Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem ZDF ein Interview gegeben, das am 4. Juli gesendet wurde.
Nie hat sich ein Bundespräsident ohne erkennbare Mehrheit selbst für eine zweite Amtszeit beworben, vorgeschlagen. Union und Grüne haben ja relativ zurückhaltend reagiert, sie wollten das nicht in den Wahlkampf ziehen.
Ich auch nicht, deshalb habe ich mich jetzt erklärt.
Aber warum Ihr Vorpreschen? Hatten Sie Sorge, dass Sie vielleicht nach der Wahl nicht mehr gefragt werden?
Nein, das ist gar kein Vorpreschen. Wenn Sie mal zurückschauen auf die letzten Bundespräsidenten und den Zeitpunkt Ihrer Erklärung, so war das ungefähr ein Jahr, anderthalb Jahre vor dem Ende einer Amtszeit –...
Aber mit Mehrheiten im Rücken.
... in der Lage sind wir auch ungefähr. Wir sind jetzt weniger als ein Jahr vor der Wahl am 13. Februar. Und ich meine, dann kommt hinzu, Herr Koll, ganz ehrlich: Viele haben mich gefragt. Dazu gehören auch viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen. Ich habe ein dreiviertel Jahr lang immer gesagt, während der Corona-Zeit werde ich dazu nichts sagen. Ich glaube, es war jetzt der richtige Zeitpunkt, diese Frage zu beantworten. Natürlich habe ich mir die Frage vorgelegt, was können die positiven Gesichtspunkte sein, die man auch der Öffentlichkeit gegenüber ins Feld führen kann? Und da gehört zunächst mal dazu, dass ich sage, für mich ist das jeden Tag eine Ehre, eine Freude, natürlich auch jeden Tag immer wieder eine neue Herausforderung, der mich gerne stelle. Und ich würde jetzt gerade mit Blick auf eine hoffentlich zu Ende gehende Pandemie die Brücke in eine Zukunft nach der Pandemie mit schlagen helfen.
Aber nutzen Sie damit nicht Ihren eigenen Amtsbonus? Denn jeder andere Bewerber, jede andere Bewerberin muss ja jetzt im Grunde quasi gegen den amtierenden Präsidenten antreten.
Das wäre sowieso der Fall gewesen, mit oder ohne meine Erklärung. Aber deshalb habe ich meine Erklärung auch mit diesem Inhalt abgefasst. Ich habe gesagt, ich erkläre mich und sage damit der Öffentlichkeit, was ich zu sagen habe – weil ich glaube, die Öffentlichkeit hat auch ein Anrecht darauf, zu wissen, wo ihr Präsident steht in der Frage einer zweiten Amtszeit –, habe aber dazugesagt: Natürlich weiß ich, dass das jetzt eine Sondersituation ist. Es kommt selten vor, dass unmittelbar vor der Präsidentenwahl eine Bundestagswahl stattfindet. Natürlich ist die Bundestagswahl für die Parteien jetzt die wichtigere, und deshalb habe ich allen Parteivorsitzenden, die ich kurz vor meiner öffentlichen Erklärung angerufen habe, mit ihnen gesprochen habe, gesagt: Ich erwarte jetzt von euch gar keine abschließende Positionierung. Ich weiß, dass ihr euch alle aufstellt für die Bundestagswahl. Alles andere sehen wir später. Und alles andere liegt dann auch nicht mehr in meiner Hand.
Einige haben Sie ja unterstützt. Wolfgang Kubicki von der FDP hatte das Argument, da wahrscheinlich die SPD nicht mehr in der nächsten Regierung sein wird, seien Sie im Grunde das Symbol für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wäre das etwas für Ihre Bewerbungsmappe?
Es könnte ja sogar sein, dass Herr Kubicki und viele andere etwas von diesem Bundespräsidenten halten und sich wünschen, dass er im Amt bleibt. Aber wissen Sie, das ist eine ganz offene Frage. Es wird sicherlich im Verlaufe dieses Halbjahres auch noch thematisiert werden: Müsste es nicht eine Frau sein? Und da kann ich auch nur sagen: Ich kann nur als der kandidieren, der ich bin. Ich bringe das mit, was man von mir kennt, und das wird entweder wertgeschätzt oder nicht wertgeschätzt. Aber die Kriterien, nach denen die Bundesversammlung am 13. Februar entscheidet, entscheidet allein die Bundesversammlung. Ich kann nur sagen, warum ich antrete. Und ich kann nur sagen, was ich mitbringe. Alles andere liegt in den Händen des Wahlgremiums.
