Rede von Bundespräsident Roman Herzog auf dem Deutschen Bildungskongreß in Bonn

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 13. April 1999

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.


Es war ein zentrales Anliegen meiner Amtszeit, das Thema Bildung auf die Titelseiten zu holen. Als ich vor mehr als einem Jahr zu einer öffentlichen Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems aufrief, waren es vor allem zwei Dinge, die ich nicht akzeptieren konnte. Zum einen, daß das Thema Bildung, das uns alle gleichermaßen und meist ein Leben lang betrifft, offenbar nur noch ein Diskussionsgegenstand für Expertenzirkel war. Zum zweiten, daß sich gerade in diesen Expertenrunden und Bildungsgremien ein Diskussionsalltag breit gemacht hatte, der lange Zeit nichts als Stillstand produzierte.

Das haben unsere Bildungseinrichtungen und vor allem die jungen Menschen in unserem Land nicht verdient. Unsere Bildungsinstitutionen waren einmal Schrittmacher des gesellschaftlichen Wandels. Nun dürfen sie nicht zum Schlußlicht werden.

Es ist nicht ohne Ironie, daß gerade diejenigen, die vor dreißig Jahren den Muff unter den Talaren beklagten, nun mitunter selbst in eine muffige Routine eingebunden sind, ohne Chance, ein lähmendes Gleichgewicht von Gremien- und Interessengruppen zu überwinden.

Ich täusche mich aber wahrscheinlich nicht, wenn ich seit einiger Zeit eine Menge Bewegung, ja vielleicht sogar eine neue Aufbruchstimmung wahrzunehmen glaube. Über das Megathema Bildung ist in den vergangenen Monaten in allen Ecken der Republik diskutiert worden, die Studenten sind auf die Straße gegangen ? und ich muß gestehen, sie hatten meine Sympathie. Was aber noch wichtiger ist, ist die Tatsache, daß inzwischen an vielen Schulen und Hochschulen erfolgreich mit Reformmodellen experimentiert wird.

Die ersten Universitäten nutzen Freiräume, die ihnen die Politik inzwischen gegeben hat. Neue Studiengänge werden angeboten, internationale Abschlüsse wurden eingeführt, und viele Fachbereiche experimentieren mit dem Credit-Point-System, das den Studenten den Wechsel ins Ausland und wieder zurück erleichtert. Mancherorts wird sogar in englischer Sprache unterrichtet, und mehr als bisher wird darauf geachtet, daß ein Studium auch wirklich innerhalb der Regelstudienzeit abgeschlossen werden kann.

Auch unsere Schulen betreten neues Terrain: Sie werden - wenn auch hier und da noch widerwillig - nationalen und internationalen Leistungsvergleichen ausgesetzt. Und viele reformorientierte Schulen haben sich mittlerweile in Netzwerken zusammengeschlossen, um von den Erfahrungen der jeweils anderen zu profitieren.

Ich habe auch den Eindruck, daß in den erwähnten Beratungs- und Entscheidungsgremien mittlerweile ein anderer Wind weht. Über Parteigrenzen hinweg schließen sich diejenigen zusammen, die etwas bewegen wollen ? und sie kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Ein solches Beispiel ist der Initiativkreis Bildung, den die Bertelsmann Stiftung unter meiner Schirmherrschaft ins Leben gerufen hat. Auch hier wurde, wie ich höre, mancher hitzige Streit geführt. Aber niemand folgte der lähmenden Routine parteipolitischer Disziplin oder dem der Politik häufig eigenen Zwang, stets das Populäre sagen zu müssen. Der Initiativkreis legt heute sehr konkrete Empfehlungen zu Einzelfragen eines zukünftigen Bildungssystems vor. Er nimmt nicht für sich in Anspruch, es allen recht zu machen. Aber darin liegt vielleicht gerade seine Stärke. Seine Anstöße verdienen Aufmerksamkeit und Dank. Der heutige Kongreß, der auf meine Anregung hin zustande gekommen ist, wird die Empfehlungen nicht nur vorstellen, er wird sie auch prüfen und diskutieren. Aber er bietet noch mehr: Er präsentiert bereits realisierte Reformbeispiele und macht damit denjenigen Mut, die für Neuerungen in unserem Bildungswesen kämpfen. Nichts ist überzeugender als das gute Beispiel. Davon kann es nie genug geben.

