Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog zum Thema: "Europäisches Erbe, Europas Zukunft" anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Nationalen Juristischen Akademie Charkow

Schwerpunktthema: Rede

Charkow, , 6. Februar 1998

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Herr Rektor,
Herr Gouverneur,
meine Damen und Herren,
liebe Studentinnen und Studenten,

es ist ein bewegender Moment für mich, heute, beim ersten Besuch eines deutschen Staatsoberhaupts in der freien und unabhängigen Ukraine, die erste Ehrendoktorwürde der Nationalen Juristischen Akademie entgegenzunehmen. Ich danke allen Beteiligten für diese Auszeichnung. Ich freue mich, von nun an Mitglied Ihrer angesehenen Fakultät zu sein.

Unter Ihrem Namenspatron Jaroslav dem Weisen entstand schon im elften Jahrhundert die älteste Fassung der "Russkaja Prawda". Damit ist er zum Begründer der ukrainischen Rechtslehre geworden. Das sollte uns allen Auftrag und Verpflichtung sein.

Die Ukraine gehört zu Europa. Historische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen haben uns durch die Jahrhunderte verbunden. Schon vor tausend Jahren hatten Deutschland und die Kiewer Rus enge Kontakte miteinander.

Der deutsche Kaiser Heinrich IV. heiratete die Prinzessin Eupraxia, die Tochter des Großfürsten Wsewolod. Jeder gebildete Deutsche kennt Nikolai Gogol, der im Poltawa-Land aufwuchs und ukrainisch dachte, auch wenn er russisch schrieb. Hochgeschätzt wird in Deutschland Michail Bulgakov, der seiner Heimatstadt Kiew ein literarisches Denkmal setzte. Und der aus Kiew stammende Kasimir Malewitsch ist als einer der Begründer der modernen Malerei jedem Kunstfreund in Deutschland ein Begriff. Auch Josef Roth und Paul Celan, bedeutende jüdische Repräsentanten der deutschsprachigen Literatur, die ihre Heimat in der heutigen Ukraine hatten, zeugen von den engen Beziehungen zwischen unseren Völkern, die in den schrecklichen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts verschüttet wurden, die aber doch auch nie wirklich verloren gegangen sind. Wir Deutschen und Ukrainer sollten uns jetzt wieder von unserer großen gemeinsamen geistig-kulturellen Vergangenheit inspirieren lassen.

Ich betrachte es auch als Privileg, einige Worte gerade an Sie, die Funktions- und Entscheidungsträger der Ukraine von morgen, zu richten, an die Studentinnen und Studenten. Denn von Ihnen hängt die Zukunft Ihres Landes in besonderem Maße ab. Sie verkörpern den Willen und die Fähigkeit zur nationalen Behauptung. Sie sind es, die Ihr Land in die Welt des 21. Jahrhunderts führen werden, die alte Begriffe und alte Ängste überwinden und die Chancen eines neuen Zeitalters ergreifen müssen. Sie, die Angehörigen von Universitäten, Hochschulen und Bildungsstätten Ihres Landes, sind Kristallisationspunkte des Potentials und des Wissens, das Ihr Land bei seinem Neuaufbau so dringend braucht. Gerade von Ihnen, der jungen Generation, erwartet Ihr Land, daß Sie die sich bietenden Chancen beherzt nutzen. Setzen Sie also Ihre ganze Kraft dafür ein, die Demokratie zu sichern, die Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu organisieren und vor allem den Rechtsstaat aufzubauen.

Ich will Ihnen heute keine juristische Vorlesung halten. Aber im Blick auf die Hinwendung Ihres Landes zu den gemeinsamen europäischen Werten fasziniert mich die Wiederanknüpfung der Ukraine an die gemeinsame europäische Rechtskultur ebenso wie die Aussicht auf eine neue, im Entstehen begriffene und auf dem Erbe des Helsinki-Modells aufbauende außenpolitische Kultur Europas. Beides, die gemeinsame Rechtskultur und die neue außenpolitische Kultur, wird uns in der Zukunft bei der Lösung gemeinsamer Schwierigkeiten helfen. Auf beiden Gebieten können wir das Erbe Europas zum Aufbau der Zukunft Europas mobilisieren.

