Grußwort von Bundespräsident Roman Herzog zu "Grundlagen und Formen einer gesamteuropäischen und internationalen Zusammenarbeit" beim Europa Forum Berlin 1997 der Herbert Quandt Stiftung

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 7. November 1997

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr von Kuenheim,
sehr geehrter Herr Bell,
Exzellenzen, meine Damen und Herren,

ich freue mich, heute einmal mehr die Teilnehmer des Europa Forum Berlin zu begrüßen. Die Themen Ihrer drei Sitzungen - Wachstum in reifen Industrienationen, Fragen einer gesamteuropäischen Friedensordnung und die künftige Entwicklung der internationalen Ordnung - sind hochaktuell.

Daß die reifen Industrienationen Kontinentaleuropas Wachstums- und Beschäftigungsprobleme haben, lesen wir jeden Tag in der Zeitung. Offenbar sind wir aber besser in der Beschwörung von Stabilität, insbesondere der Stabilität der Besitzstände, als in der Entfesselung wirtschaftlicher Dynamik. Ich möchte mich auch Ihnen gegenüber für einen Weg des Wachstums stark machen, für den ich immer wieder werbe, nämlich den des wissensgestützten Wachstums. Ein solcher Quantensprung ist uns in Deutschland zum letztenmal nach den Humboldtschen Reformen gelungen. Heute sehe ich keinen Weg, der an massiven Investitionen in Forschung und Bildung vorbeiführt. Nur sie ermöglichen ein Entkommen aus der Falle ökologischer und fiskalischer Wachstumsgrenzen herkömmlicher Art. Wissen ist unbegrenzt! Das aus der klassischen Nationalökonomie bekannte Gesetz der abnehmenden Erträge gilt nicht für Investitionen in die Köpfe.

Daß diese sogenannte "neue Wachstumstheorie" funktioniert, zeigt das Beispiel der erstaunlichen, von neuen Technologien getragenen Wachstumsschübe in der ja durchaus reifen Industrienation USA. An Sie möchte ich besonders appellieren: Nemen Sie dieses Beispiel dafür als Ansporn, uns aus der Depression zu befreien und uns der Gestaltung der Zukunft zuzuwenden. Wir stehen ja erst am Beginn der Nutzung der neuen Souveränität, die uns Globalisierung und Informationstechniken bieten. Technischen Fortschritt können wir aber nur dann nutzen, wenn der Fortschritt in den Köpfen ihm stets einen Schritt voraus ist. 2,3 Schritte würden auch nicht schaden.

Wie aktuell Ihr zweites Thema ist, die gesamteuropäische Friedensordnung, ist im Jahre 50 nach dem Marshall-Plan besonders augenfällig. Er hat den zerstörten Ländern Westeuropas 50 Jahre Wohlstand, Stabilität und nicht zuletzt Frieden beschert. Erinnern Sie sich an sein Erfolgsgeheimnis? Erstens: niemanden ausschließen; zweitens: die Aufbaukräfte der Betroffenen selbst mobilisieren. Gewiß geht es heute nicht um eine simple Neuauflage des Marshall-Plans. Es geht aber darum, die mittel- und osteuropäischen Länder an dieser Erfolgsstrategie teilhaben zu lassen und die Transformationsprozesse dort umfassend zu unterstützen.

Mit Madrid und Amsterdam sind wir diesem Ziel um große Schritte nähergekommen. Denken wir aber daran, daß das Zusammenwachsen Europas nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage des Geistes ist. Das Europa des Euro zu schaffen ist notwendig, reicht aber nicht aus. Die Frage ist: Wie kommen wir von einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer europäischen Bürgergesellschaft?

