugleich, uns beiden Gruppen besonders zu widmen und sie mit abgestimmten Förderprogrammen optimal zu betreuen.

Mit meiner Forderung nach mehr Differenzierung ziele ich aber in besonderer Weise auf die Hochschulen. Wenn wir nach den Erwartungen an ein Studium fragen, so werden wir ganz unterschiedliche Antworten erhalten, je nachdem ob wir Studenten, Wissenschaftler oder Unternehmer ansprechen. Aber vielleicht leitet uns diese simple Tatsache schon zu möglichen Lösungen. Der eine verspricht sich vom Studium eine kompakte Berufsvorbereitung, dem anderen geht es eher um Persönlichkeitsbildung. Der begabte Student möchte eine frühe Vertiefung des Stoffes im Studium, dem weniger ambitionierten geht es nur um ein Überblickswissen und um den schnellen Weg zur beruflichen Verantwortung. Mancher Wissenschaftler wird sagen, daß exzellente Forschungsleistungen noch mehr Spezialisierungen im Studium verlangen. Dem Unternehmer wiederum sind die Hochschulabsolventen schon heute oft zu alt und mit zuwenig verwertbarem Wissen für die Berufspraxis ausgestattet.

Keinem kann man darauf ernsthaft widersprechen, wahrscheinlich sind es gerade diese unterschiedlichen Erwartungen an das Bildungssystem, die einen Konsens bei den Reformen so schwierig machen. Aber die Antwort auf die differenzierten Erwartungen kann doch wiederum nur lauten: größtmögliche Differenzierung auch bei den Bildungsangeboten.

In Deutschland folgt die Hochschullandschaft einem Säulenmodell. Auf der einen Seite stehen die Universitäten, auf der anderen die Fachhochschulen. Längst haben sich die Fachhochschulen aus dem Schatten der Universitäten befreit - sowohl was die Studentenzahlen als auch was die Qualität der Ausbildung anbelangt. Durch viele zukunftsorientierte, praktisch und auch international ausgerichtete Ausbildungsgänge sind sie inzwischen auch für die besten Abiturienten attraktiv geworden. Dennoch werden die Fachhochschulabsolventen bei der Entlohnung ein Leben lang gegenüber Universitätsabsolventen benachteiligt, und es ist für sie auch nicht leicht, ihr Können durch akademische Weiterqualifizierung, also etwa durch eine Promotion, unter Beweis zu stellen. Da gibt es noch immer zu viele Berührungsängste zwischen Universitäten und Fachhochschulen. Hier müssen die Durchlässigkeiten erhöht werden.

Andererseits sind unsere universitären Studiengänge noch zu oft so strukturiert, als ob die Studierenden allesamt zu potentiellen Wissenschaftlern ausgebildet werden müßten. Muß jedes geisteswissenschaftliche Studium wirklich mit einem Magister abgeschlossen werden? Qualifiziert bei naturwissenschaftlichen Studiengängen wirklich erst der Doktortitel oder das Diplom für den Arbeitsmarkt? Muß tatsächlich jeder ausgebildete Jurist heute noch die Fähigkeit zum Richteramt nachweisen? Sollten wir nicht - gerade angesichts von Berufskarrieren, die immer weniger planbar werden - eine Vielzahl von Schnittstellen schaffen, an denen man zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben zwischen der Berufswelt und den verschiedenen Ausbildungsstätten pendeln kann?

Was wir in Zukunft ganz sicher brauchen, sind kürzere, miteinander verbundene Ausbildungsbereiche. Technisch gesprochen: Wir müssen unsere Ausbildungs- und Studiengänge in paßgerechte Module umwandeln, die aufeinander aufbauen und auch aufeinander aufgebaut werden können. Ich weiß, daß an vielen Stellen schon erfolgreich damit experimentiert wird, und ich möchte alle ermutigen, viele weitere solche Experimente zu wagen.

Es geht nicht etwa nur darum, Zwischenprüfungen in Bachelor-Grade und den Magister in den Master umzutaufen. Semantische Kosmetik bringt überhaupt nichts! Es muß tatsächlich gelingen, in dem neuen modularen System den Studienaufbau grundlegend neu zu strukturieren. Mit einem klaren Bekenntnis zu einem breiten Basiswissen und einer profunden Methodenkenntnis für alle im Grundstudium und einer noch tiefergehenden Spezialisierung für eine geringere Anzahl von Studenten in aufgefächerten Studiengängen und für die wenigen Studenten, die den Weg in die Wissenschaft gehen wollen.