Ich will mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen zum rechtlichen Hintergrund der Demokratie und der Marktwirtschaft beginnen: Das Recht verkörpert die Werte einer Gesellschaft. Zugleich definiert es den Umfang des gesellschaftlichen Konsenses im Umgang der Bürger untereinander. Rechtsstaatlichkeit ist seit Montesquieu die entscheidende Grundbedingung der Demokratie. Das Rechtsstaatsprinzip gab es vor der Demokratie, aber Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit ist nicht denkbar. Wo immer sich Staaten auf die Prinzipien der Demokratie berufen, kommen sie an der Verwirklichung des Rechtsstaates nicht vorbei.

Die banalste, zugleich aber fundamentalste Voraussetzung des Rechtsstaates ist dabei die Rechtssicherheit. Sie ist eine Grundvoraussetzung dafür, daß die Bürger Vertrauen zum eigenen Staat fassen können, und dadurch geben sie ihm umgekehrt die Stabilität, die er braucht. Je offener und freier die Gesellschaft, desto wichtiger ist das Bewußtsein des Rechts bei jedem einzelnen Menschen.

Nach europäischem Staatsverständnis gehört das Rechtsstaatsprinzip zu den wichtigsten Werten überhaupt, denn es bedeutet den Schutz des Bürgers vor Willkür und die Bindung staatlichen Handelns an die Normen des Rechts. Deshalb weiß ich es sehr zu schätzen, daß Artikel 1 Ihrer Verfassung die Ukraine auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Ihr Land bekennt sich damit zur europäischen Rechtstradition: Wie ein roter Faden zieht sich ja immer wieder ein Gedanke durch die großen Rechtsdokumente der europäischen und, mit ihr verwandt, der amerikanischen Geschichte: Das Recht setzt der Macht Grenzen und sichert die Freiheit. Wir finden diese Grundidee in der Magna Charta Libertatum Englands von 1215 genauso wie in der Bill of Rights von 1689, in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ebenso wie in den Verfassungen der europäischen Demokratien unserer Tage. Machtbegrenzung und Freiheitssicherung sind die Fundamentalprinzipien moderner Staatlichkeit. Sie sind zugleich die ethische Fundierung unserer Staaten; denn ein Staat ohne sie ist inhuman, hat keine moralische Existenzberechtigung.

Das Recht hat darüber hinaus aber auch eine ganz zentrale Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Es ist der unabdingbare Rahmen für das reibungslose Funktionieren von Marktwirtschaften. Ohne Recht gibt es keine faire Wettbewerbsordnung, keine Vertragssicherheit, keine Zahlungsverlässlichkeit, keine Lieferpünktlichkeit, keinen internationalen Handel, keine Direktinvestitionen aus dem Ausland. Sie werden es schon oft von ausländischen Investoren gehört haben: Ein Unternehmen ist nur dann zu Auslandsinvestitionen bereit, wenn es im Gastland ein stabiles, funktionierendes Rechtssystem gibt.

Was ich eben über die Bedeutung des Rechts in der nationalen Volkswirtschaft gesagt habe, gilt in gleichem Maße für die Weltwirtschaft. Immer mehr erkennen wir, daß das Recht bei zunehmender Internationalisierung aller Märkte auch zu einem Anker in der Unüberschaubarkeit der Globalisierungsprozesse wird. Die globalisierten Märkte brauchen verläßliche Rahmenbedingungen, und das heißt vor allem: ein Gefüge nationaler und internationaler Institutionen und Rechtsnormen. Wo sie fehlen, werden Verträge nicht erfüllt, Zahlungen nicht geleistet, Gewinne nicht repatriiert, Informationen nicht übermittelt, Eigentumsrechte nicht geachtet.