Wer die Bildungsdebatten der vergangenen Monate verfolgt hat, der stellt fest, daß man sich ziemlich schnell über die Defizite einigen kann. Schwieriger ist es dann aber, sich auf konkrete Veränderungen zu verständigen. Insbesondere ist es leichter, einfach die Forderung nach mehr Geld zu erheben, als über konkrete Veränderungen bei eigenen Besitzständen nachzudenken.

Auch ich habe immer wieder darauf hingewiesen: Wir brauchen mehr Geld für Bildung. Aber die Debatte darf an diesem Punkt nicht enden. Wir dürfen es den Finanzministern nicht erlauben, die Diskussion über die Zukunft unseres Bildungssystems mit ihrem Rotstift zu führen.

Wichtig ist jetzt: Wir müssen vom Reden zum Handeln kommen. Wir alle wissen: Ein Pa-tentrezept gibt es da nicht. Konzentrieren wir uns also auf das, was jetzt machbar ist, und verbeißen wir uns nicht länger in Glaubensfragen.

Geben wir vor allem unseren Bildungsinstitutionen die Möglichkeit, ihre jeweils eigenen Wege und Lösungsmodelle zu finden und auszuprobieren. Diesem Prinzip des "Trial and Errors" müssen wir uns schon deshalb stellen, weil Schulen und Hochschulen unsere Kinder in Zukunft auf ein Leben vorbereiten müssen, das wir selbst noch gar nicht kennen, auf eine Welt, die noch erkundet und zum Teil noch erfunden werden muß, und auf eine Welt, in der Ungewißheit zum bestimmenden Merkmal geworden ist.

Und dazu kommt noch zusätzlich etwa grundlegend Neues: Der klassische Glaube der Aufklärung, wonach die Vermehrung von Informationen automatisch zu mehr Erkenntnis führt, wird in Zukunft nur noch sehr eingeschränkt gelten. Nicht die Beschaffung von Informationen wird das Problem sein. Im Gegenteil: Wir werden Strategien entwickeln müssen, um uns in der Vielfalt der Zeichen, Bilder und Daten auf das Wesentliche zu beschränken und das Richtige auszuwählen. Ich behaupte, daß wir auch darauf noch nicht vernünftig vorbereitet sind.

Was heißt das konkret? Viele kleine Schritte auszuprobieren, bedeutet natürlich nicht, sich dem ungeordneten Chaos hinzugeben. Im Gegenteil: Bei aller Freiheit im Detail ist es wichtig, das 21. Jahrhundert nicht ohne Kompaß zu betreten. Wir brauchen also Zielvorstellungen, an denen wir uns orientieren können.

Ich kann und will hier keinen Katalog solcher Zielvorstellungen aufstellen. Aber nach den Diskussionen der vergangenen Monate scheinen mir erste Umrisse schon recht deutlich zu sein.

Ich nenne nur einige Stichworte: Unser Bildungssystem braucht mehr Wettbewerb und Effizienz, mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit der Bildungsinstitutionen. Es darf die soziale Mobilität - nach oben wie nach unten - nie aus den Augen verlieren, ebenso muß es aber Leistung fördern und fordern. Die Lerninhalte und ?methoden stehen überall auf dem Prüfstand; ich nenne nur die Integration der neuen Medien in den Unterricht, die Reduzierung des Unterrichtsstoffes auf das Wesentliche und die stärkere Einbeziehung des Berufslebens in den Unterricht.

Meine erste Anmerkung gilt hier dem Stichwort Wettbewerb. Wettbewerb entsteht nicht durch theoretische Einsicht oder per Dekret. Er stellt sich ein, wenn den beteiligten Menschen und Institutionen Eigenständigkeit und Selbstverantwortung gegeben wird. Und wo Leistung belohnt wird, setzen sich die besten Ideen automatisch durch.