Ein modularer Studienaufbau heißt für mich auch, daß dem Studenten nicht am Ende eines Studiums das gesamte Wissen in einer gigantischen Prüfungsorgie auf einmal abverlangt wird. Freischußregelungen und examensrelevante Prüfungen, die das Studium vom ersten Semester an begleiten, werden vielen die Examensangst nehmen, damit das Studium abkürzen und dem Studierenden viel früher die Gewißheit geben, ob er für ein Studium geeignet ist oder nicht. Mit 20 kann man noch wechseln; mit 30 ist es meist zu spät!

Bei einer solchen Umstrukturierung müssen wir uns auch allen Ernstes fragen, ob wir heute nicht zuviel Lehrstoff vermitteln. Ich höre schon den Aufschrei, den eine solche Frage hervorruft! Wie kann man in Zeiten, in denen das Wissen rasant zunimmt, ausgerechnet die Reduzierung des vermittelten Wissens anregen? Die Antwort darauf liegt ziemlich nahe: Erstens können wir trotz der Zunahme des Wissens unsere Ausbildungszeiten nicht beliebig verlängern, und zweitens führt die Explosion des Wissensstoffes nicht nur zu einer Vermehrung, sondern auch zu einem raschen Veralten von Wissen. Statt also alle Studierenden mit unendlichem Detailwissen auf den letzten Stand der Forschung zu bringen, müssen wir noch stärker ihre Fähigkeit schulen, Informationen auszuwählen und zu bündeln, sich Daten, Fakten und Probleme selbst zu erarbeiten. Wir müssen sie also das Lernen lehren - und nicht nur an den Hochschulen. "Lebensbegleitendes Lernen" ist schon seit einiger Zeit als Schlagwort in aller Munde. Geschehen ist in dieser Sache aber nur wenig. Wir müssen dafür endlich die Möglichkeiten schaffen!

Ich wünsche mir - fünftens - ein Bildungssystem, das Wettbewerb zuläßt.

Wenn wir mehr Spitzenleistungen wollen, müssen wir Unterschiede in den Leistungen sichtbarer machen. Das beginnt schon bei den Schulen: Geben wir ihnen wieder mehr Verantwortung zurück! Was spricht etwa dagegen, sie bei der Auswahl des Kollegiums zu beteiligen? Ich habe auch nie verstanden, warum Lehrer und Professoren unbedingt Beamte sein müssen, warum die Verwaltung in das Korsett einer kameralistischen Haushaltsführung gepreßt werden muß, warum ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum hat als der Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik.

Und warum haben wir uns bislang gescheut, unsere Schulen in einen Vergleich treten zu lassen, der den Wettbewerb fördert? In den USA ist Präsident Clinton gerade dabei, einen "national achievement test" für Schüler einzuführen, damit Eltern im ganzen Land wissen, welche Schulen gut und welche weniger gut sind. Wäre das nicht auch ein Modell für uns? Könnten dann nicht die guten Schulen das Vorbild und den Ansporn für andere geben, die eigenen Angebote zu verbessern?

Vor allem für die Hochschulen ist es höchste Zeit, sich vom Mythos vermeintlicher Gleichheit zu verabschieden. Meist handelt es sich dabei doch nur noch um Fiktionen, die mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Seien wir realistisch: Niemand wird in der Wirtschaft heute nur aufgrund eines Stückes Papier mit einer Note eingestellt. Überall weiß man, daß es zwischen den einzelnen Fachbereichen und Universitäten große Unterschiede gibt: Das betrifft die Forschungsleistungen ebenso wie die personelle und finanzielle Ausstattung, das Lehrangebot und nicht zuletzt die Notengebung. Viele Unternehmen haben heute schon aufwendige Assessment-Verfahren entwickelt, weil sie um die Unterschiede in der Ausbildung ihrer Bewerber wissen.