Daß dies inzwischen auch international verstanden wird, zeigt die Tatsache, daß vor kurzem, mehr als 50 Jahre nach der Gründung der Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation als Teil des globalen rechtlichen Rahmens für die Marktwirtschaft gegründet wurde. Die Versuche ihrer Gründung scheiterten fast 50 Jahre lang am Dissens in den VN zwischen Ost und West. Heute ist die Welthandelsorganisation ein gutes Beispiel dafür, daß wir für einen weltumspannenden Handel auch weltumspannende Spielregeln brauchen.

Das Recht ist aber nicht nur Verkörperung von Wertorientierung, es ist nicht nur Rahmen für marktwirtschaftliche Entwicklung und Anker in der Unüberschaubarkeit der Globalisierungsprozesse. Es ist auch Transmissionsriemen der universalen Menschenrechte in die Innenpolitik jedes einzelnen unserer Staaten. Es gibt fundamentale Rechtsprinzipien, die weltweit Gültigkeit beanspruchen und die deshalb von allen Staaten gegenüber ihren Bürgern geachtet werden müssen. Ich erwähne nur die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, auf die sich ganz unterschiedliche Gesellschaftsordnungen und Kulturen verständigen konnten. In Europa hat es sich der Europa-Rat zur Aufgabe gemacht, über diese Transmission zu wachen. Für die rechtliche Hinwendung der Ukraine nach Europa hat die ukrainische Mitgliedschaft im Europa-Rat gerade in diesem Zusammenhang Bedeutung. Sie ist Privileg und Verpflichtung zugleich. Das ukrainische Parlament hat die europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. Aber es bleibt noch viel zu tun, um die Ukraine in der Praxis an die rechtlichen Standards des Europa-Rats heranzuführen. Lassen Sie mich nur daran erinnern, daß die Ukraine sich nicht nur zur Abschaffung der Todesstrafe, sondern auch zur Wahrung humaner Methoden des Strafvollzugs verpflichtet hat.

Zum Abschluß dieses stichwortartigen Diskurses möchte ich Sie daran erinnern, daß unser Recht überall in Europa nicht allein Ergebnis nationaler Eigenarten ist, sondern - bei aller Differenziertheit - ein Teil einer gemeinsamen europäischen Kultur. Das Magdeburger Stadtrecht, das im Mittelalter den Städten die Selbstverwaltung brachte, wurde bis in die linksufrige Ukraine rezipiert. Heute nähern sich unsere in der Abstammung ohnehin nahe verwandten Rechtssysteme auf dem Umweg über das internationale Recht einander wieder an: Eine wunderbare Perspektive, die uns helfen kann, unsere bilateralen und globalen Probleme im Miteinander zu lösen.

Aus all dem ergibt sich der besondere Rang des Studiums an Ihrer Akademie. Die Akademie ist dazu berufen, Studenten zu rechtsstaatlichem Denken und Handeln auszubilden, damit sie später als Richter, Staatsanwälte oder Beamte verantwortlich handeln können. Diese Aufgabe hat gerade in der Periode des Umbruchs und Übergangs, die die Ukraine gegenwärtig durchlebt, fundamentale Bedeutung.

Ich habe gestern das Verfassungsgericht besucht und mir einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit verschaffen können, die es in der kurzen Zeit seit seiner Gründung erreicht hat. Die ukrainische Verfassung bietet die rechtliche Basis für eine stabile demokratische Entwicklung und eine Perspektive für die Fortsetzung der Reformen. Sie ist Grundlage für die innere Stabilität, denn sie schafft klare Verhältnisse in Bezug auf die Kompetenzen der Staatsorgane.

Ich freue mich besonders, daß ich eine "vertiefte deutsch-ukrainische Rechtspartnerschaft" mit einem jährlichen Projektvolumen von 500.000 DM anbieten kann. Die Rechtsreform wird ein krönender Schlußstein im Gesamtgebäude der ukrainischen Reformen sein. Diese vertiefte Rechtspartnerschaft sieht eine enge Kooperation mit dem Verfassungsgericht vor. Es geht auch um die Ausbildung und Fortbildung von Richtern und Staatsanwälten. Auch Ihre Akademie sollte an diesen Maßnahmen im Rahmen des Transform-Programms teilhaben können.

