Rede von Bundespräsident Roman Herzog bei der Gedenkveranstaltung aus Anlaß des 60. Jahrestages der Synagogenzerstörung am 9./10. November ("Reichspogromnacht") in Berlin

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 9. November 1998

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gehört zu den schlimmsten und beschämendsten Momenten der deutschen Geschichte. Natürlich: Im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte, war sie nur ein Vorbote. Aber ihre Geschehnisse waren auch für sich ein solcher Schlag in das Gesicht von Humanität, Zivilisation und Anstand, daß wir uns an dieses Datum immer wieder erinnern müssen.

In jüngster Zeit werden immer wieder einmal Debatten darüber geführt, ob es denn nicht genug sei mit all diesen Erinnerungen, ob das Gedenken nicht inzwischen nur mehr "ritualisiert" und damit inhaltsleer geworden sei.

Darauf gibt es verschiedene Antworten.

Keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft, auch kein Staat kann ohne Gedächtnis und ohne Erinnerung leben. Ohne Erinnerung zu leben bedeutet ja, ohne Identität und damit ohne Orientierung zu leben. Wenn wir nicht blind in die Zukunft gehen, sondern Ziele und Maßstäbe haben wollen, müssen wir wissen, woher wir kommen, und das gilt nicht nur abstrakt und allgemein, sondern ganz konkret auch für die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts, besonders jetzt, da die Generationen, die das sogenannte Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben, in die Verantwortung eingerückt sind. Erinnerung und Gedächtnis müssen weitergegeben werden. Um der Opfer willen, aber auch um unserer selbst willen. Wer aufrichtig sein will, muß sich seiner ganzen Geschichte stellen, der Geschichte, die im Guten wie im Bösen die Identität eines Volkes ausmacht. Und ich will es hier deutlich sagen: Sich dem bösen Teil der Geschichte nicht zu stellen, halte ich für die sublimste Art intellektueller Feigheit.

Erinnerung und Gedächtnis - das heißt im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zuerst: Gedenken an die Opfer. Es bedeutet, die Entwürdigten wieder ins Recht zu setzen. Es bedeutet aber auch Erinnerung an die Taten und die Täter. Dazu gehört gewiß die möglichst genaue historische Erforschung der Ursachen und Zusammenhänge. Aber diese Erinnerung dient der moralischen und politischen Selbstprüfung - nicht der moralischen Instrumentalisierung in gegenwärtigen Konflikten. Es ist deshalb eine nochmalige Entwürdigung der Opfer, wenn Worte wie "Auschwitz", "Holocaust" oder "Faschismus" leichtfertig benutzte Vokabeln in sehr vordergründigen politischen, Debatten werden. Hüten wir uns davor, das Entsetzen in billige Münze umzuwechseln!

Auf der anderen Seite gilt aber auch: Ohne Erinnerung an Auschwitz - und an all das, wofür es steht und was dazu führte - kann heute keine politische, ja überhaupt keine Ethik mehr geschrieben werden. Das Undenkbare ist einmal Wirklichkeit geworden, und damit bleibt es historische Möglichkeit - überall auf der Welt. Durch Verdrängen, Vergessen, Auf-sich-beruhen-lassen werden wir mit dieser Katastrophe der Zivilisation nicht fertig werden.

Ich wiederhole freilich, was ich bereits 1995 in Bergen Belsen gesagt habe: Ich bin nicht sicher, ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben. Die Debatten der letzten Wochen zeigen das ganz deutlich. Wir brauchen eine lebendige Form der Erinnerung. Sie muß Trauer über Leid und Verlust zum Ausdruck bringen, aber sie muß auch zur steten Wachsamkeit, zum Kampf gegen Wiederholung herausfordern, sie muß Gefahren für die Zukunft bannen. Für mich ist alles richtig, was unseren Kindern und Kindeskindern die Verantwortung für Demokratie, Freiheit und Menschenwürde in die Herzen gräbt, und für mich ist alles falsch, was am Ende nur in momentanen Alibieffekten versandet.

Und wir dürfen keinen Augenblick vergessen, daß die Generation unserer Kinder und Kindeskinder keine Anschauung mehr davon hat, was Willkürstaat, Entwürdigung und Massenvernichtung wirklich bedeuten, wie alle diese Scheußlichkeiten nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt, zum Teil in ganz kleinen Schritten, über ein Volk hereinbrechen und wie notwendig es daher ist, auf die kleinen Zeichen am Anfang zu achten. Und wieder sage ich: Ich bin mir nicht sicher, ob wir die richtige Art und Weise schon gefunden haben, die nachfolgenden Generationen auf diese fundamentale Notwendigkeit vorzubereiten.