Allerdings bedeutet hier der Wettbewerb unter Hochschulen etwas ganz anderes als der unter Schulen. Der Wettbewerb zwischen den Schulen wird seine notwendigen Grenzen schon darin finden, daß die Wahlmöglichkeiten der Eltern bei der Auswahl der Schule für ihre Kinder vergleichsweise gering sind und daß wir selbstverständlich auch weiterhin die Vergleichbarkeit der Abschlüsse garantieren müssen. Aber was hindert uns daran, unseren Schulen - beispielsweise - bei der Auswahl des Lehrpersonals und der Verwendung der zugeteilten Mittel mehr Freiraum für eigene Entscheidungen zu geben? Mehr Freiraum heißt im gleichen Atemzug mehr Verantwortung, also die Verpflichtung, für die Folgen von Entscheidungen auch geradezustehen. Derzeit tragen die Lehrer nur die Verantwortung für ihren individuellen Unterricht. In Zukunft sollten sie mehr Verantwortung für die ganze Schule als Gemeinschaftsprojekt tragen. Ein solches modernes Schulmanagement ist aber für alle Beteiligten weitgehendes Neuland ? deshalb müssen unsere Lehrer und Schulleiter darauf auch rechtzeitig und professionell vorbereitet werden.

Bei den Hochschulen gehört das Bekenntnis zu mehr Wettbewerb mittlerweile fast schon zum guten Ton. Das ist auch nicht verwunderlich; denn die Hochschulen haben inzwischen von vielen Seiten Konkurrenz bekommen. Nicht nur dadurch, daß immer mehr Deutsche ihr Studium im Ausland absolvieren. Angehende Juristen lernen seit je lieber beim privaten Repetitor als in der Vorlesung. Firmen gründen "corporate universities" für den Nachwuchs, den sie brauchen. Amerikanische Universitäten eröffnen Filialen in Deutschland und finden trotz hoher Studiengebühren offenbar genügend Studenten, weil ihr Betreuungs- und Lehrkonzept besonders attraktiv ist. Und damit nicht genug: Inzwischen gibt es die ersten zertifizierten Studiengänge ausländischer Hochschulen, die im Internet abgerufen werden können. Es hat sich also längst ein Markt für Bildung etabliert, der für Wettbewerb und Veränderungsdruck an unseren Universitäten sorgt. Das ist nicht schlecht. Aber allein die Tatsache, daß es überhaupt so geschehen konnte, zeigt, daß unsere öffentlichen Hochschulen in ihren alten Strukturen zentrale Erwartungen der Studierenden nicht mehr erfüllen.

Mein zweiter Gedanke gilt infolgedessen dem Stichwort Leistungsorientierung. Ich bestreite es nicht: es gibt an unseren Hochschulen inzwischen viel guten Willen, besser, effizienter und damit leistungs- und konkurrenzfähiger zu werden. Aber guter Wille reicht oft eben nicht aus. Wir werden nur dann wirklich weiterkommen, wenn wir sinnvolle Systeme entwickeln, die die Leistungs- und Qualitätsmessung mit direkten Geldzuteilungen verknüpfen. Wer in Lehre und Forschung gut ist, sollte auch mehr Mittel bekommen als der weniger gute. Unsere Forschungsförderung zeigt es doch: Wo Drittmittel eingeworben werden müssen, funktioniert die Leistungsmessung gut und fast wie selbstverständlich.

Warum soll das nicht auch in anderen Bereichen gelten? Etwa für die Lehre? Solange wissenschaftliche Karrieren fast ausschließlich von den Leistungen in der Forschung und nicht auch von der Qualität der Lehre und der Betreuung der Studierenden bestimmt werden, wird sich hier nur wenig ändern. Es ließe sich schon viel erreichen, wenn für besondere Lehr- und Betreuungsleistungen auch materielle Anreize gegeben würden. Wir werden hier ohnehin nicht darum herumkommen, einige heilige Kühe zu schlachten. Ich glaube, um beim Beispiel zu bleiben, nicht, daß wir ohne eine grundlegende Änderung des Dienst- und Tarifrechts weiterkommen werden. Derzeit haben wir eine einzige und hohe Zugangsschwelle für die wissenschaftliche Karriere an den Universitäten: die Ernennung zum Professor. Danach sind die Anreize für Leistung aber nur noch gering. Ich staune immer wieder, wieviel hier von Einzelnen geleistet wird, obwohl es sich in materieller Hinsicht eigentlich nicht lohnt. Auf soviel Idealismus kann man aber nicht prinzipiell vertrauen.

