Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich des Festaktes zum 100jährigen Jubiläum des Deutschen Caritasverbandes

Schwerpunktthema: Rede

Köln, , 9. November 1997

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihr Leitwort zum 100jährigen Bestehen "Not sehen und handeln" faßt zusammen, was den Verbandsgründer Lorenz Werthmann bewegt hat und was bis zum heutigen Tag das Selbstverständnis des Deutschen Caritasverbandes ausmacht: Ohne Ansehen der religiösen, politischen und weltanschaulichen Überzeugungen und ohne Ansehen der ethnischen Herkunft und Zugehörigkeit für die Würde und die Rechte von Menschen einzutreten, die selbst keine Möglichkeit oder Kraft haben, für ihre eigenen Belange zu kämpfen.

Auf die vielfältigen Nöte der Menschen unter den konkreten Zeitumständen einzugehen, das prägt die gesamte 100jährige Geschichte des Deutschen Caritasverbandes. Ihrem Begründer, Lorenz Werthmann, lagen der Aufbau von Hilfen für ausländische Arbeitsmigranten, für Suchtkranke und Wohnungslose, für die von Verwahrlosung bedrohten jungen Menschen in den Großstädten, für die ins soziale Elend abgleitenden Arbeitslosen am Herzen. Während des Ersten Weltkrieges und in der Zeit danach galt seine große Sorge der unter kaum mehr vorstellbaren Kriegslasten leidenden Bevölkerung. Die Eindrücke dieser schweren Zeit halfen ihm im Jahr 1916, die deutschen Bischöfe dazu zu bewegen, daß sie den Deutschen Caritasverband als die Zusammenfassung der katholischen Caritas in Deutschland offiziell anerkannten. Seinem Nachfolger, Benedict Kreutz, war es schließlich aufgegeben, den Verband durch die finstere Zeit des Nationalsozialismus zu führen.

Die Zeit des Nationalsozialismus war für viele Menschen, die die Nächstenliebe auf ihre Fahne geschrieben hatten, eine Zeit der Ohnmacht. Zahlreiche Ordensleute und weltliche Mitarbeiter der Caritas haben dennoch unter Einsatz ihres eigenen Lebens versucht, behinderte Menschen vor dem sicheren Tod zu retten. Erinnert sei hier an Gertrud Luckner, damals Mitarbeiterin der Caritas-Zentrale in Freiburg. Sie ist als eine der großen Persönlichkeiten in die Geschichte unseres Landes und des Staates Israel eingegangen. Viele jüdische und deutsche Mitbürger verdanken ihr ihre Rettung. Wenn wir heute auf einen Prozeß der Versöhnung zwischen Christen und Juden zurückblicken können, dann ist ihr Name wesentlich damit verbunden.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Verband zum tragenden Element und nicht mehr wegzudenkenden Faktor in unserem Wohlfahrtswesen. Ein Verband, der die Interessen der katholischen Kirche auf diesem Feld zu vertreten hatte, eine Organisation mit festen Strukturen und - lassen Sie mich es so ausdrücken - ein Arbeitgeber mit den Ausmaßen eines Großkonzerns. Für die Verantwortlichen begann damit ein schwieriger Balanceakt. Galt es doch, sich in einem Bereich wohlfahrtlicher Konkurrenz immer wieder auf die eigentliche Aufgabe zu besinnen. Dank umsichtiger und kluger Führung ist das gelungen.

Nach der deutschen Wiedervereinigung ist auch das Zusammenwachsen der Caritas in Ost und West und der Ausbau ihrer Dienste in einer problemlosen Art und Weise geglückt. Allen, die daran beteiligt waren, gehören mein Dank und mein Respekt für diese Leistung.

Was der Deutsche Caritasverband Tag für Tag an praktischer und beratender Hilfe leistet, ist in Zahlen gar nicht auszudrücken. Aber es ist unverzichtbar für Menschen in schwierigen Lebenssituationen.

In ihren Diensten für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie auch in ihrem anwaltschaftlichen Eintreten für diese erfüllt die Caritas - gemeinsam mit den anderen Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege - eine Aufgabe, die weder durch die staatlichen Institutionen noch durch die Kräfte des Marktes erfüllt werden kann. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände tragen durch ihr Handeln zur Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft gerade auch bei den Betroffenen und bei den Teilen der Gesellschaft bei, die durch die Kirchen selbst nicht mehr erreicht werden können. Als ein Beispiel nenne ich hier die Schwangerschaftkonfliktberatungsstellen, die eine unverzichtbare Aufgabe erfüllen.

Die Kirche ist seit jeher weltweit. Der Blick über die nationalen Grenzen hinaus gehört daher zum Selbstverständnis kirchlicher Caritas. Vor 100 Jahren hat Lorenz Werthmann die vielfältigen caritativen Initiativen zu einer nationalen Bewegung zusammengeführt; heute geht es darum, daran mitzuwirken, daß das sich vereinigende Europa die Gestalt einer auf soziale Gerechtigkeit angelegten Gemeinschaft erhält.

Im Zusammenwirken mit Partnerverbänden auf der ganzen Welt heißt der Deutsche Caritasverband im Bereich seiner internationalen Hilfen nicht nur "Caritas internationalis", sondern er handelt auch international und übernimmt weltweit Mitverantwortung dafür, daß - über die Hilfen in aktuellen Notlagen, Kriegen und Bürgerkriegen hinaus - langfristig Strukturen entstehen, die den Menschen ein Leben in Würde, sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit sichern.

Diese internationale Verantwortung muß sich aber auch im eigenen Land auswirken. Die Caritas hat sich in der Vergangenheit immer entschieden dafür eingesetzt und wird dies - so hoffe ich - auch in Zukunft tun, daß Deutschland ein Land ist und bleibt, in dem Menschen vielfältiger kultureller und ethnischer Herkunft eine Heimat finden, in ihrer jeweiligen Eigenart respektiert werden und, sofern sie Schutz und Hilfesuchende sind, eine Behandlung erfahren, die ihrer Würde und ihrem Anspruch auf Wahrung der Menschenrechte entspricht.

Ich bin hierhergekommen, um Ihnen von ganzem Herzen und mit hoher Achtung dafür zu danken, daß es Sie gibt. Ich wünsche Ihnen für die nächsten 100 Jahre viel Erfolg. Lassen Sie es mich mit den Worten jenes Papstes sagen, dem man zum 90. Geburtstag gratulierte: "Gottes Güte sind nach oben keine Grenzen gesetzt."