Die gemeinsame Rechtskultur unserer Länder ist zentraler Teil eines weiteren Potentials, das in den letzten Jahrzehnten wegen ideologischer Gräben und politischer Gegnerschaften verschüttet war, dann aber doch wesentlich zur Überwindung des Kalten Krieges beitrug. Ich meine den Helsinki-Prozeß, dessen Erfolgsrezept "Wandel durch Kommunikation" heute zum Erbe und damit zur Zukunft der außenpolitischen Kultur Europas gehört. Menschenrechte, Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit wurden damals Instrumente einer Friedensstrategie, wurden Grundlage für Stabilität und Sicherheit in ganz Europa. Jetzt können wir an den Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung gehen. Wir können darangehen, ein Gesamteuropa zu schaffen, das friedlich und stabil ist, weil in ihm Demokratie, Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft und die ungehinderte Begegnung seiner Menschen verwirklicht sind.

In der Sicherheitspolitik der Zukunft bestimmt nicht mehr Angst voreinander unser Handeln, sondern der Wille zur Sicherheitspartnerschaft. Im Vordergrund steht das gemeinsame Interesse an Stabilität und Sicherheit. Dieses kann nicht mehr in erster Linie von der traditionellen Sicherheitspolitik gewährleistet werden. Heute gewinnt ein neues Denken auch in der Sicherheits- und Außenpolitik an Bedeutung, das oft etwas verächtlich als "soft power" bezeichnet wird. Dabei sind Zusammenarbeit, Austausch und Integration in allen Politikfeldern wichtiger als das hergebrachte Denken in Machtkategorien und Einflußzonen. In Zukunft soll für niemanden mehr die Ausdehnung von Macht und die Schaffung von Einflußzonen im Vordergrund stehen, sondern das Zusammenwachsen Europas - auch hinsichtlich seiner Sicherheit. Europa ist viel zu klein, als daß es sich in seinem Innern noch die alten Spiele der Machtpolitik leisten könnte.

Ihr Land ist gewissermaßen Miterbe des Helsinki-Prozesses, von dem ich gerade sprach: Die Ukraine hat ihren Friedenswillen bekräftigt, indem sie auf ihr umfangreiches Nuklearpotential verzichtet hat. Sie ist ein verläßlicher Partner, der bilateral wie multilateral dazu beiträgt, Konflikte beizulegen. Ob in Bosnien-Herzegowina, in den Vereinten Nationen, in der OSZE: Ukrainer zeigen der Welt ein beeindruckendes Engagement für Frieden und Verständigung. Auch damit beweist Ihr Land, daß es auf dem besten Weg ist, seinen Platz in der neuen Staatengemeinschaft zu finden.

Die Ukraine ist eine alte Nation mit großen, im Volk lebendigen Traditionen. Über Jahrhunderte hinweg teilte sie ein sehr europäisches Schicksal: Mitte und Grenzland zugleich zu sein. Umgeben von mächtigen Nachbarn, durfte sie lange Zeit nicht sich selbst gehören. Heute ist sie auf gutem Wege, vom Objekt zum Subjekt ihrer Geschichte aufzusteigen.

Nur sieben Jahre nach ihrem Wiedereintritt als souveräner Staat in die internationale Staatengemeinschaft hat sich Ihr Land als außenpolitischer Akteur große Anerkennung erworben. Jahrhundertelang wurde die Ukraine aus westlicher wie aus östlicher Perspektive als Grenzland betrachtet. Heute ist ihre geopolitische Lage - ebenso wie die Zahl ihrer Divisionen - kein außenpolitischer Bestimmungsfaktor von Bedeutung mehr. Gerade deshalb unterstützt Deutschland die Politik Ihres Landes nachdrücklich, sich selbst nicht mehr durch Grenzen, sondern durch Einbindung in die europäischen und transatlantischen Strukturen zu definieren.

