Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit

Schwerpunktthema: Interview

11. Februar 2021

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mit Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, zum Auftakt der digitalen Themenwoche "Zeit für Bildung" im November 2020 gesprochen. Dieses sehr persönliche Gespräch über Bildungswege, Chancengleichheit und Aufstiegsbiographien ist überarbeitet und gekürzt am 11. Februar als Interview in der Zeit erschienen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo im Salon Luise von Schloss Bellevue

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mit Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, zum Auftakt der digitalen Zeit-Themenwoche Zeit für Bildung" im November 2020 gesprochen. Dieses Gespräch ist am 11. Februar überarbeitet und gekürzt als Interview in der Zeit erschienen.


Herr Bundespräsident, Sie haben einen beispielhaften Bildungsaufstieg hinter sich: Ihr Vater war Tischler, Ihre Mutter arbeitete in einer Pinselfabrik. Sichtbarer Ausdruck Ihrer Karriere ist das Schloss Bellevue, in dem gerade dieses Interview stattfindet. Erwischen Sie sich manchmal noch, dass Sie sagen: Wie bin ich da bloß hingekommen?

Weder das Schloss noch das Studium waren mir in die Wiege gelegt. Es war ein weiter Weg. Ich hatte eine behütete Kindheit, aber in einem Elternhaus ohne Klavier und Bibliothek. Ich hatte viel Glück, bin denen sehr dankbar, die mich schon in der Grundschule ermutigt haben. Meine Eltern hätten nicht die Vorstellung, auch nicht den Mut gehabt, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken. Mutter Flüchtling aus Schlesien, Vater Tischler, da war damals Abitur nicht vorgesehen.

So waren Sie der Erste in der Familie.

Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem meine Eltern in die Schule gerufen wurden, kurz vor Ende des vierten Schuljahres. Ein paar Kinder waren vorgeschlagen für weiterführende Schulen. Meine Mutter kam zurück und sagte: Die anderen Eltern haben alle zurückgezogen, du bist jetzt der Einzige.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Einschulung 1962

Waren Sie erschrocken – oder waren Sie glücklich und stolz?

Ehrlich gesagt war mir flau im Magen, weil keiner meiner Klassenkameraden mitkam. Das Gymnasium war in der nächsten Stadt, eine halbe Stunde Busfahrt entfernt. Glücklicherweise hatte ich einen Grundschullehrer, der nicht nur mir Mut gemacht hat, sondern vor allem meinen Eltern sagte: Sie würden dem Jungen wirklich eine große Chance nehmen!

Helmut Kuhlmann hieß der Grundschullehrer. Haben Sie ihn mal wiedergesehen?

Nicht nur das. Ich habe ihm ausdrücklich dafür gedankt, dass ich auch wegen seiner Ermutigungen diesen Weg genommen habe. Es hätte auch ganz anders laufen können.

Hat Ihre Mutter sich Sorgen gemacht: Wo soll der Junge seine Englischkenntnisse herkriegen?

Man muss diese Sorgen vor dem Hintergrund der Bildungsbiographie meiner Eltern und Großeltern sehen. Ich stamme aus einem Dorf, achthundert Einwohner hatte es damals...

... es hieß Brakelsiek, wir müssen es einmal nennen...

... in Lippe, zwischen Teutoburger Wald und Weserbergland, in der damals armen Ecke Nordrhein-Westfalens. Mein Großvater gehörte noch zu der Generation, die jeden Sommer außer Landes gegangen ist – als Torfstecher, als Grasmäher oder – wie in meiner Familie – als Ziegler, sie waren Wanderarbeiter in Norddeutschland, im Ruhrgebiet oder in der Nähe von Berlin. Aus so einer Familie stammt mein Vater – von einem kleinen Bauernhof, der nicht zum Leben und Sterben reichte. Mein Vater hat die Volksschule besucht und in der kleinen Tischlerei im Dorf, die es bis heute gibt, sein Handwerk gelernt.

Und Ihre Mutter, die aus Breslau kam?

Sie hatte wegen des Krieges keinen Schulabschluss und ist mit vierzehn gemeinsam mit sechs anderen Frauen geflüchtet und wurde in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, aus einem Viehwaggon ausgeladen und einquartiert.

Mir ist so etwas ein bisschen vertraut: Meine Mama und meine Großmutter und die Geschwister meiner Mutter kamen als Flüchtlinge aus Königsberg nach Niedersachsen und wurden als Außenseiter mit Misstrauen beäugt. Hat Ihre Mutter so etwas auch berichtet?

Ja. Als ich 1962 in die Grundschule kam, war das alles noch sehr nahe. Die Flüchtlinge waren nicht in erster Linie willkommen. Nur wenige wollten den Wohnraum mit anderen teilen. Vor allem war es schwierig, vernünftig bezahlte Arbeit zu finden. Die Eingewöhnungs-, heute würde man sagen: Integrationsaufgabe war riesig. Bei meiner Mutter ging das dann sehr über Sport, sie hat Handball gespielt und sich so ins Dorfleben integriert.