Dann schauen wir auf Corona und was in der Folge da auf uns zukommt. Sie haben das Thema Demokratie und Spaltung ja sehr stark betont. Ich darf Sie mal zitieren: "Lassen wir nicht zu, dass das Virus unsere Gesellschaft spaltet." Das haben Sie schon im November angemahnt. Umgesetzt wurde das aber in der Gesellschaft offensichtlich wenig. Über 60 Prozent der Deutschen befürchten aktuell sogar eine zunehmende Spaltung. Versagt die Politik bei dieser Aufgabe?
Nein, ich glaube, die Politik hat nicht versagt. Und wenn wir heute versuchen, ein Resümee der Pandemiezeit zu ziehen, dann kommen wir, glaube ich, ja nicht zu einem ganz einheitlichen Bild. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, dass wir in Deutschland gescheitert sind. Wir sind sicherlich nicht Weltmeister bei der Pandemiebekämpfung, aber wir sind mit ganz großer Sicherheit auch nicht Klassenletzter. Wenn ich einen gerechten Blick auf die letzten fünfzehn, sechzehn Monate werfe, so kann man doch zum Einen sagen: Es war der erste Impfstoff, der in Deutschland entwickelt worden ist. Wir haben ein Gesundheitssystem erlebt, das unter hohem Stress stand und trotzdem der Belastung standgehalten hat. Wir haben eine Wirtschaft erlebt, die in tiefster Krise – Minuswachstum – war, trotzdem ist die Arbeitslosigkeit nicht signifikant gestiegen. Das hat alles was auch mit Politik und auch mit Bundes- und Landesregierungen zu tun. Aber ich sage – einen Satz müssen Sie mir noch erlauben, weil ich nämlich sagen muss: Natürlich spielen nicht Politik und Regierungen allein die Rolle. Es sind vor allen Dingen die vielen Ärzte, Ärztinnen, Pfleger, Pflegerinnen; LKW-Fahrer, die Supermärkte bedient haben, die das Leben am Laufen gehalten haben; Müllwerker, Verkäuferinnen in Bäckereien und Fleischereien; alle die waren wichtig. Und deshalb lassen Sie mich zu Anfang einmal sagen: Denen müssen wir jeden Tag immer noch dankbar sein.
Ja. Und dennoch hat dieses berühmte Brennglas der Pandemie ja viele Defizite aufgedeckt und verstärkt.
Natürlich.
Nicht nur die Digitalisierung des Bildungssystems, soziale Ungleichheit usw. Wenn man sich jetzt die sehr vorsichtigen Wahlprogramme der Parteien anschaut: Haben wir nicht ausreichend gelernt aus dieser Krise?
Man kann sich Fehler einfacher verzeihen, wenn man Lehren aus den Fehlern zieht. Und deshalb hoffe ich sehr, dass das, was wir erlebt haben – und Sie haben völlig Recht, diese Pandemie hat auch Defizite, Schwächen in unserer Gesellschaft schonungslos offengelegt – deshalb hoffe ich sehr, dass das, was wir erlebt haben, nicht nur im Kurzzeitgedächtnis abgelagert oder gar vergraben wird, sondern dass wir von heute aus langfristig denken. Und ich sehe, dass Sie zwei Punkte angesprochen haben, von denen ich wirklich glaube, dass wir an vielen Stellen jedenfalls den Erwartungen der Bevölkerung überhaupt nicht Rechnung getragen haben. Ich denke zuallererst an Schülerinnen, Schüler und ihre Eltern. Ich weiß um viel Verzweiflung, die es zu Hause gegeben hat bei denen, die nicht wussten, wie sie in der kleinen Wohnung und ohne die technischen Voraussetzungen eigentlich Unterricht aufrechterhalten können. Es gab viele Schulen, die hatten Schwierigkeiten, mit der Infrastruktur, die sie hatten, umzugehen. Manche hatten die notwendige technische Infrastruktur gar nicht. Also wenn ich auf das Digitale schaue – ich komme gerade aus Israel –, da sind wir, was die Ausstattung öffentlicher Verwaltungen, gerade Schulen angeht, deutlich zurück.
Aber schauen wir mal auf die gesellschaftlichen Herausforderungen, die jetzt auf uns zukommen. Sie haben davon gesprochen, dass die Gesellschaft vor einem Wendepunkt steht. Das ist ja mehr als ein paar Reformen hier und da. Müssen wir im Grunde sehr viel stärker verändern, als wir uns das bisher klargemacht haben?
