Grußwort von Bundespräsident Roman Herzog bei der Begegnung zwischen Bürgerrechtlern der ehemaligen DDR und Jugendlichen im Schloß Bellevue

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 11. November 1997

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schülerinnen und Schüler,

seien Sie herzlich willkommen im Schloß Bellevue, und seien Sie unbesorgt - ich werde jetzt keine lange Rede halten. Es gehört zwar zur Arbeitsplatzbeschreibung des Bundespräsidenten, daß er des öfteren zu grundsätzlichen Fragen das Wort ergreift. Aber erfahrungsgemäß kann ich Richtiges und Wichtiges auch bewirken, indem ich dafür sorge, daß andere zu Wort und ins Gespräch miteinander kommen. So soll es heute sein, deshalb habe ich Sie eingeladen.

Und das Thema ist ja wirklich wichtig genug! Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, die Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur aufzuarbeiten und der Bedeutung der friedlichen Revolution gerecht zu werden. Das sind wir den Opfern der Gewaltherrschaft und den ostdeutschen Demokraten schuldig. Wir schulden es aber auch der Zukunft unseres Landes. Denn meines Wissens ist noch keine freiheitliche Demokratie jemals dadurch gefestigt worden, daß ihre Bürger der eigenen Geschichte und demokratischen Tradition ignorant und gleichgültig gegenüberstanden. Freiheit und Demokratie sind im Gegenteil darauf angewiesen, daß möglichst viele die Mechanismen von Unrechtsherrschaft schon im Ansatz durchschauen und zugleich Vorbilder dafür haben, wie man solchem Unrecht widersteht. Wem also an einer guten Zukunft unseres Landes liegt, der sollte das Gespräch über diese Fragen suchen.

Gerade Ihnen, den Jüngeren, muß an diesen Fragen gelegen sein - und zwar nicht nur, weil Sie rein statistisch am längsten etwas von einer guten Zukunft haben werden. Sondern weil Sie sich vorbereiten müssen: Sie gehören zur ersten Generation, die nach dem Ende der deutschen Teilung gemeinsam in die demokratischen Rechte und Aufgaben unseres Landes hineinwächst.

Täuschen Sie sich nicht: Das ist kein Konsumprogramm. Freiheit kommt nicht über den Fernseher und nicht per Kreditkarte - ihr Besitz will täglich neu verdient sein. Sie lebt vom Engagement, von der Bereitschaft zur Verantwortung für das Ganze. Und ehe Sie sichs versehen, werden Sie es sein, die für die Freiheit politische Verantwortung übernehmen und den Kurs in unserem Land mitbestimmen müssen. Bis dahin sollten Sie Ihr Navigationsbesteck beisammenhaben, und dazu gehört unbedingt die Beschäftigung mit den Lehren aus der Zeit des SED-Regimes und der friedlichen Revolution.

Dafür gibt es keine besseren Gesprächspartner als die Frauen und Männer, die in der ehemaligen DDR dem Unrecht Widerstand geleistet haben - oft über Jahre hinweg und lange vor dem Herbst 1989. Ihre Opposition schien lange nahezu aussichtslos, die Macht des Apparates schien überwältigend. Wer sich ihm widersetzte, mußte mit dem Schlimmsten rechnen: nicht nur mit dem Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, sondern auch mit Repressalien gegen Familienangehörige und oft genug mit Haft unter teilweise unbeschreiblich brutalen Bedingungen. Dennoch traten die Bürgerrechtler unbeirrt für demokratische Rechte ein und übernahmen in den Monaten der Wende an vorderster Stelle Mitverantwortung für den friedlichen Verlauf der Revolution. Sie haben sich um unser Land so verdient gemacht wie wenige deutsche Demokraten vor ihnen.

Ich füge hinzu: Das verbindet Sie. Lassen Sie sich diese Gemeinsamkeit nicht nehmen - bei allem Streit in der Sache, den es auch zwischen Bürgerrechtlern immer geben kann. Wenden wir uns gemeinsam gegen alle, die die Leistung der friedlichen Revolution uminterpretieren, herunterziehen und vergessenmachen wollen! Denn das Wissen um diese Leistung ist ein unverzichtbarer Teil unserer demokratischen Identität - es muß wachgehalten und weitergegeben werden!

Ich versuche meinen Beitrag dazu zu leisten: Vor zwei Jahren hatte ich die Freude, im Alten Rathaus der Stadt Leipzig eine Reihe von Bürgerrechtlern - stellvertretend für viele andere - mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen. Im vergangenen Jahr haben Präsident Havel und ich hier im Schloß eine Begegnung deutscher und tschechischer Bürgerrechtler herbeigeführt, die so herzlich verlief wie ein Klassentreffen. Und in diesem Jahr möchte ich dazu beitragen, daß der Dialog zwischen den Oppositionellen der ehemaligen DDR und der Jugend noch stärker in Gang kommt. John F. Kennedy hat bei seiner Amtseinführung gesagt, nun sei die Fackel an eine neue Generation übergeben, und er traf damit genau das damalige Empfinden, daß ein neuer Zeitabschnitt begann. Manchmal läßt sich ein solcher Wechsel klar bestimmen. Aber auch dann ist er nie von einer Sekunde auf die andere geschehen. Die Weitergabe demokratischer Werte und Tugenden von einer Generation auf die nächste braucht Zeit. Deshalb sollte man früh genug damit beginnen.

Darum schien es mir richtig, die heutige Begegnung herbeizuführen. Viele haben mitgeholfen, diese Idee zu verwirklichen - ich möchte vor allem die Robert Bosch- und die Körberstiftung sowie die Konrad-Adenauer-Stiftung nennen, deren Nachwuchsjournalisten nachher ein kleines Wunder an Sofortberichterstattung vollbringen wollen. Ich hoffe, daß das heutige Treffen unter einem guten Stern steht und vielleicht sogar Nachahmung findet. Schließlich muß es nicht immer ein Schloß sein, in dem man miteinander spricht.