Aber, meine Damen und Herren, die Chancen der Integration der Ukraine "nach Westen" hängen im wesentlichen von der innenpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklung ab. Jeder Beobachter dieser Entwicklung muß die Erblasten aus der Vergangenheit in Rechnung stellen. Parallel zur Gewinnung seiner eigenen Staatlichkeit mußte das ukrainische Volk den Prozeß des Übergangs vom Sozialismus zur Demokratie, von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft durchsetzen. Für solche Übergänge gab und gibt es keine Patentrezepte, keine Erfahrungswerte. Sie sind zunächst einmal ungemein schmerzhaft. Aber ein schmerzfreier Übergang ist nirgendwo möglich. Wenn Ihre Kinder in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben sollen, gibt es zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen - trotz momentaner Unsicherheit und sozialer Härten - keine Alternative. Wir Deutschen wissen aus eigener Erfahrung, wie schwer der Neuaufbau eines Landes ist. Im Osten Deutschlands arbeiten wir noch daran. Aber die Bewältigung der Transformationsprozesse braucht Zeit. Bei Ihnen wie bei uns.

Auch Ihr Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft wird nicht geradlinig verlaufen, Rückschläge sind unvermeidlich. Noch bleiben dringend notwendige Reformprozesse zu häufig stecken. Noch fehlt die Verläßlichkeit staatlicher Rahmenbedingungen für ausländische Investitionen. Noch könnten Freiheitsräume für demokratische Medien angemessener ausgestaltet werden. Noch sollten inländischen Unternehmen größere Chancen für eigene Entscheidungen eingeräumt werden. Und noch ist die soziale Not nicht ausreichend gebannt.

Und trotzdem bin ich tief beeindruckt: vor allem von der Dynamik der Veränderungen und von der Geduld, Kraft und Zähigkeit der Menschen, mit der sie die schwere Last des Umbruchs und der Anpassung tragen. Wer eine ehrliche Bilanz der letzten sieben Jahre zieht, der sieht: Die Zahl der positiven Zeichen überwiegt. Ich bin sicher: Die Ukraine ist politisch und wirtschaftlich auf dem richtigen Weg, ungeachtet aller Beschwernisse des Alltags. In Ihrem Land wird gegenwärtig Geschichte gemacht. Sie arbeiten heute an der Sicherung einer Zukunft für sich und Ihre Kinder in Frieden, Freiheit und Wohlstand.

In dieser Situation sollen Sie und Ihre Landsleute wissen: Sie sind nicht allein. Deutschland steht als Partner und Freund an Ihrer Seite. Wir haben das seit der Unabhängigkeit getan und wir werden es weiter tun.

Wir haben die Reformprozesse in Ihrem Land politisch wie finanziell in jeder uns möglichen Weise unterstützt. Das war und ist Ausdruck unserer Solidarität mit dem ukrainischen Volk in einer schwierigen Situation. Zugleich aber ist diese Unterstützung auch eine Investition in unsere gemeinsame europäische Zukunft. Denn wer die Geschichte der letzten Jahrzehnte kennt, der weiß: Es ist viel besser, in die gemeinsame Entwicklung, Zusammenarbeit und Partnerschaft unserer Länder zu investieren, als erneut über militärische Ausgaben nachzudenken. Wir wissen: Wenn wir die politische Stabilität und das wirtschaftliche Wohlergehen der Ukraine fördern, dann investieren wir in die Sicherheit ganz Europas. Unsere ukrainischen Freunde wissen: Ausländische Hilfe ist in vielerlei Hinsicht unabdingbar. Die Hauptarbeit im Prozeß des Systemwechsels kann aber nur von Ihnen selbst geleistet werden.

Zugleich ist unsere Unterstützung Beweis für unser Vertrauen in die Zukunft Ihres Landes. Ihr größtes Kapital sind die Menschen: Ihr hoher Ausbildungsstand, ihre Intelligenz, ihre Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft. Diese menschlichen Ressourcen sind die besten Voraussetzungen dafür, daß Sie die Herausforderungen der Zukunft meistern werden. Gerade in der letzten Zeit hat das Interesse des Auslands an technologischen Spitzenerzeugnissen aus Kiew, Dnjepopetrowsk und hier aus Charkow, deutlich zugenommen. Mein Besuch gestern im Kiewer Antonow-Werk und heute im Charkover Traktorenwerk haben mir eindrucksvoll gezeigt, wie berechtigt dieses Interesse ist.

