Interview mit der südafrikanischen Wochenzeitung The Sunday Times

Schwerpunktthema: Interview

18. November 2018

Der Bundespräsident hat der Sunday Times anlässlich des Staatsbesuchs in der Republik Südafrika ein Schriftinterview gegeben, das am 18. November erschienen ist: "Südafrika kommt auch eine tragende Rolle in der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika (SADC) und in der Afrikanischen Union zu. Deutschland hat sich stets aktiv für die regionale Integration eingesetzt. Ich glaube an den Ansatz, afrikanische Lösungen für afrikanische Fragen zu finden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der südafrikanischen Sunday Times anlässlich des Staatsbesuchs in der Republik Südafrika ein Schriftinterview gegeben, das am 18. November erschienen ist.

Herr Bundespräsident, Ihr Besuch folgt den Gesprächen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich mit Präsident Cyril Ramaphosa in Berlin geführt hat. Könnten Sie bitte den Zweck Ihrer Reise nach Südafrika darlegen und erläutern, welchen Nutzen eine Stärkung der Beziehungen für beide Staaten hätte?

Südafrika schlägt in diesen Monaten ein neues politisches Kapitel auf. Darin stecken große Chancen. Die Zeit ist reif für einen neuen Aufbruch auch in den deutsch-südafrikanischen Beziehungen. Ich habe mich daher sehr über die Einladung von Präsident Ramaphosa zum Staatsbesuch und über mein erstes Gespräch mit ihm Ende Oktober in Berlin gefreut.

Ich werde in meiner Rede im Apartheid-Museum daran erinnern, dass Nelson Mandela 1990 – nur wenige Wochen nach seiner Freilassung aus 27 Jahren Haft – nach Deutschland kam. Die Geschichte unserer beiden Länder drehte sich zur gleichen Zeit zum Guten. Mandela ist bis heute eine Inspiration für unzählige Deutsche, auch für mich persönlich. Seine menschliche Größe und sein unglaubliches Vorbild sind in Deutschland unvergessen. Aber er hat uns auch politisch den Weg gewiesen: Bei seinem Staatsbesuch 1996 haben wir die Deutsch-Südafrikanische Binationale Kommission aus der Taufe gehoben. Mandela hatte erkannt, wie eng das Schicksal Europas und Afrikas verknüpft sind, wie viel wir voneinander lernen können, wie viel wir durch Zusammenarbeit zu gewinnen haben. Seitdem sind wir seiner Vision nicht zu allen Zeiten wirklich gerecht geworden. Deshalb liegt mir viel daran, mit meinem Besuch ein Signal der Erneuerung unserer strategischen Partnerschaft zu setzen.

Ihr Besuch fällt in eine Zeit, in der Südafrika nach einer schädlichen Phase schlechter Regierungsführung und weit verbreiteter Korruption nun unter Präsident Cyril Ramaphosa einen Gesundungsprozess eingeleitet hat. Der Neuanfang – New Dawn, wie er genannt wird – umfasst auch eine ehrgeizige Investitionskampagne des Präsidenten, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen. Wie wird Südafrika von Deutschland und Europa derzeit wahrgenommen, und tut unsere Regierung genug, um Bedenken von Anlegern hinsichtlich der politischen Stabilität auszuräumen und staatliche Strukturen zu sanieren?

Südafrika ist heute Deutschlands wichtigster Handelspartner in Subsahara-Afrika, aber hier haben wir noch Potenzial, das ausgeschöpft werden kann. Bei der neuen Führung Südafrikas möchte ich für ein gemeinsames Handeln in der derzeitigen schwierigen weltpolitischen Lage werben, etwa in der Klima-, der Handels- oder der Migrationspolitik. Wenn wir die Zukunft gemeinsam gestalten, haben wir viel zu gewinnen.

Wirtschaftlich braucht das Land Perspektiven am Arbeitsmarkt für seine junge, ehrgeizige Bevölkerung. Dazu sind natürlich auch Investitionen nötig. Wir wollen hierzu einen Beitrag leisten. Ich werde deshalb auf meinem Staatsbesuch von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation begleitet. Viele deutsche Firmen sind seit langer Zeit in Südafrika engagiert. Ich wünsche mir, dass es noch mehr werden.

Welche Faktoren stehen Ihrer Auffassung nach einer Intensivierung des Handels, der diplomatischen Beziehungen und des Tourismus entgegen? Was kann Südafrika tun, um Befürchtungen von Investoren abzubauen, und was kann Deutschland tun, um den Wiederaufschwung zu unterstützen?

