Bundespräsident gratuliert Martin Walser

Schwerpunktthema: Pressemitteilung

23. März 2022


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Schriftsteller Martin Walser zum 95. Geburtstag am 24. März gratuliert. Der Bundespräsident schreibt:

Zu Ihrem 95. Geburtstag gratuliere ich Ihnen von Herzen und mit Hochachtung vor einem so langen, so reichen und so wirkungsvollen Leben für die Literatur.

Als herausragender Schriftsteller haben Sie das politische Bewusstsein Deutschlands nach 1945 nicht nur reflektiert, sondern auch selbst mitgeprägt. Und dies beginnend schon in den 1950er Jahren. Unvergessen das bundesrepublikanische Sittenbild der ‚Ehen in Philippsburg‘, eingeschrieben in das deutsche Selbstbild der Nachkriegsjahre auch ein Anselm Kristlein in den Romanen ‚Halbzeit‘ und ‚Das Einhorn‘. Wichtig – natürlich – die politischen Interventionen in den 1960er Jahren, die die innere Demokratisierung und Öffnung des westdeutschen Staates forderten, nicht zuletzt für seine eigene Vergangenheit. Die Auseinandersetzung mit dem Frankfurter Auschwitzprozess, die Kritik der kühlen Abwehr historischer Verantwortung, die Sie als Dramatiker und als Essayist geleistet haben, hat meiner Generation Wege in die politische Mündigkeit gewiesen. Wer Walser las, verstand entscheidend mehr über das Land, in dem er groß wurde. Sie schrieben mit größter Sensibilität und zugleich mit schneidender Schärfe. Mir fällt ein Wort von Hans-Magnus Enzensberger wieder ein, der Sie einmal einen ‚sanften Wüterich‘ nannte.

Sie haben mit einem nie stillstehenden, immer neu suchenden Sensorium die geistige Lage abgehorcht und stilistisch virtuos auf den Begriff gebracht. Sehr viel früher als viele haben Sie durch Mauer und Stacheldraht hindurchgesehen und lange vor 1989 dem ganzen Deutschland einen Ort in unserem Gegenwartsbewusstsein gegeben.

Die Beteiligung an emotional geführten Debatten über den Begriff der Nation und die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen verläuft selten ohne Kontroverse. So sind auch Sie zum Kontrahenten in mehr als einer scharf und polemisch geführten Auseinandersetzung geworden. Umstritten sind Ihre Äußerungen über ein Zuviel an Vergegenwärtigung der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Ihre in drastischen Worten formulierte Ablehnung des Holocaust-Mahnmals in der Mitte Berlins hat Kritik ausgelöst. Ich habe es nie so empfunden, dass die Aufarbeitung des von Deutschen begangenen Unrechts uns zu einer Last geworden ist. Im Gegenteil sehe ich darin den Ausweg aus einer bleiern lastenden Unheilsgeschichte des Antisemitismus und des Völkermords. Aufklärung und Aufarbeitung sind unverzichtbarer Teil unserer Demokratisierung und inneren Befreiung geworden.

Ihr Werk wird immer ein Teil des literarischen Erbes der Bundesrepublik bleiben. Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass Sie Ihre gesammelten Materialien als Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben haben. Martin Walser zu lesen, wird auch kommenden Generationen Aufschluss geben über unser Land.