Rede von Bundespräsident Roman Herzog beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover

Schwerpunktthema: Rede

Hannover, , 3. Oktober 1998

Sehr geehrter Herr Staatspräsident Havel,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Deutsche Einheit - setze ich als bekannt voraus. Einzelheiten ergeben sich aus dem Bundesgesetzblatt und aus jedem halbwegs aktuellen Atlas.

Aber wie gehen wir mit der Einheit um? Welches Bild machen wir uns von ihr? Welche Erwartungen richten wir an sie? Die Fragen sind es wert, immer wieder neu geprüft zu werden.

Vor acht Jahren ist uns die Antwort leichtgefallen. Die allermeisten von uns empfanden Freude, Dankbarkeit, Stolz und Zuversicht. Freude darüber, daß unser Land nicht länger durch Mauer, Stacheldraht und Minenfelder zerrissen war und daß die Menschen endlich frei zueinander kommen konnten. Dankbarkeit dafür, daß so viele befreundete Nationen uns auf dem Weg zur Einheit halfen und daß sich die ganze Welt mit uns freute und uns Glück wünschte. Stolz darauf, wie mutig, klug und friedfertig die Menschen in Ostdeutschland ihren Willen zur Freiheit und Einheit durchgesetzt hatten. Und Zuversicht, daß wir das gemeinsame Haus nun schöner und besser aufbauen würden als je zuvor.

Für diese Zuversicht gab es gute Argumente. Zunächst einmal ökonomische: Ob Marktwirtschaft, ob Planwirtschaft - die Deutschen - nicht die Regierungen, die Bürger - hatten bis 1990 nun wirklich bewiesen, daß sie aus den jeweils gegebenen Umständen das Beste zu machen verstanden. Und gute politische Argumente auch: Im Westen ein in Jahrzehnten gewachsenes Vertrauen in die Leistung der demokratischen Institutionen, im Osten das Selbstbewußtsein der erfolgreichen friedlichen Revolution. Das ergab zusammen die Überzeugung: "Wir können die Dinge zum Besseren wenden. Wir schaffen es gemeinsam."

Betrachten wir unbefangen, was seitdem geleistet wurde. Dann erkennen wir: Die guten Gründe für Freude, Dankbarkeit, Stolz und Zuversicht bestehen fort, ja sie sind eindrucksvoll bestätigt worden!

Unsere freiheitliche Demokratie ist fest verwurzelt - ein Beweis dafür ist die hohe und ja schließlich freiwillige Wahlbeteiligung vom vergangenen Sonntag. Die Deutschen haben 1990 ohne Zögern das größte wirtschaftliche Aufbauprogramm ihrer Geschichte begonnen und mit vereinten Kräften weit vorangebracht. Vor nicht einmal acht Wochen stellten drei renommierte Wirtschaftsforschungsinstitute gemeinsam fest: "Alles in allem ist die ostdeutsche Wirtschaft auf dem richtigen Weg." Zugleich herrscht landauf, landab Einigkeit darüber, daß dieser Weg weiter von allen unterstützt werden muß.

Denn natürlich bleiben noch gewaltige Aufgaben. Die Folgen der jahrzehntelangen Planwirtschaft - die am Ende nur noch Mangelwirtschaft war - wirken viel länger fort als erwartet. Das stellt besonders die Menschen in den östlichen Bundesländern auf eine harte, harte Probe. Aber die Ostdeutschen haben den tiefgreifenden Wandel mit unglaublicher Energie und Geduld gemeistert. Sie tragen immer stärker zur Prosperität dieses Landes bei und sie gestalten in allen Verantwortungsbereichen die Zukunft kraftvoll mit.

Über das bisher Geleistete bekunden ausländische Beobachter im Gespräch immer wieder Hochachtung. Und sie heben zusätzlich hervor, daß Deutschland seit der Einheit nicht in Nabelschau verfallen sei, sondern das von der Völkergemeinschaft in uns gesetzte politische Vertrauen nicht enttäuscht hat. Tatsächlich gehört ja auch das zur Entwicklung seit 1990: Deutschland hat wesentlich zur Vertiefung der europäischen Einigung beigetragen. Es hat den Stabilitätstest für die Wirtschafts- und Währungsunion bestanden. Und auch in der NATO und im Kreis der Vereinten Nationen achtet man die Deutschen als verläßliche Partner. Weltweit sind unser Rat und unsere Hilfe gefragt - übrigens nicht zuletzt deshalb, weil wir aus unserer Geschichte klare Konsequenzen gezogen haben.

Sicherlich ist alles das kein Anlaß zur Selbstzufriedenheit. Aber wenn wir realistisch sind, müssen wir doch feststellen: Wir sind weiter, als man 1990 hätte befürchten können. Es ist natürlich nicht ganz leicht, sich in den Problemen, die wir nach wie vor haben - und nicht zu knapp -, dafür den Blick zu bewahren. Unsere Hoffnungen und unser Ehrgeiz sind den Dingen oft mehr als einen Schritt voraus, und gelegentlich überschreiten sie weit das Maß des objektiv Möglichen.

Ich greife nur zwei der Erwartungen und Ansprüche heraus, mit denen die Deutschen sich nach meinem Eindruck selber zu überfordern drohen.

Erstens die harmonieversessene Vorstellung, die "innere Einheit" sei erst erreicht, wenn alle Deutschen so ziemlich das gleiche Lebensgefühl hätten, so ziemlich austauschbare politische Ansichten, so ziemlich übereinstimmende Sympathien und Antipathien und so ziemlich gleichförmige Verhaltensweisen. Aber ist es angesichts unserer so verschiedenen Biographien und aktuellen Lebensumstände wirklich ein Alarmzeichen, wenn - beispielsweise - viele Bürger im Osten mehr Gleichheit und sozialstaatliche Vorsorge wünschen, während die Mehrheit im Westen gegen eine Änderung der Balance von Freiheit und Gleichheit plädiert? Das ist für mich noch lange kein Grund, am Gelingen der Einheit zu zweifeln, oder gar in Ost und West gegenseitige Vorurteile warmzuhalten.

Ich rate da zu mehr Geduld und etwas Gelassenheit. Vor allem warne ich davor, zur Einheit gleich noch die Einheitsdeutschen zu fordern. Solche Standardgeschöpfe hat es in deutschen Landen - Gott sei Dank! - nie gegeben. Im Gegenteil: Seit eh und je pflegen die Stämme und Regionen ihre Besonderheiten. Diese selbstbewußte Vielfalt hat unserem Lande nie geschadet, sie hat es politisch und kulturell bereichert! Und ich füge hinzu: Unsere offene und weltoffene Gesellschaft muß solche Unterschiede auch in Zukunft aushalten können.

Das heißt nun allerdings nicht, daß wir überhaupt keinen Vorrat an Gemeinsamkeiten und politischer Übereinstimmung bräuchten. Nationen sind schließlich mehr als vorübergehende Wohngemeinschaften. Worin also müssen wir einig sein? Vom Zusammengehörigkeitsgefühl habe ich schon gesprochen. Es ist zwischen Ost und West vorhanden, gewiß. Aber ich wünschte mir mehr davon, und es wird nur wachsen, wenn wir noch mehr ins Gespräch miteinander kommen. Ich sage es, sooft ich kann, und ich sage es infolgedessen auch hier: Erzählen wir uns wechselseitig unsere Biographien, um daraus Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen! Vergleichen wir, wie wir die Jahre der Teilung erlebt haben! Es ist wichtig, daß sich aus den zwei Geschichten jener Jahrzehnte eine ehrliche Gesamtschau entwickelt, die wir uns gemeinsam zu eigen machen können.

Außer einer guten Portion Zusammengehörigkeitsgefühl brauchen wir aber vor allem Einigkeit über die Grundstrukturen unseres Zusammenlebens, und die sind hauptsächlich im Grundgesetz geregelt. Im Mittelpunkt dieser Regeln stehen der Schutz und die Freiheit des einzelnen. Er soll sich ohne Furcht vor Willkür und Gewalt frei entfalten - was auch als Aufgabe zu verstehen ist, sein Leben selbst aktiv zu gestalten und auch in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen; er kann als Gleicher unter Gleichen an der Willensbildung des Volkes teilnehmen und er darf im Bedarfsfalle mit der solidarischen Hilfe der Gemeinschaft rechnen. Diesen Zielen dienen letztlich alle die mitunter kompliziert anmutenden Verfahren und Institutionen unserer freiheitlichen Demokratie.

Vom Einverständnis mit diesen Werten und Regeln lebt die Einheit tatsächlich. Es ist in ganz Deutschland stark und unangefochten, das zeigen alle Untersuchungen, und darüber dürfen wir froh sein. Aber diese Einigkeit muß täglich neu gepflegt und bewiesen werden. Sie darf niemals nur die Umfrageergebnisse, sie muß den Alltag prägen! Unsere freiheitliche Demokratie lebt nicht von Umfragen, sie lebt von Engagement und Courage! Herausforderungen dazu gibt es mehr als genug - von der Nachbarschaftshilfe bis zum beherzten gemeinsamen Auftreten gegen jede Form von Radikalismus.

Hier sind die Bürger ebenso gefragt wie die Politiker. Die Bürger sollten nicht nur am Wahltage politisch aktiv sein, sondern sich auch alltags entsprechend interessieren, engagieren, kundig machen und den Politikern auf die Finger sehen. Und die Politiker sollten nicht nur im Wahlkampf und unter Wahlkampfgesichtspunkten aktiv werden. Sie müssen erst recht handeln, sobald sie das demokratische Mandat dazu errungen haben, denn auch die Demokratie wird an Taten, nicht an Worten gemessen. Und sie müssen mit den Bürgern dauerhaft im Gespräch sein, um zu erfahren, was man von ihnen erwartet, und um zu erklären, was sie tun und warum sie es tun.

