Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz

Schwerpunktthema: Interview

30. Juni 2021

Der Bundespräsident hat der israelischen Tagesszeitung Haaretz ein Schriftinterview gegeben, das am 30. Juni veröffentlicht wurde: "Ein palästinensischer Staat und die Festlegung territorialer Grenzen können erst durch direkte Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern erreicht werden. Aber Deutschland respektiert die Unabhängigkeit der Justiz des Internationalen Strafgerichtshofs und seiner Anklagebehörde."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Der Bundespräsident hat der israelischen Tagesszeitung Haaretz ein Schriftinterview gegeben, das am 30. Juni, dem ersten Tag des Staatsbesuchs des Bundespräsidenten in Israel, veröffentlicht wurde.

Sie gelten als großer Freund Israels. Deutschland bringt immer wieder seine Unterstützung für das Recht Israels auf Selbstverteidigung zum Ausdruck. Der Chefankläger des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag hat kürzlich die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens wegen Kriegsverbrechen angekündigt, die Israel angeblich im Westjordanland und im Gazastreifen begangen hat. Wie bewerten Sie diese Entwicklung? Ist dies ein legitimes und angemessenes Vorgehen seitens der internationalen Gemeinschaft, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, oder ein politisches Manöver, um das palästinensische Narrativ zu bedienen?

Ich weiß, wie sensibel diese Frage in Israel ist. Erlauben Sie mir deshalb eine grundsätzliche Bemerkung, bevor ich Ihre konkrete Frage beantworte. Deutschland lebt mit dem geschichtlichen Erbe einer schrankenlos missbrauchten politischen Macht in der Nazizeit. Deshalb stehen wir dem Aufbau einer internationalen Ordnung, wie sie in den Vereinten Nationen und auch dem Internationalen Strafgerichtshof zum Ausdruck kommt, erst einmal grundsätzlich positiv gegenüber. Aus unserer eigenen Erfahrung soll das Recht der Macht Schranken setzen. Israel wiederum hat in vielen verschiedenen Zusammenhängen mit den Vereinten Nationen und ihren Organisationen Diskriminierung und Druck erfahren und deshalb auch einen sehr viel skeptischeren Blick. Es traut sich selbst sehr viel mehr als internationalen Organisationen.

Was nun Ihre konkrete Frage der Aufnahme von Ermittlungen angeht: Nach Auffassung der deutschen Regierung ist der Internationale Strafgerichtshof in dieser Sache aufgrund fehlender Staatlichkeit von Palästina nicht zuständig. Ein palästinensischer Staat und die Festlegung territorialer Grenzen können erst durch direkte Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern erreicht werden. Aber Deutschland respektiert die Unabhängigkeit der Justiz des Internationalen Strafgerichtshofs und seiner Anklagebehörde. Es obliegt dem neuen Chefankläger Karim Khan, im Rahmen der für seine Tätigkeit geltenden rechtlichen Grundlagen zu entscheiden, wie das Ermittlungsverfahren fortgesetzt wird.

Als deutscher Außenminister haben Sie eine Schlüsselrolle beim Atomabkommen mit dem Iran gespielt. Erst kürzlich ist ein Extremist zum neuen Präsidenten Irans gewählt worden, und das Regime lässt keine Bereitschaft erkennen, sein Kernwaffenprogramm fallen zu lassen. Israel hat sich mit Nachdruck gegen eine Rückkehr zu einem Abkommen mit dem Iran ausgesprochen. Waren die Sorgen in Israel, rückblickend betrachtet und angesichts der Tatsache, dass der Iran an seinen Plänen festhält, begründet? Sollten die Vereinigten Staaten dem Abkommen wieder beitreten?

Natürlich sind Israels Sorgen um die Bedrohung durch einen nach Atomwaffen strebenden Iran berechtigt. Diese Sorgen waren mir in den vielen Jahren schwieriger Verhandlungen mit dem Iran immer gegenwärtig. Und ich habe darüber mit Israel zahlreiche Gespräche geführt, zuletzt mit Präsident Rivlin und dem israelischen Generalstabschef in Berlin vor wenigen Wochen. Deutschland und Israel haben mit Blick auf den Iran dasselbe strategische Ziel: Iran darf nicht in den Besitz von Atomwaffen kommen. Und wir wollen auch das iranische Raketenprogramm und seine destabilisierenden Aktivitäten in der Region begrenzen. Über den besten Weg zu diesem Ziel mögen unsere Ansichten nicht immer dieselben sein. Aber wir glauben, dass eine Erneuerung des JCPoA der beste Weg ist, um dem Iran den Weg zur Bombe nachweislich und überprüfbar zu versperren. Dazu finden derzeit intensive und alles andere als einfache Verhandlungen statt, an denen die neue US-Regierung beteiligt ist. Ich hoffe, dass sie zum Ziel führen, im Interesse Deutschlands und Israels.

Während der Konfrontation mit der Hamas im vergangenen Mai fanden überall in Deutschland pro-palästinensische Demonstrationen statt, hauptsächlich von muslimischen Einwanderern, wobei Synagogen angegriffen und israelische Fahnen verbrannt wurden. Trägt Ihrer Meinung nach die Einwanderung von Muslimen zum Hass auf Israel bei und beeinflusst sie die öffentliche Meinung in Deutschland? Was sollte die Regierung dagegen unternehmen?

Diese antisemitischen Attacken waren abscheulich und meine Reaktion ist deshalb unmissverständlich: Judenhass – ganz gleich von wem – wollen und werden wir in unserem Land nicht dulden. Nichts rechtfertigt die Bedrohung von Jüdinnen und Juden in Deutschland oder Angriffe auf Synagogen in deutschen Städten. Unsere Verfassung garantiert das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Wer aber auf unseren Straßen Fahnen mit dem Davidstern verbrennt und antisemitische Parolen brüllt, der missbraucht nicht nur die Demonstrationsfreiheit, sondern der begeht Straftaten, die verfolgt werden müssen.