Südafrika ist einerseits eine hochentwickelte Volkswirtschaft mit großen wirtschaftlichen Chancen. Auf der anderen Seite stehen Herausforderungen großer sozialer Ungleichheit, hoher Arbeitslosigkeit und großer Armut. Die Politik muss den Spagat bewältigen zwischen riesigen Erwartungen auf raschen Wandel und einer langfristig wirkenden Strategie. Ich kann den Ansatz der neuen Führung nur unterstützen, systematisch um Vertrauen zu werben. Dann werden auch Unternehmen, nicht nur aus Deutschland, sich stärker engagieren. Aber das braucht Geduld und einen langen Atem. Wir werden natürlich auch darüber sprechen, welche Rolle der Staat im Wirtschaftssystem spielen soll und wie Südafrika mehr ausländische Investitionen anziehen kann. Schließlich: Deutschland verfügt über große Erfahrungen in der beruflichen Bildung, ein wichtiger Ansatzpunkt, um dem Fachkräftemangel in Ihrem Land zu begegnen.

Auf welche Weise können Staaten wie die unseren in Anbetracht der Umwälzungen, die sich global vollziehen, und der Tatsache, dass multilaterale Organisationen von einigen Weltmächten unterlaufen werden, in Fragen von gemeinsamem Interesse wie Stabilität, Entwicklung und Klimawandel zusammenarbeiten?

Südafrika und Deutschland tun gut daran, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir die internationale Zusammenarbeit stärken können. Etwa während unserer gemeinsamen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in den kommenden zwei Jahren. Wir sind nicht in allem einer Meinung, aber unsere beiden Länder sind angewiesen auf eine regelbasierte internationale Ordnung und auf die Sicherung globaler öffentlicher Güter. Südafrika hat z. B. eine konstruktive Rolle bei den internationalen Verhandlungen zum Pariser Klimaabkommen gespielt. Wir wollen Südafrika dabei unterstützen, die Reduzierung der Treibhausgasemissionen engagiert voranzutreiben. Zum Beispiel durch die Förderung erneuerbarer Energien und den Ausbau der Energieinfrastruktur.

Wie sieht Deutschland die Rolle Südafrikas in der Region und auf dem afrikanischen Kontinent? Kann unser Land nach dem Führungswechsel eine im strategischen Sinne stärkere Rolle zugunsten besserer Beziehungen zwischen Europa und Afrika spielen?

Unsere Länder tragen in ihren jeweiligen Weltregionen – Afrika und Europa – besondere Verantwortung, nicht zuletzt aufgrund ihres wirtschaftlichen Gewichts. Wir können und sollten beide über unsere nationalen Grenzen hinaus etwas beitragen zu einer besseren, gerechteren, friedlicheren Welt. Die Themen, die wir im Rahmen unserer strategischen Partnerschaft besprechen, reichen von Handel und Investitionen über Entwicklungs- und Bildungspolitik bis hin zu Energie- und Klimafragen. Südafrika kommt auch eine tragende Rolle in der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika (SADC) und in der Afrikanischen Union zu. Deutschland hat sich stets aktiv für die regionale Integration eingesetzt. Ich glaube an den Ansatz, afrikanische Lösungen für afrikanische Fragen zu finden.

Südafrika bietet außerdem sehr vielen Menschen Zuflucht, daran hat Präsident Ramaphosa kürzlich in Deutschland erinnert. Überhaupt wird das Thema Migration und Flucht in Südafrika ganz anders diskutiert, als wir dies zurzeit in Europa tun.

Aber wir sollten auch etwas größer denken: Südafrika ist das einzige afrikanische Mitglied der G20. Es ist ein wichtiger Partner der G20-Afrikainitiative der Bundesregierung. Diese Initiative setzt an zwei Seiten an: beim Willen zum Aufbruch und zu Reformen in den Ländern Afrikas sowie bei Veränderungen in Europa, damit tatsächlich mehr Investitionen in Afrika ankommen. Wir sind in einem Prozess des Umdenkens, weg von klassischer Entwicklungshilfe hin zur besseren Mobilisierung von öffentlichen und privaten Investitionen. Hin zu mehr Dialog und zu einem Verständnis, dass beide Seiten voneinander lernen können und müssen. Europa braucht Afrika, Afrika braucht Europa und beide Kontinente brauchen einander. Südafrika und Deutschland haben zu einem solchen besseren Verständnis unserer gemeinsamen Zukunft viel beizutragen.

