Weihnachtsansprache 1997 von Bundespräsident Roman Herzog

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 25. Dezember 1997

Meine Damen und Herren,

zu Weihnachten wünsche ich aus dem Schloß Bellevue allen, die in unserem Land leben, ein frohes Fest.

Wer die Weihnachtsgeschichte nur ein bißchen im Ohr hat, der weiß, daß sie vor allem auch eine Geschichte der Botschaften ist - also, wie man heute sagt: der Kommunikation. Über diese Kommunikation oder sagen wir es deutlicher: über das Gespräch in unserer Gesellschaft möchte ich heute abend etwas sagen.

Gott sei Dank leben wir in einer Gesellschaft, in der die Freiheit herrscht und in der niemandem vorgeschrieben wird, wie er sich persönlich entfalten und entwickeln soll. Das führt unausweichlich auch zur Bildung von Gruppen in unserer Gesellschaft. Aber zu unüberbrückbaren Gräben darf es nicht führen. Deswegen brauchen wir heute mehr denn je das Gespräch untereinander. Gespräche lösen Verkrampfungen, sie klären Mißverständnisse auf und bauen neue Brücken:

Junge und alte Menschen brauchen Verständigung, Deutsche und Ausländer müssen miteinander reden. Politiker brauchen die Erfahrungen der Bürger, Techniker und Ingenieure müssen sich den Fragen der besorgten Laien stellen, die Vertreter unterschiedlicher Kulturen müssen sich ihre Lebensweise erklären. Und noch immer können auch die Deutschen in Ost und in West viel voneinander lernen. Jedes vernünftige Gespräch beginnt nicht mit Mitteilungsdrang, sondern mit der Bereitschaft und der Geduld zum Zuhören.

Verständigung, Gespräch, Toleranz: das werden entscheidende Stichworte für unsere Zukunft sein. Ob wir die Probleme der Zukunft lösen, hängt entscheidend auch davon ab, ob wir uns zu gemeinsam gefundenen und gemeinsam getragenen Lösungen aufraffen können. Niemand kann die Zukunft allein gestalten. Weder können die Sozialpolitiker allein die Zukunft der Renten sichern, noch bekommen die Studenten allein eine Bildungsreform hin, noch darf über die Zukunft des Lebens allein in den biomedizinischen Labors entschieden werden.

Gemeinsamkeit und Dialog aber haben eine unabdingbare Voraussetzung: Ob wir wollen oder nicht, wir sind auf Vertrauen angewiesen. Es gibt immer mehr Bereiche, die wir nicht selbst überblicken und kontrollieren können. Vertrauen ist auch nicht nur eine Sache zwischen Lebenspartnern oder zwischen Eltern und Kindern. Vertrauen müssen wir unserem Arzt, unserem Anwalt, den vielen Wissenschaftlern, die unser Leben mitgestalten. Die Politiker wissen, wie wichtig das Vertrauen der Bürger für das Funktionieren der Demokratie ist, und die Wirtschaft weiß inzwischen, daß Vertrauen sogar ein entscheidender ökonomischer Faktor sein kann.

Vertrauen gibt es nicht ohne Vertrauenswürdigkeit. Es braucht Verläßlichkeit und läßt sich nicht durch Manipulation und Schönreden gewinnen. Es braucht eine Sprache, die verstanden werden kann. Phrasen und Expertenjargons schaffen kein Vertrauen. Wer Vertrauen gewinnen will, braucht Klarheit und überzeugende Argumente. Wir möchten nicht wissen, daß Experten etwas für richtig oder unbedenklich halten: wir möchten halbwegs verstehen, warum.

Ich habe in diesem Jahr bei verschiedenen Gelegenheiten dazu aufgerufen, daß wir uns mit neuen Ideen und Tatkraft daran machen, eine gute Zukunft zu bauen. Auch dazu brauchen wir Vertrauen - und ein gutes Stück Optimismus.

Es gibt für diesen Optimismus Anlaß. Ich habe durch mein Amt eine besondere Chance: Ich erfahre von ungezählten Initiativen, Gruppen und Aktivitäten, die sich um das gesellschaftliche Miteinander kümmern. Bei meinen Begegnungen mit ihnen wächst bei mir das Vertrauen in die Zukunft unseres Landes und in die Zukunft einer menschlichen Gesellschaft. Unter der Oberfläche einer oft hartherzig und kalt erscheinenden Umwelt gibt es viele, die Arbeitslosen neue Chancen geben, die Alleinerziehende unterstützen, die sich um die Integration ausländischer Mitbürger kümmern, die Krankenbesuchsdienste organisieren, Gefangene betreuen, Selbsthilfegruppen für Aids-Kranke ins Leben rufen, Nachbarschaftshilfe organisieren und vieles andere mehr.

Ich weiß, daß hier vieles von Einzelnen abhängt, die es immer wieder schaffen, andere anzustoßen und zu motivieren, und die so die Dinge am Laufen halten. Ihnen allen will ich gerade in diesen weihnachtlichen Tagen Dank sagen. Sie sorgen immer wieder für Licht und Wärme in unserem Land.

Das Weihnachtsfest lebt seit je von einer besonderen Spannung: Auf der einen Seite fällt es in die dunkelsten Tage und längsten Nächte des Jahres, und auf der anderen Seite ist es von festlichem Licht erhellt. In derselben Spannung aus Sorge und Zuversicht, aus Angst und Hoffnung lebt unsere Gesellschaft und lebt auch jeder Einzelne.

Ich wünsche uns allen sehr, daß diese weihnachtlichen Tage uns Kraft und Vertrauen in die Zukunft geben. Meine Frau und ich wünschen Ihnen allen besinnliche Tage und ein gesegnetes Fest.