Unser starres Beamtenrecht macht es für Wissenschaftler auch unnötig schwer, zwischen der Universität und der Wirtschaft zu wechseln. So frustriert die Universität viele junge Talente, die lange Zeit ihres Lebens vor "besetzten" Stellen stehen, und sie darf sich daher nicht wundern, wenn die besten Köpfe auf Nimmerwiedersehen ins Ausland abwandern. Aber auch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere heißt: Viele von diesen Talenten denken nicht im Traume daran, in die Wirtschaft zu wechseln, sondern sie bleiben lieber auf ihren vergleichsweise niedrigen Stellen sitzen - bis sie endlich aufgehört haben, Talente zu sein.

Notabene: Das Problem wird nicht dadurch gelöst, daß wir Beamte einfach durch öffentliche Angestellte ersetzen. Natürlich brauchen wir einerseits die Flexibilität einer größeren Vielfalt von Vertragstypen, die es den einzelnen Fachbereichen ermöglicht, Leistungs- und Zielvereinbarungen zu treffen, und die den Fakultäten insgesamt mehr Steuerungsmöglichkeiten in die Hand gibt. Das darf aber auf der anderen Seite nicht dazu führen, daß die Hochschullehrer in dauerhafter Unsicherheit über ihre berufliche Zukunft leben. Wir werden also einen Mittelweg finden müssen, der den Spagat zwischen einem ausreichenden Maß an Planungs- und Berufssicherheit und wirksamen Leistungsanreizen schafft. Auch hier müssen wir nicht bei Null anfangen: Es lohnt sich, Lösungen zu studieren, die andernorts gefunden wurden.

Auch unsere Lehrer brauchen zusätzliche materielle Elemente zur Förderung und Belohnung besonderer Leistungen. Wir alle wissen: Unsere Schulen sind immer nur so gut wie die Lehrer, die dort arbeiten, und ich habe hohen Respekt vor jenen Lehrern, die trotz der Probleme, mit denen sie jeden Tag im Unterricht konfrontiert sind, ihren Enthusiasmus nicht verloren haben und sogar über ihre Lehrverpflichtungen hinaus für ihre Schüler da sind. Aber wie belohnen wir ein solches Engagement? Und welche Motivation für mehr Einsatz geben wir denjenigen, die im Schulalltag resignieren? Gibt es überhaupt eine Instanz, die sich darum kümmert? Haben wir ein Instrumentarium für die regelmäßige Überprüfung und Bewertung von Unterrichtsqualität? Die Schlagworte "Qualitätsentwicklung" und "Qualitätssicherung" sind zwar mittlerweile in aller Munde. Aber solange wir auf diese Fragen keine befriedigende Antworten finden, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn unsere Schulen in internationalen Vergleich Mittelmaß bleiben.

Leider haben wir nicht nur zu wenig Anreizsysteme zur Steigerung von Leistung und Qualität ? wir haben vielfach auch die völlig falschen. Beispiel Hochschulfinanzierung: Stattet ein Bundesland seine Hochschulen nur unzureichend aus, so wandern die Landeskinder eben in andere Bundesländer mit guten Hochschulen ab. Aber das heißt im Klartext: Die Ausbildungskosten werden auf diese Länder abgewälzt, die Länder mit guten Hochschulen werden also praktisch dafür bestraft, daß sie für Studierende attraktiv sind.

Es gibt durchaus Modelle, die zeigen, daß es auch anders geht: Erfolgt zumindest ein Teil der Hochschulfinanzierung durch Mittel, die in die Hand der Studierenden gelegt werden, so kann es eine wirkliche "Abstimmung mit den Füßen" geben. Ich glaube, es ist vielen Studierenden oft gar nicht klar, daß eigentlich sie es sind, die unter der Reformunfähigkeit am meisten leiden. Und daß sie es sein könnten, die diesen Zustand am wirksamsten beheben könnten. Das würde übrigens auch den größten Anachronismus unseres Hochschulwesens allmählich überflüssig machen: die ZVS.