Der Wandel, der uns Deutschen die Einheit und Ihnen, dem ukrainischen Volk den Zugang zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und tiefgreifenden Veränderungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens brachte, öffnet auch neue Wege in der Gestaltung der kulturellen Dimension der internationalen Beziehungen. Ein wichtiger Schritt für eine gute Zukunft der Beziehungen unserer Länder und Völker liegt im Bereich Bildung, Kultur und Wissenschaft, in der Begegnung der Menschen, insbesondere der jungen Leute. Es ist an der Zeit, die kulturelle Brücke zwischen Deutschland und der Ukraine auszubauen. Neben den staatlichen Beziehungen sind es, wie schon gesagt, vor allem die unmittelbaren Verbindungen zwischen den Menschen, die die wahre Substanz einer Partnerschaft wie der unseren ausmachen.

Bei meinem gestrigen Treffen mit ehemaligen ukrainischen Stipendiaten habe ich mich vom Wert ihrer Erfahrungen in Deutschland überzeugen können. Diese jungen Menschen verbinden in einzigartiger Weise Kenntnisse der ukrainischen mit solchen der deutschen Wissenschaft. Ich freue mich auch, daß ukrainische Universitäten die Germanistik als Studienfach ausbauen und daß in Deutschland das Interesse an Ukrainistik zunimmt. Auch in den anderen Lehr- und Forschungsfächern unserer Universitäten belebt sich der Austausch. Die deutsche Forschungsgemeinschaft und die ukrainische Akademie der Wissenschaften arbeiten zum beiderseitigen Nutzen zusammen.

Aber es kann und es muß noch mehr getan werden. Zwar gibt es erfreuliche Beispiele privater Förderung des Kulturaustausches. Die Möglichkeiten unserer Kooperation am Beginn des neuen Jahrhunderts sind aber noch längst nicht ausgeschöpft. Ich rufe alle Verantwortlichen in Deutschland und in der Ukraine zu einer Welle neuer Zusammenarbeit auf - in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Nicht nur der Schul-, Hochschul- und Wissenschaftsaustausch muß verstärkt werden. Auch die Zusammenarbeit in Kunst und Kultur im weitesten Sinne, auch im Sport, sind ausbaufähig. Nur so wachsen Partnerschaft und Freundschaft zwischen den Menschen. Um verläßlich und belastbar zu sein, müssen sie sich auf Wissen übereinander und auf Verständnis füreinander stützen können.

Meine Damen und Herren, liebe Studenten, ich habe bewußt beim Thema der neuen kulturellen Dimension der Außenpolitik und der kulturellen Brücke zwischen unseren Ländern etwas länger verweilt. Denn vor allem Sie sollen sie bauen. Sie sollen hinübergehen über diese Brücke und die Beziehungen der Freundschaft und Partnerschaft dauerhaft machen. Sie, die jungen Menschen, sind, in Deutschland und der Ukraine, die Hoffnung von uns Älteren, die wir im Rückblick auf das katastrophenreiche, scheidende Jahrhundert von Erinnerungen an Krieg, Massenmord und tiefen Grenzgräben gebeugt sind.

Sie wird Ihr Lebensweg weit in das neue Jahrhundert hineinführen. Ich möchte Ihnen wünschen, daß Sie beherzt die Zukunft ins Auge fassen und die Gestaltungsfreiheit nutzen, die Sie haben. Von Ihnen hängt es ab, ob die Ukraine die Chancen des neuen Jahrhunderts nutzt. Sie haben es, gemeinsam mit unserer Jugend, in der Hand, die Zukunft zu erobern und unsere Vision des einen Europa des Friedens, des Wohlstands, der gemeinsamen Werte und der Begegnungen seiner Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Gehen Sie diesen Weg. Wirken Sie mit an diesem großen Vorhaben.