Wodurch sind Sie in der Schule aufgefallen? Waren Sie besonders gut in der Schule, besonders diskussionsfreudig?

Mit der Diskussionsfreude hatte das seine objektiven Grenzen.

Warum?

Meine Grundschule war eine Zwergschule, in der mehrere Jahrgänge in einem Raum unterrichtet wurden. Links saßen zwei Handvoll jüngere Schülerinnen und Schüler und rechts zwei Handvoll ältere, der Lehrer sprang von der einen zur anderen Seite. Wenn er auf der anderen Seite war, war bei uns Stillarbeit; Diskussionsfreude war gar nicht so sehr gewünscht. Trotzdem habe ich wirklich Lust auf Schule entwickelt. Und die hielt auch an.

Ihr Bruder Dirk, der Schlosser geworden ist, berichtet, Sie hätten sich nie zu Raufereien hinreißen lassen.

Wir haben drei Mal die Woche Fußball gespielt, körperliche Betätigung gab es also reichlich. Schlägereien waren eher selten, die soziale Kontrolle dafür dicht!

Fühlten Sie sich auf dem Gymnasium als Außenseiter?

Anfangs ja, die Schüler aus der Stadt kannten sich, waren nach meiner Erinnerung selbstbewusster. Da standen wir vom Dorf zunächst etwas am Rand.

Waren Sie wissensdurstig?

Ich hatte eine sehr strenge Deutschlehrerin, Frau Ullmann, die ein besonderes Auge auf diejenigen hatte, die neugierig waren und Anregung brauchten. Sie hat mein Interesse an Literatur geweckt. Ich habe in meinem Leben unheimlich viel gelesen. Vor allem im Studium habe ich Bücher gefressen. Vielleicht war da auch das Bedürfnis, einiges von dem nachzuholen, was früher nicht da war.

Was haben Sie besonders gerne gelesen?

Ich habe am Gymnasium Thomas Mann gelesen, vermutlich die Buddenbrooks. Ich habe nicht in Erinnerung, dass man’s mit Begeisterung aus der Hand gelegt hätte, sicher auch, weil man schon wusste, daraus wird eine Klassenarbeit. Ich habe Thomas Mann dann zu Studienzeiten wiederentdeckt, und er ist eine Leidenschaft geblieben – auch wenn ich mich heute eher kreuz und quer durch Neuerscheinungen lese.

Haben Sie manchmal im Leben so eine Unsicherheit behalten, weil Sie diesen akademischen Hintergrund nicht hatten und das Gefühl, ich komme mit meinen Kenntnissen, mit dem was mir mitgegeben worden ist, nicht ganz mit?

Ich weiß nicht ob’s Unsicherheit ist – aber mir ist die Haltung geblieben, dass ich mir die Dinge sorgfältig erarbeite. Wenn ich öffentliche Auftritte habe, nehme ich die Vorbereitung ernst. Ich will mich nicht darauf verlassen, dass es die Funktion, die Institution oder das Auftreten irgendwie schon retten werden. Ich spüre den Ehrgeiz oder die Selbstverpflichtung, zu wissen, wovon ich rede, die Details zu kennen. Vielleicht hat das was mit dem Bildungsweg zu tun, es ist jedenfalls eine antrainierte Haltung.

Nicht weit entfernt von Brakelsiek ist ein anderer großer Aufsteiger aufgewachsen, Gerhard Schröder, er musste noch härter kämpfen als Sie. Haben Sie aufgrund der Gemeinsamkeiten in der Biographie eine besondere Verbundenheit – etwas, das sich nur Menschen erschließt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben?

Bevor ich auf Gerhard Schröder komme, vielleicht noch etwas Naheliegenderes: Meine Frau kommt aus einer ganz ähnlichen Familie, der Vater war auch Tischler, wurde dann Stahlbauschlosser, die Mutter ist auf einem Butterwagen gefahren – ein besonders eingerichteter VW-Bulli, aus dem sie auf den Dörfern Butter, Brot und Gemüse verkaufte. Ich habe mich manchmal gefragt: Sind die ähnlichen Biographien auch ein Grund dafür, dass man zusammenkommt, dass man sich erkennt? Ich glaube, es hat damit etwas zu tun. Ob das jetzt auch bei politischen Begegnungen der Fall ist? Da bin ich unsicherer. Gerhard Schröder und ich sind uns in der Region nie begegnet, weil er eine Generation älter ist. Aber es gab diese landsmannschaftliche Nähe und biografische Berührungspunkte, die dazu geführt haben, dass wir eng zusammengearbeitet haben. Da sind möglicherweise Botschaften in Haltungen, in der Sprache, die Menschen mit ähnlichen Biographien schneller verstehen, die leichter Vertrauen wachsen lassen.

Ich gehe noch mal zurück auf Ihrem Bildungsweg. Wissen Sie noch, welchen Notenschnitt Sie im Abitur hatten?

Nicht genau, es war kein herausragendes Abitur. Aber eins, mit dem man studieren konnte.