Versuche dazu gibt es in wachsender Zahl. Ich erinnere nur - wieder einmal - an die Tagebücher von Viktor Klemperer und viele andere Publikationen von Zeitzeugen. Ich erinnere an den großen Film von Steven Spielberg, den ich genau aus diesem Grunde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet habe (und ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Gespräche, die Spielberg dazu mit deutschen Schülern geführt hat). Und ich erinnere ebenso an den Film über die Comedian Harmonists, den ich aus diesem Grunde im kommenden Monat auf meinen Staatsbesuch nach Großbritannien mitnehmen werde. Der Einbruch der Diktatur, der Einbruch der Menschenfeindlichkeit in eine Gesellschaft wird dort so dargestellt, daß es eigentlich Jugendliche verstehen müßten.

Ich sage es bewußt noch einmal: Es kommt nicht nur darauf an, daß über die Verbrechen des sogenannten Dritten Reiches gesprochen wird, sondern vor allem auch darauf, ob so darüber gesprochen wird, daß die jungen Menschen es verstehen und die richtigen Folgerungen daraus ziehen. Und lassen Sie mich hinzufügen: Auch über die richtige Dosierung werden wir noch reden müssen. Wer mich kennt, der weiß, daß ich alles eher wünsche als ein Verschweigen. Aber auch Abstumpfung ist für die junge Generation eine Gefahr, die wir nicht geringschätzen dürfen.

Am heutigen Datum kommen wir nicht vorbei. Die Nacht des organisierten Pogroms gegen die jüdische Bevölkerung war das deutlichste Signal für die sozusagen staatsoffizielle Verrohung der öffentlichen Sitten. In der Rückschau wissen wir, daß das ein Wendepunkt war von der Diskriminierung hin zu Deportation und schließlich zur Vernichtung. Schon damals waren alle anständig Gebliebenen entsetzt und fassungslos - und doch fanden nur wenige die Kraft zu deutlichen Worten oder gar Taten des Widerstands oder auch nur der Hilfe.

In Deutschland wie im Ausland hat niemand die offizielle Lüge von einer spontanen Aktion der Bevölkerung geglaubt. Indem der Volksmund zunächst der widerlichen Aktion den Namen "Reichskristallnacht" gab, wurde nicht ein Pogrom verharmlost, es wurde vielmehr aufgedeckt, daß die Sache "von oben" organisiert war, ja daß der Staat selbst endgültig der organisierten Kriminalität verfallen war. Obwohl, wie gesagt, nur wenige die Kraft fanden, ihrer Empörung Ausdruck zu geben, wurde doch auch dem Regime klar, daß ein solches Vorgehen gegen die Juden bei den allermeisten Abscheu hervorrief. Deswegen wiederholten sich solche Aktionen wenigstens bis zum Krieg nicht mehr.

Ich will auch mit dieser Bemerkung nichts beschönigen. Die Schwäche des aktiven Widerstands gegen die Entwürdigung und schließlich Vernichtung der jüdischen Mitbürger bleibt ein Skandal. Aber die dem Regime deutlich fühlbare Ablehnung dessen, was in den Pogromen geschehen war, und dann auch die Geheimhaltung der organisierten Vernichtung jenseits der Reichsgrenzen zeigt, daß es falsch ist, von einem besonderen "eliminatorischen Antisemitismus" zu sprechen, der speziell dem deutschen Volk eigen gewesen sei. Eine solche pauschale Schuldzuweisung verdunkelt eher die viel quälendere Frage, wie Menschen, die durch Erziehung und Weltanschauung dafür doch gar nicht prädestiniert waren, dazu gebracht werden konnten, andere Menschen auszusondern, zu quälen und zu vernichten - oder dem doch wenigstens zuzusehen. Und das ist die Frage, die mit Recht am häufigsten gestellt wird. Ich habe bis jetzt darauf keine Antwort gefunden.

Das herausragende Kennzeichen des Pogroms waren die in ganz Deutschland brennenden Synagogen. Hier wurden ganz bewußt ein Tabubruch und ein Sakrileg inszeniert. Die Respektlosigkeit vor dem Heiligtum, der sich gegen eine Minderheit austobende Nihilismus und Atheismus waren das unübersehbare Symbol eines Umstoßens aller Werte.

Aus vielen Äußerungen Hitlers läßt sich nachweisen, daß gerade diese Umwertung zu seinen Hauptzielen gehörte. Die Ideologie vom Recht des Stärkeren, der nichts anderes duldet als die eigene Macht, das eigene Interesse wollte bewußt die ethischen Grundlagen zerstören, die durch die Zehn Gebote und im besonderen durch das Tötungsverbot gelegt sind. Verfolgung und Vernichtung der Juden bedeuteten auch die physische Vernichtung jenes Volkes, durch das diese Ethik in die Welt gekommen ist. Die Ethik des Respekts, des Mitleids, der Caritas sollte ersetzt werden durch eine "Ethik des Raubtiers", wie Hitler zu sagen pflegte. Die Verachtung, Verfolgung und Vernichtung von Menschen, die eigenmächtige und willkürliche Einteilung in lebenswertes und lebensunwertes Leben: all das waren auch die Folgen einer ausdrücklichen Gottlosigkeit, wie sie in den brennenden Synagogen zum Ausdruck kam.