Bei allen diesen Überlegungen dürfen wir ein entscheidendes Leitprinzip nicht aus den Augen verlieren: Niemand darf von einem Studium abgehalten werden, weil ihm das Geld dazu fehlt. Das ist nicht nur eine soziale Verpflichtung, sondern wir sind es auch unserer Gesellschaft schuldig; denn wir können es uns nicht leisten, auch nur eine einzige Begabung leichtfertig zu verschenken. Wenn man dieses Leitprinzip voraussetzt, gibt es allerdings auch keinerlei Gründe, nicht endlich über neue Formen einer leistungsorientierten und gerechten Hochschulfinanzierung nachzudenken. Das derzeitige System, das alle Züge einer Planwirtschaft trägt, ist weder das eine noch das andere. Die gesamte Finanzierung unseres Bildungswesens steckt voller innerer Widersprüche. Wie erklärt man beispielsweise, daß eine angehende Logopädin für ihre Ausbildung viel Geld bezahlen muß, ein angehender Mediziner sein Studium aber ganz ohne finanzielle Eigenbeteiligung absolvieren kann? Wir sollten das ganze Thema endlich einmal umfassend und nüchtern diskutieren - wie immer dann die Ergebnisse sein mögen.

Ich habe schon angedeutet, daß sich eine Bildungsreform, die diesen Namen verdient, nicht auf organisatorische Veränderungen beschränken kann. Wir werden unsere Probleme nicht lösen, wenn wir uns nicht endlich daran machen, unsere Lerninhalte und -methoden zu überarbeiten. Auch dazu noch einige prinzipielle Anmerkungen.

Zuallererst: Die Informationstechnik wird eine Revolution in den Klassenzimmern auslösen. Wir müssen die Pädagogik für das Informationszeitalter aber erst noch erfinden. Ich weiß, daß über neue Formen des Unterrichtens schon so lange gestritten wird, wie es Schulen gibt. Heute aber stehen wir, durch die revolutionäre Entwicklung der Informationstechnik, vor einer grundlegend neuen Situation. Der Computer wird für eine wirkliche Neugestaltung unserer Lerninhalte und Unterrichtsformen ein zentraler Kristallisationskern sein. Er muß dann aber auch integraler Bestandteil von didaktischen Konzepten für alle Fächer werden. Es ist noch immer ein weit verbreitetes Mißverständnis, daß Computer in den Schulen vor allem dem Informatik-Unterricht dienen. Der Umgang mit dem Computer gehört aber wie das Lesen Schreiben und Rechnen heute zu den selbstverständlichen Kulturtechniken, die fast in allen Fächern Auswirkungen haben. Dazu fehlt es meist nicht nur an der Ausbildung der Lehrer, sondern auch an pädagogischen Hilfen, mit denen der Computer zum Instrument im Geschichts-, Mathematik- oder Englischunterricht gemacht werden kann.

Wir dürfen jetzt nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Für mich steht fest: Computer gehören in jedes Klassenzimmer! Es gab in den letzten Jahren eine große Anstrengung der Politik und der Wirtschaft, unsere Schulen ans Netz zu bringen. So wichtig das ist, es kann nur ein erster Schritt sein. Unser Ziel muß es sein, innerhalb der nächsten fünf Jahre alle deutschen Klassenräume und öffentlichen Bibliotheken mit einer ausreichenden Anzahl von vernetzten Computern auszustatten. Keiner soll mir sagen, daß sich das nicht erreichen läßt. Die USA haben vorgemacht, daß so etwas geht - als gemeinschaftliche Anstrengung von Staat und Wirtschaft. Wenn wir uns dieses gesellschaftliche Ziel setzen, können wir es auch erreichen!

Ich meine aber noch mehr. Die Schule der Zukunft wird durch ein neues Leitbild geprägt sein: Neben den klassischen Grundfertigkeiten werden die Methoden moderner Wissensaneignung zentrale Bedeutung erlangen. Damit rückt zugleich die Fähigkeit zur Eigenverantwortung und zur Selbstorganisation des Lernenden in den Mittelpunkt, und die Aufgaben des Lehrers werden sich dadurch ebenfalls wandeln: Er wird nicht mehr nur Wissensvermittler, sondern immer mehr auch Moderator von selbständigen und gruppenorientierten Lernprozessen werden.

Darauf müssen wir unsere Lehrer aber dann auch vernünftig vorbereiten, und zwar schon während ihrer Ausbildung und nicht erst danach. Wenn sich das Lernen an unseren Schulen ändern soll, muß sich also auch die Lehrerausbildung an unseren Hochschulen ändern. Dazu gehört übrigens auch, daß die Lehramtsstudenten schon während ihres Studiums Unterrichtserfahrung sammeln und nicht erst nach ihrem Studium - wo dann viele erschreckt merken, daß sie für den gewählten Beruf eigentlich ungeeignet sind.