Nur der öffentliche Dienst leistet sich noch die Fiktion der Gleichwertigkeit aller Studienabschlüsse eines Faches. Aber der öffentliche Dienst ist nicht mehr der Maßstab, zumal die Zeiten hoher Einstellungsraten vorbei sind.

Wir müssen die Qualitätsunterschiede endlich wieder transparent machen und auch dafür sorgen, daß gute Leistungen belohnt und schlechte durch die Entziehung von Ressourcen sanktioniert werden. Ich weiß, daß der Gedanke eines "Ranking" bei vielen Angst und Unbehagen auslöst. Aber wir sind es erstens den Studenten schuldig, die bereits vor Beginn des Studiums wissen müssen, wo sie ihre Zeit und ihre Anstrengungen investieren sollen. Das sind die Hochschulen zweitens auch den öffentlichen Geldgebern schuldig. Und drittens kommt das Ranking so oder so: Wenn sich die Hochschulen ihm verweigern, kommt es eben von außen, zum Beispiel von den Medien - und dann nach eher zweifelhaften Kriterien!

Universitäten müssen sich durch Personal, Inhalte und Ideen schärfer als bisher profilieren können. Dazu gehört die Auswahl der Studenten und die Möglichkeit der Gewichtung von Abiturfächern. Akzeptieren wir endlich, daß auch hinter gleichen Abiturdurchschnittsnoten unterschiedliche Begabungen stecken, und daß nicht jedes Abiturfach eine gleichgewichtige Rolle für so unterschiedliche Fächer wie Deutsch, Medizin oder Jura spielen kann. Freilich: Die Auswahl von Studierenden darf auch nicht zum Selbstzweck werden. Vielmehr geht es um ein klares Signal an die Studenten: Wir wollen euch haben und übernehmen damit auch die große Verantwortung für die wertvollste Zeit eures Lebens. Wir kümmern uns um euch durch optimale Beratung und Betreuung von Anfang an.

Wenn wir sagen, daß die Hochschulen sich im Wettbewerb profilieren und ihre Effizienz steigern sollen, dann müssen wir sie aber endlich auch aus der bürokratischen Fremdsteuerung entlassen. Sie müssen die Freiheit erhalten, sich so zu organisieren, wie es die erfolgreichsten Vorbilder auf der ganzen Welt tun.

Bei dieser Gelegenheit sollten wir nicht zuletzt auch das förderalistische Einstimmigkeitsprinzip unserer Bildungspolitik zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen machen. Der Sinn des Föderalismus ist doch gerade, unterschiedliche Lösungen möglich zu machen. Was ist wichtiger - die "Einheitlichkeit der Bildungsverhältnisse" (was immer das sein mag) oder der Wettbewerb um den besten Weg aus der Sackgasse, in dem sich unser Bildungswesen befindet? Wäre es nicht besser, die bundesweiten Festlegungen so weit irgendmöglich zu beseitigen und stattdessen sowohl die Länder wie auch die einzelnen Bildungseinrichtungen experimentieren zu lassen? Reicht nicht eine Verständigung auf sorgfältig festzulegende Mindeststandards? Natürlich muß auch weiterhin ein Wechsel von Kiel nach Passau möglich sein. Aber vergessen wir nicht: In Zukunft wird auch ein Wechsel von Freiburg nach Straßburg oder von Bologna nach München auf der Tagesordnung stehen, und darauf sind wir wenig vorbereitet.

Keiner von uns weiß, welches Konzept zum Erfolg führen wird. Aber da wir es alle nicht wissen, lassen Sie uns doch nicht alles schon von vornherein bürokratisch festlegen. Die Stärke der Novelle des Hochschulrahmengesetzes liegt m. E. vor allem darin, daß es sich durch die Streichung von Vorschriften teilweise selber außer Kraft setzt. Ich warne davor, diese kreativen Lücken nun in den Länderparlamenten wieder mit Paragraphen zu füllen. Geben wir die Kompetenzen dorthin, wo die neuen Konzepte greifen sollen. Wagen wir möglichst viele Experimente, über deren Qualität dann die Praxis entscheiden muß. Und: Geben wir vor allem auch privaten Bildungseinrichtungen ihre Chancen.