Ich appelliere an diesen Kreis, nicht nur auf das ökonomische Gelingen europäischer Integration zu setzen. Die Vertreter des Geisteslebens in allen Ländern Europas müssen sich noch stärker am Einigungsprozeß beteiligen. Wenn jetzt etwa die Universitäten überall in Europa wieder Begegnungsstätten des europäischen Geistes werden oder würden, stoßen oder stießen wir einen beispielhaften Prozeß an, der gute Chancen hat, dem neuen Europa die Richtung zu weisen. Mobilisieren wir also unsere geistigen, kulturellen und intellektuellen Energien, nutzen wir unsere miteinander verwobenen Traditionen und bauen wir einen Dialog unserer Kulturen auf! Dazu gehört auch, daß wir unsere Minderheiten pflegen, bei allen Schwierigkeiten, die wir damit haben, denn sie machen Europa reicher. Und es gehört auch dazu, daß wir unsere Teilkulturen verlassen, weil sie unserem Denken Schranken setzen.

Ihr drittes Thema ist zu Recht in Frageform gestellt, nämlich: "Wohin entwickelt sich die internationale Ordnung?" Die neuen Realitäten sind natürlich schon da, aber wir kennen sie noch nicht, und wir sollten uns das auch nicht einbilden. Natürlich gibt es die professionellen Gurus, die glauben, jede Zukunft beliebig voraussagen zu können. Wir hören in diesen Tagen beispielsweise die Warnrufe der Propheten des globalen Kulturkampfes als des großen Nachfolgekonflikts, nachdem der Kalte Krieg uns abhanden gekommen ist. Wie Sie wissen, werde ich nicht müde, ihnen entgegenzutreten. Das verstehe ich als meinen Beitrag zur Verhinderung einer self-fulfilling prophecy.

Natürlich gibt es neue Risiken. Aber sie sind sehr viel komplexer und vielfältiger, als die Reduktion auf den Kampf der Kulturen suggeriert. Ich denke vor allem an soziale, ökologische, kulturelle Ungleichgewichte, die nicht vor den Außengrenzen Europas halt machen, sondern mit ihrer transnationalen Durchschlagskraft jeden von uns treffen können. Wie lange können wir es uns unter diesen Umständen leisten, keine einhellige, gemeinsame Außenpolitik über die Grenzen Europas hinaus zu konzipieren? Wie lange können wir es uns - ein weiteres Beispiel - erlauben, keine europäische Nahostpolitik zu haben? Wie lange können wir ohne eine klare Konzeption für aktive wirtschaftliche Kooperation mit den transkaukasischen und zentralasiatischen Ländern auskommen? Ich denke dabei - auch, aber nicht nur - an Erdöl und Erdgas.

Außerdem müssen wir ganz neue Methoden und Instrumente der Außenpolitik entwickeln. Sie muß alle funktionalen Bereiche von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einbeziehen. Wenn wir gemeinsam der Risiken der Globalisierung bewältigen wollen und wenn wir ihre Chancen gemeinsam nutzen wollen, brauchen wir ein globales Management. Ansätze dazu beobachten wir in den gegenwärtigen Bemühungen, der Volatilität der Kapitalbewegungen in Asien entgegenzuwirken.

Die Notwendigkeit des globalen Kulturdialogs erwähnte ich schon. Einen solchen brauchen wir in gewisser Weise sogar noch innerhalb Europas. Wer kann leugnen, daß wir in Europa immer noch höchst verschiedene außenpolitische Kulturen haben, die eifersüchtig verteidigt werden? Im 21. Jahrhundert können wir uns solche kleinmütigen Dissenzen , so meine ich, nicht mehr erlauben. Wir können die Konkurrenz aber eine Ebene höher ansiedeln: in einem Wettbewerb der Ideen und in einem innereuropäischen Kulturdialog, der uns darauf vorbereitet, gemeinsam die von außen auf uns einstürmenden globalen Probleme anzupacken.

Ihre Konferenz betrachte ich als einen ganz wichtigen Motor dieses Dialogs. Deshalb habe ich mich gefreut. Ich wünsche dem Forum jeden Erfolg.