Wir werden uns ganz stark verändern müssen, auch wegen eines Themas, auf das wir gleich noch zurückkommen werden hier mit Blick auf einen völlig zerstörten Fichtenwald: auf das Thema Klimaschutz. Wenn wir alles zusammennehmen, Herr Koll, wenn wir die Folgen der Pandemie sehen, wenn wir die Notwendigkeit einer effektiven Klimaschutzpolitik sehen, wenn wir das gleichzeitig im Zeitalter einer dynamischen Digitalisierung sehen, dann wird vielleicht deutlich, dass da etwas auf uns zukommt, von dem ich fest überzeugt bin, dass wir es alle miteinander gegenwärtig noch unterschätzen. Das ist eine Transformation einer Gesellschaft, gerade wenn ich Klimaneutralität als das oberste Ziel in Aussicht nehme, wenn das nicht nur 2050, sondern sogar schon 2045 erreicht worden sein soll, das geht an keinem Bereich der Gesellschaft vorbei – Wohnen, Bauen, Mobilität, Autofahren, Schule, Landwirtschaft, Zukunft des ländlichen Raumes. Alles das unterschätzen wir, glaube ich, in der Dynamik der Veränderung, die vor uns liegt. Und deshalb haben Sie recht, da ist viel Mut erforderlich für diejenigen, die nach dem September Regierungsverantwortung übernehmen.
Es gibt ja das berühmte Bild von dem Frosch, der im Wasserglas sitzt, und das Wasser wird nur langsam erwärmt und deswegen springt er nicht raus, weil es eben nur langsam wärmer wird. Und am Ende ist es zu spät. Verhalten wir uns in der Klimakrise im Moment noch ähnlich, und müsste der Bundespräsident da den Parteien nicht die Leviten lesen?
Na, ich habe jetzt verschiedene Male in meiner Amtszeit auch zu der Möglichkeit einer öffentlichen Rede gegriffen. Auch Ostern vergangenen Jahres in der Pandemiekrise, als ich den Eindruck hatte, wir werden schon zu leichtfertig. Insofern muss man von dieser Möglichkeit sparsam Gebrauch machen. Wir sind jetzt, was Klimaschutz angeht, glaube ich, nicht in einem Erkenntnisproblem. Wir müssten nicht mehr wissen, um der Meinung zu sein, man muss etwas tun, um die Erderwärmung zu verlangsamen, zu stoppen. Aber ich glaube, es ist doch etwas anderes, was an Schwierigkeit auf uns zukommen wird. Die Isländer, die unter Vulkanismus und zurückgehenden Gletschern, die sind beim Klimaschutz ganz vorn – die sagen, das Schwierige ist das strategische Dreieck effektiver Klimaschutz, funktionierende Wirtschaft und Zusammenhalt der Gesellschaft. In diesem Dreieck wird sich Politik bewegen müssen und in diesem Dreieck immer wieder die entscheidenden Weichenstellungen für Klimaneutralität erreichen müssen, ohne die Gesellschaft auf diesem Weg zu verlieren. Das ist das Anspruchsvolle.
Ich würde gerne hier mal einen Schlusspunkt setzen für das Thema und gerne mit Ihnen einmal auf den Wahlkampf schauen, auf den aktuellen. Olaf Scholz wird aktuell vorgeworfen, sein Ministerium für ein SPD-Steuerkonzept eingespannt zu haben. Gegen Frau Baerbock gibt es fast täglich Vorwürfe – offensichtlich wurden da Plagiatsjäger angefragt, ob sie gegen sie recherchieren können. Sind wir auf dem Weg zu einer Schlammschlacht im Wahlkampf? Und ab wann und wie würden Sie als Bundespräsident da einschreiten?
Ich will da jetzt überhaupt nicht verharmlosen, aber, Herr Koll, Sie wissen, nach so 25 Jahren in der Politik hat man das eine oder andere in Wahlkämpfen – auch als Betroffener – erlebt, und deshalb weiß ich, dass das Klima in Wahlkämpfen rauer ist als zu Zeiten außerhalb von Wahlkämpfen. Ich habe Sorge, dass es eine Schlammschlacht werden könnte; zum gegenwärtigen Zeitpunkt, glaube ich, ist es noch nicht der Punkt, an dem der Bundespräsident öffentlich mahnen muss.
Aber das würden Sie?
