Rede von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Trauerfeier für die Opfer der Zugkatastrophe von Eschede in der Stadtkirche zu Celle

Schwerpunktthema: Rede

Celle, , 21. Juni 1998

Am Vormittag des 3. Juni 1998 hat unser Land einen Schock erlitten. Das große Zugunglück, die Katastrophe von Eschede, hat in kürzester Zeit unser ganzes Volk in Trauer, Entsetzen und Mitgefühl vereint. Mehr als zwei Wochen sind seitdem vergangen, aber wir merken gerade in dieser Stunde, wie tief der Schock sitzt und wie wenig der Schmerz abnehmen will.

Mein erster Gedanke gehörte an jenem Tag und gehört noch heute den Opfern - den Toten und denen, die so schwer verletzt sind, daß sie möglicherweise für ihr ganzes Leben daran tragen müssen. In Sekundenbruchteilen sind 100 Leben zerstört worden. 100 Biographien sind mit einem Schlag abgerissen. Jede Lebensgeschichte war einmalig.

Der Weg und die Reise sind uralte Gleichnisse für das menschliche Leben. Vielleicht sind wir gerade deswegen so betroffen, weil der Tod die Opfer unterwegs getroffen hat, vielleicht im Aufbruch zu einem neuen Lebensabschnitt oder auf der Fahrt nach Hause. Sie waren unterwegs, hatten Pläne, Hoffnungen, Ziele. Sie sind von Menschen verabschiedet worden und wurden wiederum von Menschen erwartet.

Damit bin ich bei meinem zweiten Gedanken, der den Angehörigen und Freunden der Toten gilt. Sie haben in den letzten Tagen und Wochen erlebt, wie alle Bürger unseres Landes an Ihrem Schmerz Anteil genommen haben. Vielleicht sind Sie dadurch ein wenig getröstet worden in Ihrem Leid. Die Solidarität, das buchstäbliche Mitleiden sind hohe Werte. In den letzten Tagen haben wir erfahren, daß diese Werte auch heute noch Bestand haben.

Dennoch bleibt für jeden, der trauert, ein Schmerz, der unteilbar ist und den ihm niemand abnehmen kann. Jeder plötzliche Unfalltod, ob er, wie alltäglich, auf unseren Straßen geschieht - woran wir uns viel zu sehr gewöhnt haben - oder ob er mit unerhörter Wucht auf einmal eine große Zahl von Opfern trifft, erscheint uns dem Leben gegenüber besonders unangemessen. Es ist ja doch etwas anderes, ob wir einen kranken Verwandten oder einen todgeweihten Freund im Sterben begleiten müssen, oder ob uns ein vertrautes Leben so plötzlich und scheinbar sinnlos entrissen wird. Ich wünsche Ihnen, den Angehörigen und Freunden, von ganzem Herzen, daß Sie Wege finden, um mit diesem Verlust leben zu können.

Mein dritter Gedanke gilt heute den vielen hundert Helfern, die an Ort und Stelle dem Schrecken ins Auge geblickt haben. Ich denke an die Polizisten, die Feuerwehrleute, die Ärzte, Sanitäter und Pfleger, die Männer des THW, an die deutschen und ausländischen Soldaten, die in der Stunde des Schocks unendlich mehr als ihre Pflicht getan haben. Ich denke aber auch an die vielen Bürgerinnen und Bürger, vor allem aus Eschede und der Region, die in der Stunde der größten Not spontan, ganz ohne Auftrag, der Stimme ihres Herzens gefolgt sind. Sie haben geholfen, wo immer es ging, sie haben wie selbstverständlich Verletzte aufgenommen, unter Schock Stehende getröstet, Tote geborgen, Blut gespendet. Sie haben ihre ganze Kraft eingesetzt, vorbehaltlos geholfen, ihre Häuser geöffnet. Ihnen verdanken wir es, daß Eschede für uns alle nicht nur ein Ort des Schreckens, sondern auch ein Ort der Menschlichkeit geworden ist.

Alle Helfer, ob sie in Ausübung ihres Berufes oder als Freiwillige gehandelt haben, haben Bilder und Szenen gesehen, die sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen werden. Im Namen aller Bürger danke ich Ihnen für Ihren vorbildlichen Einsatz und wünsche Ihnen allen, daß Sie mit den erlittenen seelischen Schocks leben können. Ein ganz besonderer Dank gilt allen Frauen und Männern, die in diesen Stunden als Seelsorger den Helfern selbst zu Helfern geworden sind. In diesem Zusammenhang muß ich, gerade weil das nicht mehr selbstverständlich ist, auch den Medien danken, die in ihrer Berichterstattung mit selten gewordener Disziplin die Würde der so schrecklich ums Leben Gekommenen gewahrt haben. Allein die Helfer vor Ort wissen, welche Bilder uns erspart geblieben sind.

Mein vierter und letzter Gedanke geht an uns alle, die wir ohnmächtige Zeugen dieses katastrophalen Unfalls waren. Zwar nehmen wir, ich habe es angedeutet, täglich die Nachrichten von Verkehrsunfällen auf. Aber in diesem Fall sind wir besonders erschüttert. Gerade weil hier - soweit wir wissen - "nur" ein winziges technisches Detail versagt hat und wir wohl keine subjektive menschliche Schuld festmachen können, haben wir die Katastrophe von Eschede als einen modernen Alptraum erlebt. Dazu kommt, daß es ausgerechnet ein Zug war, also ein Verkehrsmittel, in dem wir uns gewöhnlich am sichersten fühlen. Obwohl wir alle im Grunde um unsere Endlichkeit wissen, obwohl wir alle wissen, daß uns der Tod an jedem Ort und zu jeder Zeit einholen kann, verdrängen wir genau dieses Wissen.

Die moderne Technik gibt uns viel Lebenserleichterung und sie gibt uns viel Lebenssicherheit. Aber wie jede menschliche Hervorbringung wird die Technik niemals unfehlbar sein. Wer sie nutzt, muß auch mit ihren Risiken rechnen. Täglich benutzen wir Autos, Züge oder Flugzeuge und vergessen allzu oft - auch ich -, daß wir eigentlich für jede glückliche Landung, für jede glückliche Ankunft dankbar sein müßten.

Seit den Zeiten des griechischen Dichters Homer heißen die Menschen "die Sterblichen". Es sind Katastrophen wie die von Eschede, die uns daran erinnern, daß wir diesem Schicksal nicht entrinnen können: Wir sind die Sterblichen, die an jedem Ort und zu jeder Zeit mitten im Leben vom Tod begleitet sind.

So gedenkt unser Land heute der Opfer, so teilen wir heute die Trauer der Angehörigen und hoffen uns alle in Gottes Hand.