Viele fragen sich, ob unsere Schulen und Schüler von den Herausforderungen der Wissensgesellschaft nicht überfordert werden. Es stimmt ja: Weder den Lehrern noch den Schülern kann zugemutet werden, daß sie mit der Explosion des Wissens Schritt halten und infolgedessen immer mehr Lernstoff durcharbeiten; denn dann bleibt kaum noch Zeit, das Gelernte zu verinnerlichen und soziale Kompetenzen und Charaktereigenschaften für eine zunehmend komplexere Lebenswelt zu vermitteln. Diese brauchen wir im 21. Jahrhundert aber dringend: wir brauchen Konflikt- und Kompromißfähigkeit, interkulturelle Kompetenz, Leistungsbereitschaft und Rücksichtnahme, Offenheit, Traditions- und Wertebewußtsein? um nur das allerwichtigste zu nennen. Ich sage es ganz einfach: Die Schule hat auch einen Auftrag zur Erziehung unserer jungen Menschen.

In einem bin ich mir sicher: Wir brauchen in der Wissensgesellschaft insgesamt nicht mehr zu lernen - aber wir müssen das Richtige lernen. Dafür sollten wir uns über einen Kernbereich von Fächern einig werden, übrigens durchaus auch auf europäischer Ebene. Nach meiner Meinung werden zu diesem Kernbereich die eigene Muttersprache und mindestens eine Fremdsprache gehören, dazu Mathematik, Geschichte, ein Grundverständnis ökologischer und ökonomischer Zusammenhänge und eine fundierte Auseinandersetzung mit ethischen Fragen. Spezialisierungen werden mehr und mehr wieder in die berufliche Ausbildung und die Hochschulzeit gehören. Dort kommen sie früh und durchdringend genug.

Ich selbst habe eine humanistische Schulbildung genossen. Daher liegt mir nichts ferner, als unsere jungen Menschen zu stromlinienförmigen Karrieristen zu machen, deren Bildungshorizont die Grenzen des Stellenmarktes nicht überschreitet. Trotzdem frage ich mich: Bereitet die Schule wirklich ausreichend auf das vor, was in unserer Gesellschaft an Neuem entsteht? Unsere augenblickliche Erfahrung gibt hier zu denken: Es gibt in Deutschland zur Zeit mehr als 350 Ausbildungsberufe, viele davon sind erst in den letzten Jahren in zukunftsorientierten Branchen neu eingerichtet worden. Trotzdem drängt die Hälfte aller Schulabgänger noch immer in nur 15 altbekannte Ausbildungsberufe.

Und für unsere Hochschulen gilt: Niemandem ist damit geholfen, wenn sie nur als Zwischenlager fungieren, um die Arbeitslosenzahlen zu schönen. Die Hochschulen müssen wieder begreifen, daß sie auch eine Mitverantwortung für den beruflichen Verbleib ihrer Schützlinge tragen. Praktische Berufsvorbereitung sollte daher vom ersten Semester als integraler Bestandteil eines Studiums angeboten werden.

An den Reformen unseres Bildungswesens in den kommenden Jahren wird sich messen lassen, wie zukunftsfähig unsere Gesellschaft insgesamt ist. An ihnen wird sich zeigen, ob wir noch in der Lage sind, die eingefahrenen Strukturen unserer korporativ organisierten Konsensgesellschaft konstruktiv in Frage zu stellen und zu verändern. Oder ob die Kräfte der Beharrung über diejenigen siegen werden, die für das Neue streiten.

Nach allem, was ich in der letzten Zeit gesehen und gehört habe, bin ich optimistisch. Ich habe nicht nur die Hoffnung, sondern die feste Erwartung, daß wir unser Bildungssystem in der Welt wieder zu einem der besten machen können. Als Bundespräsident hat man ja das Privileg, nicht nur alle Winkel unserer Republik durchstreifen zu können, man kann auch mit vielen engagierten und interessanten Menschen reden und diskutieren. Gerade im Bildungsbereich habe ich oft die engagiertesten kennenlernt. Sie müssen es ja auch sein, denn ihnen vertrauen wir unsere Kinder und Enkel an, das Wertvollste, was wir haben. Verhelfen wir den Engagierten zum Erfolg!