Das, glaube ich, wissen die Menschen von mir. Ich habe mich oft genug geäußert, dass eine Voraussetzung funktionierender Demokratie ist, dass man Maß und Vernunft walten lässt. Und das gilt auch in Wahlkämpfen. Die wahlkämpfenden Parteien sind immer wieder daran zu erinnern: Gerade in der deutschen Demokratie, die wegen des Wahlsystems auf Koalitionen angewiesen ist, muss man bei jedem Wort, bei jedem Satz daran denken, dass man möglicherweise hinterher wieder gemeinsam am Tisch sitzen muss und diese Verantwortung gemeinsam tragen muss.
Darf ich kurz den Blick weiten auf Europa? Einer der Gründungsväter Europas, Jean Monnet, hat ja gesagt: Europa wird in Krisen geschmiedet. Haben wir in der zurückliegenden Coronakrise Europa eher eingeschmolzen oder kleingeschmolzen als es geschmiedet?
Es ist nicht einfacher geworden. Und der Satz, dass Europa aus jeder Krise größer herausgewachsen ist, stärker herausgewachsen ist, den Satz würde ich im Augenblick auch nicht bestätigen wollen. Was den Blick auf Europa angeht, glaube ich, ist das Bild ein, sagen wir vorsichtig, gemischtes. Ich finde, nach den ersten Wochen vergangenes Jahr, noch vor Ostern, in der wir eine Weile lang sehr nationale Reflexe erlebt haben, in der jedes Land für sich alleine agieren wollte, hat es danach eigentlich ein erstaunliches Maß an europäischer Solidarität gegeben, was sich andere Regionen dieser Welt wünschten. Ich glaube auch, dass es richtig war, den Weg zu gehen, die Impfstoffe europäisch zu bestellen. Aber europäisch heißt dann auch, dass 27 Länder am Tisch sitzen und mitreden wollen über die Frage: Wie viele Dosen brauchen wir, zu welchem Preis kaufen wir ein? Das ist eher die Schwierigkeit, und deshalb sage ich immer, seid vorsichtig mit dem Verweis auf Brüssel. Es sind immer auch die Mitgliedsländer, die mit am Tisch sitzen.
Passt ja insgesamt in einen Trend der Renationalisierung. Wir sehen, seit wenigen Tagen ist der slowenische Ministerpräsident neuer EU-Ratspräsident. Ein Mann, der ja ganz offen viele Grundwerte der Union verachtet oder missachtet. Teilen Sie die Sorge, dass die Pandemie auch zu Demokratierückschritten in Europa geführt hat?
Dass sie in Europa zu Demokratierückschritten geführt hat, glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass die Einstellung der gegenwärtigen slowenischen Regierung sehr viel mit innerslowenischen Ereignissen zu tun hat. Wenn ich nach Ungarn schaue zum Beispiel, wo wir viele Opfer in der Pandemie zu beklagen hatten, wo die Suche nach Sündenböcken sehr schnell begonnen hat und einer der Sündenböcke jetzt Europa heißen soll, da sieht man ungefähr, auf welche Kosten das geschieht. Europa wird der Leidtragende aus der Sicht der ungarischen Bevölkerung sein. Ich hoffe nicht, dass das in Slowenien einen ähnlichen Weg geht. Ich bin viele Male dagewesen – ein wunderschönes Land mit einer pro-europäischen Bevölkerung. Und ich hoffe, dass die Regierung, dass der Ministerpräsident sich in dieser Stunde seiner Verantwortung für dieses Europa sehr bewusst ist.
Herr Bundespräsident, am Schluss zurück zum Anfang Ihrer Amtszeit. Vor vier Jahren haben Sie die SPD überzeugt, erneut in der GroKo mitzumachen. Heute ist die SPD kaum noch größer als die FDP. War die damalige Entscheidung staatspolitisch richtig, aber mit einem sehr hohen Preisschild für Ihre Partei?
Ich glaube, es hat sich damals keine der an den Gesprächen beteiligten Parteien einfach gemacht, insbesondere auch die SPD nicht. Die wusste, dass das auch eine Last sein kann, erneut in die Regierungsverantwortung zu gehen. Ich ziehe das Bild jetzt mal etwas größer und sage: Das, was das Glück der deutschen Demokratie ausmacht, was ihr Gelingen immer wieder bestätigt hat, ist die Tatsache, dass Parteien auch in der Lage waren – Parteien und ihre Parteiführer –, über ihren Schatten zu springen und Verantwortung, die man vielleicht nicht gern genommen hat, aber dann doch auf sich zu nehmen. Das wird auch weiterhin Voraussetzung für eine gelingende Demokratie in unserem Lande sein.
Herr Bundespräsident, herzlichen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte: Theo Koll