Grußwort von Bundespräsident Roman Herzog zum 50. Jahrestag des Treffens der westdeutschen Ministerpräsidenten auf dem "Rittersturz" im Bundesarchiv Koblenz

Schwerpunktthema: Rede

Koblenz, , 8. Juli 1998

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

I

Außer einem Gedenkstein erinnert heute nichts mehr daran, daß sich vor fünfzig Jahren im Ausflugslokal 'Rittersturz' die westdeutschen Ministerpräsidenten versammelten, um über die Gründung eines provisorischen Staates zu beraten. Der Tagungsort ist längst Vergangenheit - die damals auf den Weg gebrachte provisorische Bundesrepublik hingegen ist lebendige Gegenwart.

Die Erinnerung an diesen Tag zeigt aber auch: Am Anfang waren die Länder. Der Föderalismus gehört zum Urgestein unseres Staates. Insofern ist es höchst erfreulich, daß sich ein Schülerwettbewerb für historische Facharbeiten dieses wichtigen Themas aus der Gründungsphase unseres Staates angenommen hat. Denn, meine Damen und Herren: Traditionen verstehen sich nicht von selbst, man muß sie sich erarbeiten, und das gilt ganz besonders für die demokratischen Traditionslinien in der deutschen Geschichte.

II

Als die Ministerpräsidenten im Juli 1948 diskutierten, ob und wie man den westallierten Auftrag zur Staatsgründung realisieren könne, glaubten sie fest daran, dieser westdeutsche Teilstaat werde ein Provisorium sein. Daß das Provisorium dann fünfzig Jahre alt werden könnte, war 1948 unvorstellbar. Hier zeigt sich, wie listig die Geschichte sein kann. Denn die damals entstehende freiheitliche Ordnung und ihr Bauplan, das Grundgesetz, erwiesen sich als die größten deutschen Erfolge der Nachkriegszeit und der neueren deutschen Geschichte überhaupt.

Am Anfang der Bundesrepublik stand eine knappe Frist. Bis zum 1. September 1948, so verlangten es die westlichen Alliierten, sollte eine westdeutsche verfassunggebende Nationalversammlung einberufen werden.

Aber unter Druck setzen ließen sich die Vertreter der westdeutschen Länder, die sich ganz eindeutig als Treuhänder der deutschen Interessen verstanden, nicht. Das Ultimatum zur Staatsgründung verwandelten sie in eine Verhandlungsgrundlage. Es erwies sich wieder einmal die Richtigkeit des alten Satzes: Wer gebraucht wird, darf auch mitreden.

Der 'Rittersturz'-Konferenz fehlte jedes äußere Pathos. Aber sie war die Stunde, zu der die deutschen Länder-Politiker den Auftrag zur Gründung des Weststaats annahmen. Und sie formulierten die essentials deutscher Anliegen in einer Deutlichkeit, die den U.S.-Militärgouverneur Lucius D. Clay außer Fassung brachte: keine Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung, sondern eines von den Ländern zu beschickenden Parlamentarischen Rats; kein Volksentscheid über ein Grundgesetz, sondern Inkraftsetzung durch die Länder; keine deutsche Beteiligung ohne vorherige Festlegung der alliierten Kontrollrechte in einem Besatzungsstatut; keine voreilige Neugliederung der Länder - das waren die Bedingungen. Das war in der damaligen Situation ein starkes Stück. Nur drei Jahre nach dem Sieg über Hitler-Deutschland wollten deutsche Politiker mit den Siegern über die Zukunft ihres Landes verhandeln, wenn auch ganz gewiß noch nicht gleichberechtigt. Das war mutiger, als sich mancher heute vorstellen mag. Denn die Wunden waren noch frisch, die von Deutschen geschlagen worden waren. War es nicht verständlich, daß viele Franzosen jede Art deutscher Staatlichkeit für eine sehr reale Bedrohung ihrer Sicherheit hielten? Und auch amerikanische Besatzungspolitiker waren skeptisch, ob mit den Deutschen, die noch vor kurzer Zeit Hitler zugejubelt hatten, ein föderaler und demokratischer Staat zu machen sei. Es lastete also einiges auf den deutschen Ministerpräsidenten in diesen Julitagen 1948.

Aber Deutschland und Europa würden heute ganz anders aussehen, wenn die Ministerpräsidenten damals nicht den Mut aufgebracht hätten, eigene und fremde Bedenken vom Tisch zu wischen und einen radikal neuen Anfang zu wagen. Ihr Mut zum Provisorium war erfolgreicher als ein pedantisch bis ins Letzte ausgetüftelter Fahrplan es je hätte sein können. Provisorien leben eben manchmal länger.