Am 11. April 1944 schrieb Anne Frank in ihr Tagebuch: "Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein." In diesem einen Satz wird deutlich, was die Wurzel der Barbarei war: Selektion.

Selektion war nicht nur ein Schreckenswort in den Lagern. Sie war das Prinzip des Nationalsozialismus selbst. Die Menschen wurden nach Merkmalen eingeteilt, sie wurden aussortiert. Statt "nicht nur Juden" kann man auch sagen: "nicht nur Sinti und Roma, nicht nur Russen, nicht nur Christen, nicht nur Gewerkschafter, nicht nur Sozialisten, nicht nur Behinderte, nicht nur diese oder jene andere Minderheit." Jean Paul Sartre schrieb 1944 in seinen "Reflexionen über die jüdische Frage": "Solange irgendwo auf der Welt ein Jude um sein Leben fürchten muß, kann kein Franzose seines eigenen Lebens sicher sein," ich füge hinzu: auch kein Deutscher. Wenn irgendwo unterschieden, klassifiziert und selektiert wird, kann sich niemand sicher sein, daß er nicht eines Tages selbst zu den Ausgesonderten gehört.

Unsere Verantwortung ist es, solche Selektionen nie mehr zuzulassen. Nie mehr zuzulassen, daß Menschsein abhängig gemacht wird von Rasse oder Herkunft, von Überzeugung oder Glauben, von Gesundheit oder Leistungsfähigkeit. Nie mehr zuzulassen, daß unterschieden wird zwischen "lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben.

Es ist kein Zufall, daß die Allmachtsanmaßung ihre ersten systematisch vernichteten Opfer in den Behinderten fand. Exakt auf den 1. September 1939 ist der Befehl Hitlers datiert, mit dem die Vernichtungsaktion gegen Behinderte in den Heil- und Pflegeanstalten ausgelöst wurde. Es ist in der Öffentlichkeit noch zu wenig bekannt, daß der Genozid an den Juden ideologisch, technisch und organisatorisch in der Euthanasie vorbereitet wurde. Bis hinein in personelle Kontinuitäten läßt sich das inzwischen exakt nachweisen.

Niemand kommt als guter Mensch auf die Welt. Moralische Prinzipien, Verhaltensmaßstäbe, Werte muß man lernen, einsehen, verinnerlichen. Dazu brauchen wir glaubwürdige Eltern und Erzieher. Und glaubwürdig können sie diese Werte nur vermitteln, wenn sie selber nach ihnen leben, wenn sie sich an ihren eigenen Maßstäben messen lassen können. Das gilt auch nicht nur für die Erzieher im direkten Sinn des Wortes, sondern es gilt für alle sogenannten Autoritäten und alle Repräsentanten der gesellschaftlichen Institutionen.

Die Geschichte der Zivilisation lehrt uns, wie lange es gedauert hat, bis die Menschen lernten sich zu disziplinieren, ihre Konflikte in geregelten Bahnen auszutragen, ihre latente Gewaltbereitschaft zu überwinden. Die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts - aber beileibe nicht nur sie - lehrt auch, in welch erschreckend kurzer Zeit alles an Zivilisation, Humanität und Selbstdisziplin wieder verspielt werden kann. Das "moralische Gesetz in uns", von dem Kant und die Aufklärung so emphatisch gesprochen haben, ist so stark nicht, wie man es glauben möchte, es verlangt daher funktionierende und durch Glaubwürdigkeit kraftvolle Institutionen.

Es verlangt eine ganz besondere innere Kraft, ein ganz besonders geschärftes Gewissen, eine ganz besondere Eigenständigkeit und überdies viel Mut, um in einer Zeit, in der die Autoritäten pervertiert sind, der Stimme des Guten zu folgen. Umso mehr gehört zur Erinnerung an die Geschichte des Dritten Reiches auch die Erinnerung an die Akte des Widerstands, besonders des Widerstands im Alltag. Sie zeigen, daß der Einzelne eben nicht machtlos ist, daß Gewissen funktionieren kann. Lange Zeit hat man in Deutschland diese kleinen und stillen Helden des Widerstandes nicht zur Kenntnis genommen; zu sehr zerstörten sie die Legende, daß man "nichts habe machen können". Doch etwa 400 Deutsche werden heute in Yad Vashem als Judenretter geehrt. Ich habe wiederum nicht vor, irgendetwas zu beschönigen, wenn ich heute auch an sie erinnere. Als Vorbilder für unsere jungen Leute sind sie aber auf Dauer wichtig.

Freilich: Heldentum dieser Art wird wohl nie zu einer alltäglichen ethischen Verhaltensweise werden. Niemand kann es von anderen einfordern. Erst recht - auch das sage ich vor allem den jungen Menschen - darf sich niemand im Nachhinein einbilden, er selbst wäre im Ernstfall ein Held gewesen.

Umso mehr haben wir alle die tägliche Pflicht, für Verhältnisse in unserem Land zu sorgen, in denen niemand ein Held sein muß, um ein guter Mensch zu sein.