Ihr Herz schlug damals für die Vorstellung, Sie würden einmal Sportjournalist oder Architekt werden. Aber dann wählten Sie ein Brot-und-Butter-Studium, so haben Sie es mal bezeichnet: Jura. Warum sind Sie nicht Ihren Träumen nachgegangen?

Weil es die Entscheidung für das Brot-und-Butter-Studium war. Wer Jura studiert, weiß zwar noch nicht, ob er Anwalt wird oder Staatsanwalt oder Richter, aber irgendwas davon wird’s werden. Ich bereue die Entscheidung nicht! Ein befreundeter Architekt hat mir später mal gesagt: Sei froh, dass Du nicht von der Architektur leben musst, so lässt sich die Liebe zur Architektur leichter pflegen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Mitte) während seiner Studienzeit an der Universität Gießen

Haben Sie gerne studiert?

Ja, weil ich vieles miteinander verbinden konnte – das juristische Handwerk, Verfassungsgeschichte, Staatstheorie. Zusätzlich sind wir rüber in die Politikwissenschaften, um in Fragen der politischen Theorien auf dem Laufenden zu sein. Wäre mir die Politik nicht in die Quere gekommen, wäre ich wahrscheinlich in der Wissenschaft geblieben.

Haben Sie BAföG bezogen?

Ja, und das war von riesiger Bedeutung! Es gab um die 500 D-Mark, erinnere ich mich. Das Ergebnis einer Bildungspolitik, die dazu beitrug, dass Kinder aus Familien wie der meinen überhaupt den Weg zum Gymnasium gefunden haben. Für mich war das BAföG die entscheidende Unterstützung. Meine Eltern hätten die Last alleine nicht tragen können. Und dann habe ich in den Ferien in einer Möbelfabrik gearbeitet und 3,50-Meter-Schränke mit Nussbaumfurnier zusammengeschraubt. Die hatten die damals so beliebten Barfächer – die habe ich mit Hingabe eingebaut. (lacht)

Aufstiegsgeschichten wie Ihre oder wie die von Gerhard Schröder oder die des ehemaligen Bahn-Chefs Rüdiger Grube – sind die heute eigentlich noch denkbar? Leute, die aus kleinsten Verhältnissen kommen und es ganz nach oben geschafft haben?

Es gibt ja eine Diskussion darüber, ob es sozialen Aufstieg in diesem Lande noch gibt. Das lässt sich nicht so ganz einfach beantworten. Ich habe in meiner Familie solch einen Aufstieg geschafft mit Abitur und Studium. Meine Frau über den zweiten Bildungsweg auch. Unsere Tochter kann ihn nicht mehr machen, sie ist schon Tochter von Akademikereltern – und so geht es vielen. Manche Eltern begreifen es als Abstieg, wenn ihr Kind kein Abitur macht. Ich finde: Chancengleichheit in einer Gesellschaft ist erst dann hergestellt, wenn nicht nur die Kinder aus Familien wie meiner Abitur machen können, sondern wenn es auch nicht als Unglück begriffen wird, wenn Kinder aus Akademikerfamilien eine Ausbildung machen. Es gibt auch heute begeisternde Aufstiegsbiographien, nicht nur, aber auch bei Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Bildungsbiographien müssen wir fördern, wo immer es geht.

75 Prozent der Kinder von Akademikern gehen an die Universität, aber nur 21 Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien. Warum gibt es diese Schere noch?

Es ist uns bislang nicht gelungen, die unterschiedlichen Startbedingungen auszugleichen. Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund gehen zum Beispiel seltener in die Kita. Wir brauchen mehr Ganztagsschulen. Im Vergleich zu anderen Ländern, zu Frankreich etwa, haben wir Nachholbedarf. Für mich ist klar: Schule ist der zentrale Ort der Gesellschaft.

Wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen, gibt es da auch ein Gefühl der Dankbarkeit?

Ich habe dieses Gefühl nicht nur manchmal, sondern immer wieder. Wissen Sie, ich schaue doch nicht auf mein Leben zurück und klopfe mir auf die Schulter. Ich habe viel Glück gehabt und viel Unterstützung, ich habe Menschen getroffen, die mir Mut gemacht haben, an Weichenstellungen die richtige Entscheidung zu fällen und mir selbst zu vertrauen.

Haben Sie in Brakelsiek etwas fürs Leben gelernt, was Ihnen immer wieder geholfen hat?

Auch das Dorf ist nicht die reinste Idylle. Vor Verklärung der fünfziger oder sechziger Jahre sollten wir uns hüten. Aber: Das war keine Gesellschaft, die von Neid und Hader geprägt war, die Einkommensunterschiede waren gering, gemeinsame Aktivitäten zahlreich – von Festen bis zum Turnhallenbau, es war selbstverständlich, mit anzupacken. Das hat mich geprägt in meinem Blick auf andere Menschen, auch auf die, die möglicherweise nicht Glück und Ermutigung an den richtigen Stellen erfahren haben. Für diese Bodenständigkeit, die jedes Überfliegertum und manche Wolkenschieberei verhindert, ist damals der Grund gelegt worden.


Die Fragen stellte: Giovanni di Lorenzo