Südafrika trägt noch immer schwer an seinen Erblasten aus der Kolonialzeit und der Zeit der Apartheid, was auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommt. Deutschland war bei der Überwindung seiner eigenen gewaltbehafteten Vergangenheit recht erfolgreich. Seit kurzem wird viel Kritik an der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission laut sowie am Prozess der Vergebung und der Nationenbildung, den unser früherer Präsident Nelson Mandela auf den Weg gebracht hatte. Welche Rolle spielte es für den Prozess des deutschen Wiederaufstiegs, dass Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen wurden, und was könnte Südafrika in dieser Hinsicht von Deutschland lernen?

Mir steht kein Urteil über die südafrikanischen Erfahrungen zu. Historische Vergleiche sind immer schwierig. Südafrika hatte das Glück, dass herausragende Persönlichkeiten den Prozess des Übergangs von der Apartheid in die Gegenwart begleitet haben: Nelson Mandela, Erzbischof Desmond Tutu, Frederik W. de Klerk und Thabo Mbeki. Sie standen und stehen auch für eine tiefe Humanität. Sie wussten, dass Versöhnung, Frieden und gesellschaftlicher Zusammenhalt nur möglich sind, wenn der Hass überwunden werden kann. Das ist für die Betroffenen alles andere als einfach.

Auch für Deutschland ist die Geschichte nie vergangen. Es gibt keinen Schlussstrich unter unsere Verantwortung für Nationalsozialismus und Holocaust. Das gilt im Verhältnis zu unseren Nachbarn. Das gilt auch für aktuelle gesellschaftliche Debatten in unserem Land. Wir dürfen die Vergangenheit nicht verdrängen und nicht vergessen. Aber wir dürfen uns auch nicht zu Gefangenen der Vergangenheit machen.

Derzeit wird spekuliert, dass die südafrikanischen Wahlen 2019 zu Koalitionen auf nationaler sowie auf Provinzebene führen könnten. Was muss Südafrika beachten und welchen Rat würden Sie unseren politischen Parteien vor dem Hintergrund der Erfahrungen Deutschlands mit Koalitionsregierungen geben?

Jede Demokratie hat ihre eigene Geschichte und muss ihren eigenen Weg finden. Sorgen macht mir, dass die Demokratie als Staatsform weltweit ganz offensichtlich unter Druck gerät und auch infrage gestellt wird. Mir ist wichtig, dass wir bei allem Streit, der notwendig zur Demokratie gehört, die Fähigkeit zum Kompromiss nicht verlieren. Sie ist nicht nur unabdingbar für Koalitionsregierungen wie in Deutschland, sondern auch für das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft.

Bundeskanzlerin Merkel hat angekündigt, dass sie nicht mehr für den Parteivorsitz der CDU kandidieren wird und auch ihre jetzige Amtszeit als Kanzlerin die letzte ist. Welche Auswirkungen ergeben sich hieraus für die deutsche Politik und das Verhältnis Ihres Landes zur restlichen Welt? Was wird von ihrer Kanzlerschaft bleiben?

Angela Merkel ist weiterhin die gewählte Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und genießt international großes Ansehen.

Ist man in Deutschland besorgt angesichts des Wiedererstarkens rechter Nationalisten in Deutschland, in Europa und in anderen Teilen der Welt? Wie kann man dem am besten entgegenwirken, um weitere Verwerfungen und Erschütterungen der globalen Ordnung zu verhindern?

Ich spüre eine Veränderung des politischen Diskurses, bei weitem nicht nur in Deutschland. Politische Lager verschanzen sich voreinander, die Sprache wird zunehmend roher und rücksichtsloser, Menschen unterschiedlicher Meinung kommen kaum noch miteinander ins Gespräch. Auf inszenierte Tabubrüche von Populisten folgt oft als Gegenreaktion die moralische Zurechtweisung – und beides trägt dann zu einer weiteren Polarisierung bei. Viele nehmen die Demokratie für selbstverständlich und halten sie für ewig garantiert. Das ist sie aber nicht. Wir müssen sie bewahren, verteidigen und weiterentwickeln. Und wir müssen überzeugende Antworten auf die großen Fragen der Zukunft geben. So unterschiedlich wir sind: hier stehen Südafrika und Deutschland vor einer ähnlichen Herausforderung.

Die Fragen stellte: Ranjeni Munusamy