Bundespräsident Steinmeier unterzeichnet Gesetz zur Änderung von § 362 StPO und äußert verfassungsrechtliche Zweifel

Schwerpunktthema: Pressemitteilung

22. Dezember 2021


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 21. Dezember 2021 das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 der Strafprozessordnung ausgefertigt. Zeitgleich mit der Ausfertigung hat er in Schreiben an die Präsidentin des Deutschen Bundestages, den Bundeskanzler und den Präsidenten des Bundesrates Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung dargelegt. Darin regt der Bundespräsident unter anderem an, das Gesetz erneut parlamentarisch zu prüfen und zu beraten bzw. zu prüfen und vom Gesetzesinitiativrecht aus Artikel 76 Absatz 1 Gebrauch zu machen. An die Präsidentin des Bundestages schreibt der Bundespräsident:

Heute habe ich das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung - Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) nach Artikel 82 Absatz 1 des Grundgesetzes ausgefertigt. Der Deutsche Bundestag hatte das Gesetz am 24. Juni 2021 verabschiedet. Der Bundesrat hat am 17. September 2021 beschlossen, keinen Antrag nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes zu stellen.

Das Gesetz sieht im Wesentlichen vor, durch Einfügung eines § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme von Strafverfahren in Fällen von Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person zuzulassen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass ein zuvor freigesprochener Angeklagter verurteilt wird.

Die Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Freigesprochenen wirft neben strafprozessualen und rechtssystematischen Aspekten auch verfassungsrechtliche Fragen auf, die in Rechtsprechung und Literatur streitig behandelt werden. Diese waren auch Gegenstand der Anhörung im Deutschen Bundestag. Soweit dort und vor allem in der aktuellen verfassungsrechtlichen Debatte Zweifel an der Vereinbarkeit von § 362 Nr. 5 StPO mit dem Grundgesetz geäußert wurden, sehe ich jedenfalls einige dieser Zweifel nach eingehenden Gesprächen mit Verfassungs- und Strafrechtsexpertinnen und -experten bestätigt.

Das Gesetz wirft sowohl im Hinblick auf das Verbot der Mehrfachverfolgung (Art. 103 Abs. 3 GG) als auch bezüglich des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Rückwirkungsverbots verfassungsrechtliche Bedenken auf:

Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Die Vorschrift garantiert dem schon bestraften oder rechtskräftig freigesprochenen Täter Schutz gegen erneute Verfolgung und Bestrafung wegen derselben Tat. Art. 103 Abs. 3 GG schützt daher – über seinen Wortlaut hinaus – nach allgemeiner Auffassung nicht nur vor mehrmaliger Bestrafung wegen derselben Tat, sondern auch vor jeder weiteren Strafverfolgung nach einer sachlichen Aburteilung, d. h. auch nach Freispruch oder nach gerichtlicher Einstellung des Strafverfahrens.

Zwar geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Art. 103 Abs. 3 GG "Grenzkorrekturen" zulasse (vgl. BVerfGE 56, 22 [34]). Ich habe jedoch Zweifel daran, dass das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit lediglich Grenzkorrekturen bezweckt. Vielmehr scheint es mir das Verbot der Mehrfachverfolgung in nicht lediglich marginaler Weise einzuschränken.

Zudem ist zweifelhaft, ob das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit mit dem Rückwirkungsverbot vereinbar ist. Ziel des Gesetzes ist im Wesentlichen die Wiederaufnahme solcher Verfahren, in denen Angeklagte in der Vergangenheit rechtskräftig und – sofern kein Wiederaufnahmegrund nach § 362 Nr. 1 - 4 StPO vorliegt – damit endgültig freigesprochen wurden. Mit der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe bei Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person würden Freisprüche indes rückwirkend grundsätzlich in Frage gestellt. Die Freigesprochenen sähen sich zukünftig in der Situation, dass ihr Freispruch nachträglich in einen Schwebezustand geriete. Gerade im Hinblick auf die Rechtskraft strafgerichtlicher Urteile und die bislang bestehende Regelung des § 362 StPO wird man – nicht zuletzt im Hinblick auf die dazu vorliegende Literatur und Rechtsprechung – davon ausgehen müssen, dass insoweit ein berechtigtes Vertrauen in den Fortbestand der bisher bestehenden Regelung, d.h. konkret in den Freispruch, besteht. Einen Verstoß gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip anzunehmen, ist daher zumindest nicht fernliegend.

Für den Bundespräsidenten ergibt sich keine abschließende Gewissheit über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, die die Versagung der Ausfertigung rechtfertigen würde. Angesichts der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken rege ich allerdings an, das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen.