Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Vereidigung von Bundespräsident Johannes Rau im Bundestag in Bonn

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 1. Juli 1999

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.


Das ist also die Stunde des Abschiednehmens. Seit heute nacht, 0 Uhr, ist Johannes Rau Bundespräsident. Ich wünsche ihm und seiner Frau auch von dieser Stelle aus noch einmal von Herzen alles Gute für die kommenden Jahre. An mir ist es jetzt, mich von den hier versammelten Mitgliedern beider Häuser, von der Bundesregierung, den diplomatischen Vertretern von 175 Staaten, ganz besonders aber von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu verabschieden.

So wie ich geartet bin, kann ich das nicht ohne jeden ironischen Rückblick auf jene Sorgen tun, die sich vor fünf Jahren viele im Hinblick auf meine damals bevorstehende Präsidentschaft gemacht haben. Am harmlosesten war damals noch die tiefempfundene Sorge, ob ich mich immer korrekt und geschmackvoll genug kleiden würde. Der Verdacht war bald entkräftet, da mich schon 1995 ein Institut, dessen Name mir freilich entfallen ist, zum bestgekleideten deutschen Politiker erklärte.

Ich habe das zwar schon damals für eine heillose Übertreibung gehalten - und heute wäre ich ja ohnehin höchstens der zweiteleganteste; aber ich muß schon sagen: es entlastete mich von einer schwer auf mir lastenden Hypothek.

Länger muß wohl der Zweifel an meinem beruflichen Fleiß gewirkt haben, den der seinerzeitige Bundeskanzler mit Zitaten hervorgerufen hatte und der, wie es oft so geht, nach Leibeskräften kolportiert wurde. Es hat immerhin fast drei Jahre gedauert, bis die ersten, nicht minder besorgten Fragen laut wurden, ob ich denn nicht eigentlich zuviel machte. Auch das hat sich zwar wieder eingependelt; aber interessant war es schon, wie es oft dieselben waren, die bald die eine bald die andere Sorge drückte, gewissermaßen nach dem Motto: Hauptsache ich habe eine Sorge; welche ist nicht so wichtig.

Dann natürlich die Vokabel "unverkrampft"!

Ich weiß bis heute nicht, wer damals eigentlich auf die Idee gekommen ist, ich hätte dieses Wort ausgerechnet auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit gemünzt. Mittlerweile ist aber wohl klar geworden, was ich wirklich gemeint hatte: die Abkehr von jeder gravitätischen Anwandlung, die den Träger eines so hohen Amtes mitunter wohl plagen mag, den völlig unprätentiösen Umgang mit unseren Partnern in aller Welt, die Klarheit und Wahrhaftigkeit im Denken und Reden, eine ziemlich unbekümmerte Vorurteilslosigkeit nach allen Seiten - ja und wohl auch ein bißchen von jener Chuzpe, aus der die bisherigen Sätze dieser Rede entsprungen sind.

Manch einer mag nun erwarten, daß ich Ihnen und dem deutschen Volke eine Art politisches Vermächtnis hinterlasse. Aber, meine Damen und Herren, das werde ich nicht tun, und zwar aus zwei Gründen: Erstens habe ich das, was mir besonders wichtig ist, schon am 24. Mai im Reichstag zum Ausdruck gebracht, zum 50. Geburtstag unseres Staates. Zweitens scheide ich, wie ich ja schon wiederholt gesagt habe, heute ja nur aus dem Amt und nicht aus dem Leben. Ich behalte mir schon das Recht vor, auch in Zukunft zu sagen und vor allem zu schreiben, was ich für richtig halte.

Statt dessen möchte ich - und das nun im Ernst - ein paar Sätze darüber sagen, wie ich in diesen fünf Jahren mein Amt verstanden habe. Das läßt sich unter zwei Überschriften zusammenfassen: das Einende betonen und das Langfristige ins öffentliche Bewußtsein rufen.

Das, was wir gemeinhin als "Politik" bezeichnen, wird nach unserer Verfassung von Parlament und Regierung entschieden; und wenn sie es halbwegs gut machen, integrieren sie dadurch auch das Staatsvolk. Zu den eher rationalen Wurzeln dieser Integration gehört unter anderem die überzeugung der Bürger, in einem halbwegs guten und gerechten Staat zu leben, gehören also Phänomene, die wir mit den Begriffen Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, und Menschenrechte zu bezeichnen pflegen. Sie alle haben - ob wir das wahrhaben wollen oder nicht - mehr oder weniger auch den allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand zur Voraussetzung.