III

Der Erfolg des Provisoriums gründet sich wesentlich auf eine zentrale Vorgabe der 'Frankfurter Dokumente': daß der neue Staat eine föderale Ordnung haben sollte. Mit dieser Art der Staatsform stellte man sich zugleich in die älteste Kontinuität deutscher Staatlichkeit: Einheit in Vielfalt. Ein funktionierender Föderalismus kann einen Beitrag dazu leisten, die Verschiedenheit unterschiedlicher Lebenserfahrungen und politischer Erwartungshaltungen zu integrieren. Er sorgt für die Elastizität demokratischer Systeme, er macht die Gleichzeitigkeit der oft unvermeidlichen Ungleichzeitigkeiten erträglich. Das gilt heute noch genau so wie vor 50 Jahren.

Wir brauchen erstens - und unverändert - einen konstruktiven Föderalismus. Ich erinnere mich lebhaft an manche Schlacht im Bundesrat, an der ich teilgenommen habe und bei der die Schlachtordnung manche Parallele zu heute aufwies. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß politische Taktiererei sich am Ende nicht auszahlt. Es gibt Grenzen der Vertretung von Partikularinteressen. Im Bundesrat werden aus Ländervertretern Angehörige eines Bundesorgans, nehmen Vertreter der Länderregierungen an der Gesetzgebung für den Bund teil und haben somit auch Verantwortung für den Bund als Ganzes. Dieser doppelten Verantwortung dürfen sich die Landespolitiker nicht entziehen.

Wir brauchen zweitens einen kompetitiven Föderalismus. Einheit heißt nicht, daß überall alles möglichst gleich - und zwar möglichst gleich mittelprächtig - geregelt werden muß. Erst wenn verschiedene politische Lösungen miteinander konkurrieren, besteht die Möglichkeit, daß sich auf Dauer die beste durchsetzt. Funktionieren kann das aber nur, wenn der Bund den Ländern nicht die Luft zum Atmen nimmt. Für mich ist die kulturelle und landsmannschaftliche Vielfalt unseres Landes immer ein ganz großes Plus gewesen. Wer den Föderalismus ernst nimmt, muß auch den Mut haben, Unterschiedlichkeiten zuzulassen. Solidarität unter den Regionen ist zwar auch im föderalen Staat ein hohes Gut. Vielfalt zuzulassen heißt aber, die Eigenverantwortung der Länder - und zwar der einzelnen Länder - zu akzeptieren.

Wir brauchen drittens einen lebendigen Föderalismus. Zu den Eigenschaften der Gemeinschaft gehört, daß sie Zugehörigkeit vermittelt, einfach gesagt: unsere Länder müssen auch "Heimat" sein können für ihre Bürger. Sie können emotionalen Rückhalt bieten, gerade in Zeiten entwurzelnder Globalisierung. Das sage ich natürlich als überzeugter Bayer, der berufsbedingt viel in der Welt herumkommt.

Wir brauchen viertens einen realistischen Föderalismus. Föderalismus ist sowohl Mittel zur Einschränkung von Macht als auch Mittel zur Teilhabe an Macht. Man mag sich, abgesehen von den unstrittigen Hauptbewährungsfeldern der Länder wie der Standort- und Strukturpolitik, ja heftig darüber streiten, ob dieses oder jenes Politikfeld, zum Beispiel die Kulturpolitik, eher zentral zu regeln sei. Eines aber können wir uns eben nicht leisten: den Streit über diese Fragen aus Besitzstandsgründen auf beiden Seiten zu tabuisieren. Föderalismus ist nicht vereinbar mit dem Mikado-Grundsatz: wer sich zuerst bewegt, hat schon verloren. Das Optimum zwischen zu viel und zu wenig Länderkompetenz muß im Wandel der Verhältnisse immer wieder neu gesucht werden. Die Frage nach dem "Wie" - nicht nach dem "Ob" - des Föderalismus sollten wir also zu stellen wagen. Anders als die Ministerpräsidenten der Länder 1948 nicht angesichts eines Ultimatums, aber sehr wohl vor dem Hintergrund einer nunmehr bald 50jährigen Erfolgsgeschichte.

Fünftens: Wir brauchen über alles andere hinaus einen europäischen Föderalismus. Die Diskussion darüber wird heute meist unter dem Stichwort "Subsidiarität" geführt. Ich finde, es ist an der Zeit, diese Gedanken aus den Sonntagsreden heraus und in die praktische Politik hinein zu holen. Gerade wer die europäische Einigung will, darf nicht jede Zuständigkeit nach Brüssel verlagern. Ich weiß, daß ein Rückbau von Zuständigkeiten und der Wunsch nach einfacheren Regeln viele unterschiedliche Interessen - auch Finanzinteressen - berührt und deswegen immer hart umkämpft sein wird. Das ist im nationalen Rahmen nicht anders. Dennoch sollten wir jetzt damit anfangen.

Vom 'Rittersturz' bleibt für unsere Zeit vor allem eines: Die Erinnerung an politischen Mut und an Entschlußkraft in schwieriger Zeit. Die Verbindung von Augenmaß und Überblick hebt den 'Rittersturz' als eine Sternstunde des Föderalismus aus den vielen erinnerungswürdigen Anlässen des Jahres 1948 hervor. Er war damals der erste Schritt auf dem langen Weg zur Einheit in Freiheit.