Namensartikel des Bundespräsidenten in der Sonderbeilage der Tageszeitung "BILD" vom 6. Juni 2014 zur Fußball-Weltmeisterschaft

Schwerpunktthema: Bericht

6. Juni 2014

Der Bundespräsident hat am 6. Juni in der Sonderbeilage der Tageszeitung "BILD" einen Namensartikel zur Fußball-Weltmeisterschaft veröffentlicht. Darin heißt es: "Internationale Wettkämpfe üben eine enorme Faszination auf uns aus. Doch zu den Begleiterscheinungen von Welt-Wettbewerben und Olympischen Spielen können auch Größenwahn und Rücksichtslosigkeit gehören. Es sollte uns nicht gleichgültig sein, ob die Organisatoren von Großereignissen Naturzerstörung und Gigantismus, Zwangsräumungen und Gewalt gegen Einheimische, Ausbeutung und Todesfälle auf ungesicherten Stadionbaustellen in Kauf nehmen. Dem Geist der Olympischen Charta entspricht das nicht, auch nicht den Idealen des Weltfußballverbandes."

Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Stadionbesuch (Archiv)

Wissen Sie schon, wo Sie am 12. Juni beim ersten Anpfiff sein werden? In São Paulo, Saalfeld oder Stuttgart? Fast egal, Hauptsache in fußballbegeisterter Gesellschaft und alle im gleichen Rhythmus, wie das Motto der WM heißt. Oder noch brasilianischer: Brazuca! Das ist der Name des Spielballs. Er klingt wie ein kraftvolles Anfeuern oder wie ein großartiges Versprechen auf Gemeinschaft, Gefühle, Ausgelassenheit! Ich muss an das Sommermärchen 2006 denken, als wir Gastgeber waren. Wir haben ein großes Fest erlebt, waren offen, stolz und gastfreundlich, zugleich auf wunderbare Weise entspannt. Mir geht es in diesen Tagen wie Millionen Menschen weltweit: Ich genieße die Vorfreude auf die Fußballweltmeisterschaft 2014.

Zwar interessiere ich mich das ganze Jahr über für Fußball und gehöre zu denen, die an den Wochenenden gespannt das Geschehen auf den Plätzen verfolgen. Da ich aus Rostock komme, schaue ich sogar regelmäßig, was sich in der dritten Liga abspielt. Aber es ist doch unvergleichlich, wenn die Nationalmannschaft um den Titel kämpft. Ich teile dieses besondere Gefühl mit unzähligen Menschen im Land, die zuhause oder gemeinsam beim Public Viewing Daumen drücken, zittern oder jubeln.

Der Alltag ist dann weit weg. Nach Fußballspielen oder anderen Sportereignissen fällt mir oft auf, dass alles, was auf dem Feld passiert, auch im privaten und politischen Leben geschehen kann: Abseits, Foul, Tricksereien, manchmal sogar Doping… Jenseits des grünen Rasens werden zwar keine gelben oder roten Karten verteilt, aber wie oft treffen wir auf Mitspieler – seien es Einzelne oder Staaten –, denen Regeln völlig egal sind. Im Sport wie in der Politik: Fairness wird zwar verabredet, aber sie muss täglich neu gewollt und gelebt werden.

Zur Fairness gehört auch, dass wir Menschen respektieren und achten, gleichgültig woher sie kommen. Noch vor gar nicht langer Zeit hatten es Sportlerinnen und Sportler mit Einwanderungsgeschichte schwer, akzeptiert zu werden. Heute sind Spieler türkischer oder afrikanischer Herkunft Leistungsträger in der Bundesliga und auch in unserer DFB-Auswahl. Vielfalt auf dem Platz ist für die meisten Fans zur neuen Selbstverständlichkeit geworden, leider noch nicht für alle. Ich finde es großartig, wenn Vorbilder wie Steffi Jones oder Philipp Lahm ihre Popularität nutzen, um dem Kampf gegen Intoleranz ein Gesicht zu geben. Ob es dabei um Herkunft oder sexuelle Identität geht: Es erfordert nach wie vor Mut, gegen Vorurteile und Diskriminierung aufzubegehren – in der Spielerkabine genauso wie im Fanblock, unter Aktiven ebenso wie unter Ehemaligen. Danke an alle, die diese Courage einfordern und vorleben!

Courage beweisen, das kostet Mühe, schon hier in Deutschland. Beim Blick in die Welt erweist es sich als Mammutaufgabe. Wie verständlich ist es, wenn bei sportlichen Großereignissen vor allem das Strahlende gesehen wird, der Jubel auf den Tribünen, das Gold der Erstplatzierten. Internationale Wettkämpfe üben eine enorme Faszination auf uns aus. Doch zu den Begleiterscheinungen von Welt-Wettbewerben und Olympischen Spielen können auch Größenwahn und Rücksichtslosigkeit gehören. Es sollte uns nicht gleichgültig sein, ob die Organisatoren von Großereignissen Naturzerstörung und Gigantismus, Zwangsräumungen und Gewalt gegen Einheimische, Ausbeutung und Todesfälle auf ungesicherten Stadionbaustellen in Kauf nehmen. Dem Geist der Olympischen Charta entspricht das nicht, auch nicht den Idealen des Weltfußballverbandes.

Jahrzehntelang sind viele Funktionäre in Sport wie Politik diesen heiklen Themen ausgewichen. Häufig hört man das Argument, solche Debatten würden dem Image des Sports schaden. Ich glaube: Große Wettkämpfe leben nicht allein von perfektem Ablauf und Marketing. Sie leben von Glaubwürdigkeit, Anstand und mentaler Stärke.

Ich möchte ein Verbündeter all jener sein, die sich in diesem Sinne engagieren. Hoffnung kann uns die aktuelle Debatte geben: Das Thema Menschenrechte soll bei der Vergabe von Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen künftig stärker bedacht, besprochen und berücksichtigt werden. Das scheint mir eine gute Entwicklung zu sein. Menschenrechte brauchen eine starke Lobby, auch im Sport!

Liebe Fußballfans, mit diesen Gedanken wollte ich Ihnen auf keinen Fall die Freude am Fußball madig machen, so kurz vor dem erhofften neuen Sommermärchen. Aber ich glaube, die Freude wäre noch größer, wenn wir künftig sicher sein könnten:

Niemand hat im Vorfeld einer WM oder Olympischer Spiele Schaden genommen, sein Haus verloren, seine Gesundheit oder gar sein Leben. Niemand muss das Glück der anderen mit dem eigenen Verlust oder Leid bezahlen. Wie gut wäre es, bei jedem internationalen Finale zu wissen: Es geht hier für alle um einen fairen Wettbewerb, um ein Spiel mit vielen Gewinnern.