So kommt es wohl nicht ganz von ungefähr, daß der Oberbegriff, der in diesem Zusammenhang immer häufiger gebraucht wird, die "Leistungsfähigkeit" des Staates ist - nicht im Sinne finanzieller Leistungen, sondern im Sinne der Fähigkeit zu gestalten. Der Bürger vertraut sich dem Staat an, weil und insoweit er von ihm die Lösung jener Probleme erwartet, die er vor sich sieht und mit denen er selbst nicht fertig zu werden befürchtet.

Parlament und Regierung integrieren heute also vorwiegend durch "politische Leistung" oder - ich sage es deutlicher - durch eine überzeugende Sachpolitik. Die Dinge liegen um so besser, je weniger für andere, speziell für den Bundespräsidenten, Anlaß besteht, sich in die Entscheidungsprozesse beider Verfassungsorgane einzumischen.

Nur stehen Parlament und Regierung dabei vor einer prinzipiellen Schwierigkeit: Die Regierung und die sie tragende Parlamentsmehrheit haben meist nicht das Volk, sondern bestenfalls die Hälfte des Volkes hinter sich und können daher selbst durch die bestgemeinte Politik nicht nur integrieren, sondern werden zugleich stets auch polarisieren. Wir haben das in der Vergangenheit immer wieder erlebt und erleben das zur Zeit gerade wieder sehr deutlich.

Die Summe der Zentripetalkräfte, die es in einer Gesellschaft gibt, muß aber größer sein als die Summe der Zentrifugalkräfte. Sonst ist das Gemeinwesen auf die Dauer nicht lebensfähig.

Und das gilt in pluralistischen Gesellschaften ganz allgemein - auch dort wo der Staat von Verfassungs wegen eigentlich gar nichts zu sagen hat. Da ist es gut, wenn es neben den politischen Organen noch eine Instanz gibt, die das betont, was die konkurrierenden, ja streitenden Gruppen trotz allem als das ihnen Gemeinsame besitzen. Das habe ich redlich versucht - nicht nur durch meine Reden zum demokratischen Staatsverständnis und nicht nur durch eine bewußt unverschnörkelte Rhetorik, sondern auch durch die Schwerpunkte, die ich bei Besuchen, bei Einladungen, bei Auszeichnungen und nicht zuletzt in Fernsehgesprächen zu setzen versucht habe, und vor allem durch geduldiges und ernsthaftes Zuhören, wo ein belehrendes Reden nur gestört hätte. Ich sage: Ich habe es versucht, besonders auch in den östlichen Bundesländern, die ich von hier aus noch einmal besonders grüße. Ob es mir gelungen ist, brauche ich gottlob nicht zu entscheiden. Das müssen andere tun.

Dasselbe gilt natürlich für die zweite Grundlinie meiner Amtsführung: die Betonung des Langfristigen. In einer Massen- und vor allem Mediendemokratie wie der unseren gibt es unvermeidlich das, was man die Priorität des Kurzfristigen nennt. Die Fragen des jeweiligen Jahrfünfts entscheiden die Wahlen, sie beschäftigen fast ausschließlich die Medien und sie beherrschen infolgedessen auch das Denken der politischen Eliten.

Zwar sollte niemand behaupten, daß unsere führenden Politiker die langfristigen Trends, ihre Chancen und ihre Gefahren nicht im Blick hätten - das weiß ich aus unendlich vielen Gesprächen -, aber im Vordergrund steht für sie zwangsläufig das Kurzfristige, das sich in den obligaten Neunzig-Sekunden-Statements unseres Fernsehens noch einigermaßen abhandeln läßt. Doch ich finde, auch hier muß es - nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch unter den obersten Staatsorganen - zumindest einen geben, der die langfristigen Entwicklungen im Auge hat und sie deutlicher ins öffentliche Bewußtsein hebt, als es den für die Tagespolitik Verantwortlichen möglich ist.

Meine Reden zu Fragen der Wirtschafts-, Steuer- und Rechtsreform, zu Bildungsfragen, zur Einschätzung von Wissenschaft und Technik, zur Rolle von Softpower und Menschenrechten in der Außenpolitik, zur europäischen Integration, zum weltweiten Dialog der Kulturen sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Hier zeigt sich auch, das ist als Nachtrag zu meiner Kommentierung, in der das nicht steht, zu verstehen; das habe ich dazugelernt, daß der deutsche Bundespräsident keineswegs nur auf das Wort verwiesen ist, sondern auch durch konkrete Initiativen wirken kann. Ich erinnere nur an den von mir gestifteten Innovationspreis, meine Mitwirkung an den verschiedensten Existenzgründerinitiativen und nicht zuletzt an meine weltweite Initiative zum Dialog der Kulturen, der sich mittlerweile fast ein Dutzend Staatsoberhäupter aus westlichen und islamischen Staaten angeschlossen haben.