Die zweite schädliche Selbstüberforderung, von der ich hier sprechen möchte, droht aus der Ungeduld mit dem wirtschaftlichen Aufbau. Diese Ungeduld ist verständlich, und ich empfinde sie auch. Aber sie darf nicht zur enttäuschten Infragestellung unserer Einheit überspitzt werden.

Natürlich sind die jetzigen Arbeitslosenzahlen - in Ost und West - unakzeptabel. Natürlich müssen wir am Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in den Bundesländern festhalten. Und natürlich - so unbequem diese Wahrheit auch sein mag - gibt es einen Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichem Erfolg mit "Wohlstand für alle" und der Akzeptanz für die demokratische Ordnung.

Aber wahr ist doch auch, daß Deutschland zwei Herausforderungen gleichzeitig bestehen muß - den Aufbau in Ostdeutschland und den durch neue Techniken und die Globalisierung ausgelösten ungeheuren Modernisierungsdruck, der auf allen Industriestaaten lastet. Diese doppelte Erneuerung unseres Landes ist beileibe nicht abgeschlossen. Aber stehen wir nicht im internationalen Vergleich sogar besser da als die meisten Länder, die doch nur die eine der beiden Aufgaben zu schultern haben? Und fördern wir die Erneuerung, wenn wir mißmutig nur noch danach Ausschau halten, was noch fehlt? Gehört es nicht auch zu einem vernünftigen, gelassenen Selbstbild, Erreichtes zu schätzen und dann auch ein bißchen Genugtuung darüber zu empfinden? Maßvoller Stolz auf die eigene Leistung ist nicht verwerflich, sondern er wirkt positiv. Er gibt Kraft für die weitere Arbeit und hilft dabei, für sich und die anderen genießbar zu bleiben. Auch das sollte uns am Herzen liegen.

Zuguterletzt: Auch ein maßvoller Stolz auf das politisch Gelungene, auf unseren Staat und seine aus Ost und West gespeiste Freiheitstradition kann uns nur helfen, die Einheit gut zu gestalten und mit mehr Zuversicht und Gelassenheit in die Welt zu schauen. Die deutsche Geschichte hat wunderbare und schreckliche Kapitel. Von keinem können wir uns lossagen. Aber heute schreiben wir gemeinsam an einem Kapitel, das zu glücken verspricht, und daran müssen wir alles setzen. Daß wir es zu schätzen wissen und gut behüten wollen - das dürfen, das sollten wir zeigen. Auch darüber darf am Tag der Deutschen Einheit nachgedacht werden.

Wir tun es am besten, wenn wir tätigen Gemeinschaftssinn an den Tag legen, denn darauf ist die Demokratie noch mehr angewiesen als auf Zeichen und Symbole.

Aber die Symbole haben eben auch ihren guten Sinn. Schwarz-Rot-Gold, das sind ehrenhafte Farben, die keiner verstecken muß. Und unsere Hymne steht für Überzeugungen, zu denen sich jeder bekennen kann. Die demonstrierenden Arbeiter haben sie 1953 bei ihrem Marsch durch das Brandenburger Tor ebenso angestimmt wie am 30. September 1989 die Botschaftsflüchtlinge im Prager Palais Lobkowicz. Sie erklang am 9. November 1989 im Deutschen Bundestag und am 3. Oktober 1990 wohl überall in unserem Land.

Es hat in den letzten Wochen in dieser Frage Diskussionen gegeben, Diskussionen, die ich nicht ganz verstanden habe.

Man kann sich ja fragen, ob es ein künstlerisch besonders origineller Einfall ist, bei einem Anlaß wie dem heutigen die zwei Hymnen, die es noch vor zehn Jahren in Deutschland gab, miteinander zu vermengen und dabei mit einem Schlager auch noch daran zu erinnern, daß die Melodie der DDR-Hymne immer noch Plagiatsvorwürfen ausgesetzt ist.

Aber, meine Damen und Herren, das ist doch nicht unser Thema. Unser Staat hält das aus. Und seine Symbole halten es auch aus - wenn wir nur die Symbole hoch genug halten!

Wichtig ist nur Folgendes - es muß zweierlei klar bleiben:

- erstens, daß das System der SED nicht von irgendwelchen kapitalistischen Machenschaften aus dem Sattel gehoben wurde, sondern daß es selbst abgewirtschaftet hatte und daher von seinem eigenen Volk beseitigt wurde, und

- zweitens, daß dieses Volk vor der Geschichte nicht durch die damalige Hymne repräsentiert wird, sondern durch den Ruf: "Wir sind das Volk!".

Denn das, meine Damen und Herren, das ist die historische Wahrheit.