Die ganz überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland will in Frieden und Sicherheit leben. Sie teilt diesen Wunsch mit der großen Mehrheit der Menschen bei uns im Land. Gegen extremistische Gruppen aber gehen wir mit der gebotenen Härte des Rechtsstaates vor. Wo die Gesetze bisher nicht greifen, sind Verschärfungen angestoßen worden. Die Regierungsfraktionen haben beispielsweise eine Ergänzung im Strafgesetzbuch. Die Fahne der extremistischen Palästinenserorganisation Hamas ist danach in Deutschland künftig verboten. Außerdem wird es möglich sein, das Verbreiten von Propaganda und das Verwenden von Kennzeichen terroristischer Organisationen unter Strafe zu stellen, die auf der sogenannten EU-Terrorsanktionsliste stehen. Dazu gehört auch die Hamas.

Die Alternative für Deutschland (AfD) ist in den letzten Jahren stärker geworden, und ihre extremistischen Positionen werden von breiten Bevölkerungsschichten geteilt. Sind Sie besorgt über den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland? Was tun die Behörden zur Bekämpfung dieses Phänomens?

Ja, das macht mir Sorgen. Im Jahr 2020 hat es mehr als 2.300 antisemitische Straftaten gegeben, ein Anstieg um 15 Prozentpunkte zum Vorjahr. Nach dem entsetzlichen Anschlag auf die Synagoge in Halle ist der Schutz der Polizei für jüdische Einrichtungen noch einmal erhöht worden. Doch auch antisemitische Hassreden und Übergriffe im Alltag müssen unsere volle Aufmerksamkeit finden. Die Innenminister von Bund und Ländern wollen deshalb das Strafmaß bei antisemitischen Straftaten hochsetzen. Israelfeindliche Versammlungen an Synagogen sollen verboten werden können. Außerdem soll genauer erforscht werden, aus welchen Motiven die Täter handeln. Das ermöglicht eine bessere Prävention, für die sich neben den Innenministern auch der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus stark macht. Ich persönlich werde nicht nachlassen, die verantwortlichen staatlichen Stellen an ihre Aufgabe zu erinnern. Zugleich ermutige ich die Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit einsetzen. Wo die jüdische Gemeinschaft bedroht ist, müssen wir entschlossen an ihrer Seite stehen.

Sie besuchen Israel, um Präsident Rivlin am Ende seiner Amtszeit die Ehre zu erweisen. Die enge und persönliche Beziehung zwischen Ihnen beiden während dieser Jahre blieb niemandem verborgen. Können Sie eine oder zwei Begebenheiten aus Treffen mit Präsident Rivlin schildern, die diese Verbundenheit zum Ausdruck bringen?

Freundschaft wächst über die Jahre und über viele Begegnungen. Aber ich werde mich immer an mein erstes Treffen mit Präsident Rivlin erinnern. Im Mai 2017 bei meinem ersten Besuch als Bundespräsident in Israel. Wir trafen uns abends im lebendigen Mahane-Yehuda-Markt in Jerusalem, er gemeinsam mit seiner Frau Nechama, ich mit meiner Ehefrau Elke. Wir sprachen über Fußball und das Leben, erst am nächsten Tag auch über Politik. Unvergessen bleibt mir zudem Ruvi Rivlins Einladung, im Januar 2020 als erster deutscher Bundespräsident eine Rede in Yad Vashem halten zu dürfen. Diese große Geste war für mich Ausdruck seines Vertrauens mir, aber auch meinem Land gegenüber. Ein Vertrauen, das mir an jenem Tag im Januar 2020 Bürde und Geschenk zugleich war. Innerhalb weniger Tage haben wir dann gemeinsam in Jerusalem, Auschwitz und Berlin des 75. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers gedacht. Das ist es, was uns beide politisch tief verbindet: Die Erinnerung als Inspiration für eine bessere Zukunft lebendig zu halten und fruchtbar zu machen.

Ihr Besuch findet nur wenige Wochen nach der Bildung einer neuen Regierung in Israel statt. Planen Sie auch ein Zusammentreffen mit Premierminister Bennett während dieses Besuchs? Erwarten Sie von der neuen Regierung eine Friedensinitiative in Richtung der Palästinensischen Behörde?

Mein Besuch war seit langem geplant und musste mehrfach wegen der Pandemie verschoben werden. Nun fällt er mit dem Beginn eines neuen politischen Kapitels in Israel zusammen. Ich freue mich sehr darauf, einen ersten Eindruck der neuen politischen Akteure in Israel zu bekommen. In meinen Treffen mit Premierminister Bennett und Außenminister Lapid wird es neben deutsch-israelischen Themen natürlich auch um den israelisch-palästinensischen Konflikt gehen. Die dramatische Gewalteskalation im Mai hat wohl allen eindrücklich vor Augen geführt, dass dieser Konflikt nicht verschwindet und nicht ignoriert werden kann. Auch wenn dieser Satz in vielen Situationen bemüht wird: Eine gute Zukunft gibt es nicht ohne eine politische Lösung. Die deutsche Regierung hält eine verhandelte Zweistaatenlösung nach wie vor für den besten Weg zu einer friedlichen Zukunft. Aber zunächst einmal scheint mir wichtig, dass zwischen der neuen israelischen Führung und der palästinensischen Seite Vertrauen aufgebaut wird. Der Weg zu einer Wiederaufnahme des direkten Dialogs über die großen Fragen führt über kleine Schritte und konkrete Zusammenarbeit.

Die Fragen stellte: Jonathan Lis