Bei diesem Verständnis meines Amtes konnte es nicht ausbleiben, daß mein vorrangiger Ansprechpartner - das ist häufig mißverstanden worden - oft nicht die staatlichen Organe waren, wie es sich manche Medien in ihrem Wunsch nach Konflikten wohl gerne gesehen hätten, sondern die Gesellschaft der freien Bürger war. Auf diese freien Bürger, auf ihre Phantasie, ihre Kreativität und ihren Wagemut kommt es in einem freien Gemeinwesen vor allem anderen an.

In einem solchen Gemeinwesen genügt es meines Erachtens für den Präsidenten eben nicht, wie der Chor in der griechischen Tragödie um Staat und Politik zu kreisen und beider Handeln zu kommentieren. Die Staatsverliebtheit, die uns Deutsche wie im übrigen auch viele andere Europäer auszeichnet, steht ihm schon gar nicht an; denn der Staat ist in unserem Gesellschaftssystem bedeutend weniger als das, was wir Gemeinwesen nennen. Der Präsident hat für das Gemeinwesen insgesamt da zu sein, so jedenfalls meine Auffassung von diesem Amt.

Deshalb habe ich auch stets darauf geachtet, mich als Bürger unter Bürgern zu bewegen. Unsere Mitbürger haben mich so verstanden. Ihr Zutrauen, ja ihre Zuneigung, die ich in diesen Tagen so sehr verspüre, ist Beweis dafür.

Die Distanz, die auch nötig ist, habe ich zu wahren versucht. Ein "Präsident zum Anfassen" wollte ich nie sein, wohl aber ein "Präsident zum Ansprechen und zum Verstehen". Ich hoffe, auch das ist mir einigermaßen geglückt.

Natürlich haben sich in mir nicht alle wiederfinden können. Auch das gehört dazu. Ein Präsident soll schließlich reden, aber er soll nicht jedem nach dem Munde reden. Dafür hat der liebe Gott jedenfalls mir nicht die grauen Zellen gegeben und schon gar nicht die Kraft des Wortes und der Argumente.

Am Ende dieser fünf Jahre habe ich vielen Menschen und vielen Institutionen zu danken; den Regierungen, die in dieser Zeit Verantwortung für unser Land getragen haben und noch tragen, den übrigen Verfassungsorganen, den hohen Repräsentanten der Länder, den politischen Parteien, den Gewerkschaften und anderen großen Verbänden, den Kirchen und Religionsgemeinschaften, einer ganzen Reihe von Stiftungen, nicht zuletzt auch den zahllosen Bürgern, die mich durch Zuspruch und Kritik mitgetragen haben. Aber einem Menschen möchte ich namentlich Dank sagen. Das ist meine Frau, die heute schon erwähnt worden ist.

Sie wird mir zwar nachher vorhalten, das hätte ich auch unter vier Augen tun können - das Manuskript hat sie nicht gelesen - aber einmal muß es, wie ich glaube, in der Öffentlichkeit geschehen, in die sie durch mein Amt zwangsläufig hineingezogen worden ist. Wir haben es in diesen Jahren so gehalten, wie wir es in unserer Ehe immer gehalten haben: Wir sind, soweit es sich irgendwie vertreten ließ, getrennt marschiert, aber wir haben vereint geschlagen, oft bis zu einem Grade, der manche besorgt fragen ließ, ob denn unsere Ehe noch hinreichend glücklich sei. meiner Frau hat diese Methode eine starke eigene Rolle und ein unbestreitbares Eigengewicht eingebracht. Aber sie hat ihr auch mehr Lasten aufgeladen, als ich ihr von Rechts wegen hätte zumuten dürfen; dessen bin ich mir sehr wohl bewußt.

Doch auch unsere gemeinsame Vorstellung von einer guten Ehe will ich hier nennen: gleiche Rechte, ein gleiches Maß an Pflichten, große Selbständigkeit beider Partner in der Arbeit - und dennoch am gleichen Strang ziehen.

Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie uns wirklich Abschied nehmen. Wir beide freuen uns darauf, "ins Glied zurückzutreten" und als freiere Bürger und Zeitgenossen ein freieres Leben als bisher zu führen, als einfache Glieder des deutschen Volkes, dem wir so gut gedient haben, wie es uns mit unseren Stärken und Schwächen eben möglich war, und das wir nicht aufhören werden zu lieben.

Danke sehr.