Wenn sich eine Hochschule für obligatorische Auslandsjahre ihrer Studenten entscheidet und dieses Modell zu besseren Einstiegschancen im Berufsleben führt, werden die Studenten deswegen dorthin wandern. Wenn sich eine andere Hochschule in einem Fach zu einem "center of excellence" entwickelt, werden die besten Professoren und Studenten dort Schlange stehen. Wenn andere Universitäten mehr Praxisteile in die Studiengänge bauen, erfahrene Wirtschaftsfachleute als Dozenten berufen und das Fach "Unternehmensgründung" als Pflichtfach einführen, wird das die innovationsfreudigsten und kreativsten Teile unserer Jugend anziehen. Die Studenten werden mit ihren Füßen über die Qualität dieser Modelle abstimmen - und ihre Kriterien werden ihre eigenen sein, nicht die einer anonymen Verwaltung. Einige dieser Modelle gibt es übrigens schon. Hören wir endlich auf, Angst vor der Freiheit zu haben, die wir uns selber geben können.

Ich wünsche mir schließlich - sechstens - ein Bildungssystem, das mit der Ressource Zeit vernünftig umgeht.

Personal, staatliches Geld und Ausstattung werden in Zukunft gewiß bei allen Konzepten wichtige Kriterien sein. Die Ressource, um die es aber vor allem geht, ist die Zeit: Die Zeit der Hochschullehrer, die durch Überlastquoten und zuviel Bürokratie an dem gehindert werden, wofür sie zumindest auch da sind, nämlich an der Forschung und der Transmission ihrer Forschungsergebnisse. Und die Zeit der Studenten, die in ihren besten Jahren daran gehindert werden, Gelerntes so rasch anzuwenden, daß sie aus ersten Erfolgen fundiertes Selbstvertrauen gewinnen können. Von der Zeit, die Deutschland im Verhältnis zu seinen Konkurrenten in der Welt verschwendet, will ich noch nicht einmal reden.

Noch einmal: Die Ausbildungsdauer ist bei uns überall zu lang. Daher sind alle Seiten gefordert, mit der Zeitverschwendung Schluß zu machen. Schon im Vorschulalter liegen Begabungen brach, weil viele Kinder in den prägendsten Lebensjahren nicht hinreichend gefördert werden. Wir leisten uns dreizehn Schuljahre für die Vermittlung von Wissen, das andere Länder in zwölf Jahren unterrichten. Wir vergeuden Zeit in unnützen Warteschleifen, weil Schulabschluß und Studienbeginn vielfach nicht zeitlich koordiniert sind. Wir verschwenden Zeit mit überfüllten Lehrplänen an den Universitäten. Das Band, das uns alle verbindet, ist doch das Bewußtsein, daß unsere Lebenszeit eng begrenzt ist. Warum versuchen wir dann nicht entschlossen und gemeinsam, allen Beteiligten wieder Zeit zu verschaffen und diese auch optimal zu nutzen: Zeit ist das wichtigste, was der Mensch zum Reifen, Lernen, Forschen und "Umsetzen" der Forschungsergebnisse braucht. Sie ist die Ressource, die alles entscheidet - so wichtig mehr Geld und mehr Personal sein mögen.

Ich sage nicht, daß wir jetzt mit einem Schritt den großen Wurf landen müssen, der bis weit ins 21. Jahrhundert hinein Bestand hat. Wir brauchen - eher im Gegenteil - eine Fähigkeit zur ständigen Weiterentwicklung. Schon unsere Großeltern wußten: Wer rastet, der rostet. Das gilt erst recht dort, wo stündlich Neues entdeckt wird. Wir folgen bisher viel zu sehr dem Modell, zuerst viel Reformdruck aufzustauen, der sich dann im Erdbeben einer Großreform entlädt, um anschließend wieder innovationsunwillig jeder Neuerung zu trotzen. Künftig müssen wir die Fortentwicklung des Bildungssystems zur Daueraufgabe machen.

Unser Bildungssystem war einst ein Modell für die ganze Welt. Aber es muß weiterentwickelt werden. Das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten. Ziehen wir daraus die Konsequenzen. Machen wir es zu einem Modell für das 21. Jahrhundert!

Schaffen wir ein Bildungswesen, das Leistung fördert, keinen ausschließt, Freude am Lernen vermittelt und selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist. Setzen wir neue Kräfte frei, indem wir bürokratische Fesseln sprengen. Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit.