Bundespräsident Joachim Gauck und der Präsident der Republik Polen, Andrzej Duda, haben anlässlich des 50. Jahrestages des Hirtenbriefes der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965 eine Grußbotschaft verfasst, die bei der Begegnung der Polnischen und Deutschen Bischofskonferenz in Tschenstochau am 22. November verlesen worden ist:
Vor 50 Jahren wandten sich die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder mit einer Friedens- und Versöhnungsbotschaft, die die deutsch-polnischen Beziehungen und die europäische Geschichte von Grund auf verändern sollte.
Sie war ein Zeichen für ungewöhnlichen Mut, geistliche Weisheit und eine weitreichende Vision. Im Jahr 1965 lag der Krieg nur zwei Jahrzehnte zurück. Ein Krieg, den Deutschland entfesselt hatte und dessen schmerzhafte Folgen für Polen noch überall zu spüren waren. Wo auf der einen Seite das Trauma des Krieges das Bewusstsein der Polen prägte, und auf der anderen die deutsche Öffentlichkeit sich erst allmählich den von Deutschland und von vielen Deutschen begangenen Verbrechen und dem Unrecht stellte. Und doch schrieben die Bischöfe anlässlich der 1.000-Jahr-Feier der Christianisierung Polens an ihre deutschen Amtsbrüder: '[wir] strecken […] unsere Hände zu Ihnen hin […], gewähren Vergebung und bitten um Vergebung'
.
Um den Wert dieser wegweisenden Botschaft richtig beurteilen zu können, muss man sich vor Augen führen, wie Europa damals aussah: in der Zeit des 'Kalten Krieges'
, durch den Eisernen Vorhang gewaltsam geteilt, fast ohne Kontakte zwischen den Menschen aus Ost und West. Dazu erwies sich die Oder-Neiße-Grenze als politischer Zankapfel: Bei fast allen Polen herrschte die Furcht vor dem 'westdeutschen Revanchismus'
, der von der kommunistischen Staatsführung gezielt beschworen wurde.
Die polnischen Bischöfe aber durchbrachen die Schuldzuweisungen und das Klima der Feindseligkeit. Gegen die Stimmung in der eigenen Gesellschaft streckten sie ihren deutschen Amtsbrüdern die Hand aus zu Annäherung und Dialog. Auch wenn der Hirtenbrief keine politische Deklaration darstellte, war seine Bedeutung umso größer, da er von Herzen kam. Er wurde zu einer bewegenden geistigen Botschaft, die eine tiefe moralische Reflexion, eine Stimme des Glaubens und des Gewissens zum Ausdruck brachte.
Wir, die Staatsoberhäupter Polens und Deutschlands, erinnern uns an diesen Gründungsakt einer friedlichen Nachbarschaft mit großer Dankbarkeit. Im Namen unserer Völker drücken wir unsere herzliche Dankbarkeit an all jene aus, die dem durch den Hirtenbrief der polnischen Bischöfe geebneten Weg gefolgt sind und zur deutsch-polnischen Versöhnung beigetragen haben.
Mit besonderem Respekt möchten wir dabei die Verdienste von Kardinalprimas Stefan Wyszyński erwähnen, einem der Autoren des Hirtenbriefes, der die Angriffe der kommunistischen Regierung auf sich nahm. Wir bewundern auch den weisen Weitblick des Breslauer Bischofs, Kardinal Bolesław Kominek, des Hauptautoren des Hirtenbriefs, der in seinen Notizen zu dessen Entstehung geschrieben hatte: 'Die Sprache darf nicht nationalistisch, sondern muss zutiefst europäisch sein. Europa ist die Zukunft - Nationalismen sind von gestern.'
Eine wichtige Rolle in der deutsch-polnischen Annäherung spielte auch die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, die für die Verständigung mit den östlichen Nachbarn sowie für die Anerkennung der Oder-Neiße Grenze eintrat. Diesen Geist atmeten auch spätere Gesten der deutschen katholischen Kirche, obwohl die unmittelbare Reaktion der Adressaten des Hirtenbriefs als allgemein und zurückhaltend empfunden wurde.
Es bleibt festzuhalten: In beiden Ländern waren die Kirchen der Politik in der deutsch-polnischen Annäherung voraus. Aber mit der Ostpolitik setzte die westdeutsche Regierung sehr bald fort, was gesellschaftliche Kräfte begonnen hatten. Wir erinnern uns an die großen symbolischen Gesten: den Kniefall von Willy Brandt vor dem Denkmal im ehemaligen Warschauer Getto 1970, die Umarmung von Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki bei dem Versöhnungsgottesdienst in Kreisau 1989, zwei Monate, nachdem in Polen die erste nichtkommunistische Regierung Mittelosteuropas gebildet wurde, drei Tage nach dem Fall der Mauer in Berlin.
Zum Dialog, zu einer besseren Verständigung und Partnerschaft haben auch andere Ereignisse beigetragen, die den Geist des Hirtenbriefes aufnahmen. Die Freiheitswelle, mit ihren Anfängen in der von 10 Millionen Menschen getragenen Solidarność-Bewegung, hat das kommunistische System in Mittelosteuropa besiegt und den Fall der Berliner Mauer und die Vereinigung Deutschlands mit ermöglicht. Das freie, unabhängige Polen und das freie, wiedervereinigte Deutschland begegnen einander im offenen Dialog. Die moralische Botschaft des Hirtenbriefes hat wunderbare Früchte getragen. Das gemeinsame Bild von Papst Johannes Paul II, einem der Autoren des Hirtenbriefes, und Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Brandenburger Tor im Jahr 1995 bleibt ein Symbol für diese historische Entwicklung.
Es hat lange gedauert, bis unsere Gesellschaften tatsächlich Vertrauen zueinander fassten. Aber es ist gelungen. Wir haben die beglückenden Erfahrungen unserer Begegnungen in Freiheit – mit vielem neuen Wissen übereinander, auch heftigen Kontroversen, aber mit der Gewissheit, über den Gräben der Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft aufbauen zu können. Ängste wurden überwunden, weil wir unsere Grenzfragen endgültig regelten. Wunden konnten vernarben, weil wir uns in Wahrheit begegneten. Und weil jede Seite sich für das Leid der Anderen öffnete, konnte sie selbst Mitgefühl erfahren. So haben Freundschaft, Verständigung und Versöhnung über Feindschaft und Groll gesiegt.
Polen und Deutsche sind heute mehr als gute Nachbarn. Sie sind Partner in denselben Bündnissen. Eines der wichtigsten Ziele, die der Brief der polnischen Bischöfe vor 50 Jahren formulierte, wurde nach 1989 tatsächlich Wirklichkeit: Polen ist wieder ein wichtiger Teil der europäischen Familie.
Wir, die Präsidenten von Deutschland und Polen, sehen darin die Aktualität des polnischen Bischofsbriefes von 1965: Wir gehören zusammen - als Nachbarn und Partner in einem vereinten Europa. Die Festigung dieses Zusammenhalts ist unsere große Aufgabe und Herausforderung für die Zukunft.