Interview mit dem Fernsehsender Saarländischer Rundfunk (SR)

Schwerpunktthema: Interview

8. März 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Saarländischen Rundfunk während seiner "Ortszeit Völklingen" ein Interview gegeben, das am 8. März im Regionalfernsehen ausgestrahlt wurde: "Wir befinden uns jetzt in einer Zeit, in der neue Herausforderungen bestehen, nämlich die Anpassung der Stahlproduktion an die Voraussetzungen und Forderungen des Klimawandels, des Kampfs gegen den Klimawandel, denen die Stahlproduktion Rechnung tragen muss. Deshalb glaube ich, ist es jetzt der richtige Zeitpunkt, um hier zu sein."

Bundespräsident Steinmeier im Gespräch mit Armgard Müller-Adams vom Saarländischen Rundfunk in der Völklinger Hütte

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Saarländischen Rundfunk während seiner Ortszeit Völklingen ein Interview gegeben, das am 8. März im Regionalfernsehen ausgestrahlt wurde:

Herzlich willkommen im Weltkulturerbe Völklinger Hütte. Hier wurde über Jahrzehnte Stahl geschmolzen, es ist ein ganz besonderer Ort. Die Werbung sagt uns immer wieder, einer der spannendsten Orte der Welt und wir begrüßen auch einen ganz besonderen Gast: Frank-Walter Steinmeier, den Bundespräsidenten. Schönen gute Abend.

Ich grüße Sie beide. Schönen guten Abend.

Hier wurde früher hart gearbeitet. Heute ist drinnen im Weltkulturerbe ein Museum. Und draußen in der Stadt Völklingen liegt die Arbeitslosequote bei 11,5 Prozent, weit über dem Bundesdurchschnitt, und noch dazu ist die Stadt Völklingen hoch verschuldet. Was kann ein Bundespräsident in einer solchen Stadt in drei Tagen überhaupt ausrichten?

Ich glaube nicht, dass er in den drei Tagen furchtbar viel ausrichten kann. Aber worum es mir hier geht ist, dass wir die Aufmerksamkeit auf Orte wie Völklingen richten. Mit anderen Worten: die Aufmerksamkeit auf Orte und Probleme richten, die vielleicht nicht Gegenstand der täglichen Berichterstattung sind, aber was möglicherweise die Ursache dafür ist, dass sich viele Menschen in unserem Lande nicht gesehen oder zu wenig gesehen und gehört fühlen. Deshalb habe ich mir überlegt: Was kann ein Bundespräsident eigentlich in seiner zweiten Amtszeit ergänzen zu den Tätigkeiten, die zum Pflichtprogramm gehören? Was kann er eigentlich anbieten, um nach zwei Jahren Pandemie, in dem die Menschen nicht miteinander im Gespräch gewesen sind, die Nachbarn nicht oder kaum gesehen haben, Freunde nicht gesprochen haben; in denen keine politische Veranstaltungen stattgefunden haben – was kann ein Bundespräsident eigentlich tun? Und der Schluss daraus war, wir gehen regelmäßig raus aus Berlin, raus aus der Bundeshauptstadt, in eine Region oder in eine Stadt, von der wir wissen, sie ist vielleicht nicht das touristische Highlight, sondern das ist eine Stadt oder eine Region in der noch viel zu tun ist. Dazu gehört auch Völklingen. Ich selbst komme aus Nordrhein-Westfalen, auch ein Land in dem Kohle und Stahl eine große Bedeutung hatten, wo das Wohl und Wehe des Landes über Jahre und Jahrzehnte am Stahl und an der Kohle hingen. Und ich weiß, dass das Saarland eine ähnliche Geschichte hinter sich hat. Der Ort an dem wir hier sind spricht für die Tradition, auch für das Auf und Ab der Stahlproduktion. Wir befinden uns jetzt in einer Zeit, in der neue Herausforderungen bestehen, nämlich die Anpassung der Stahlproduktion an die Voraussetzungen und Forderungen des Klimawandels, des Kampfs gegen den Klimawandel, denen die Stahlproduktion Rechnung tragen muss. Deshalb glaube ich, ist es jetzt der richtige Zeitpunkt, um hier zu sein.

Sie waren vier Mal im Osten, einmal in Rottweil. Was waren die Parallelen zu Völklingen, was Sie im Osten erlebt haben? Und was ist hier möglicherweise anders?

Ja, auch da spricht die Auswahl dafür. Wenn Sie die Stationen bisher nochmal in Augenschein nehmen. Wir haben angefangen in Altenburg, wo Demonstrationen während der Pandemie stattgefunden haben, in einer Phase der Radikalisierung, in der man dem Bürgermeister und seiner Familie dann aus der Wohnung herauszuklingeln versucht hat. Wir haben eine Ortszeit in Freiberg gehabt, wo es ebenfalls erhebliche Kritik an der Demokratie und den demokratischen Institutionen, ihren Repräsentanten gab. Das ist etwas ganz anderes, als das was wir hier erleben. Auch die Themen sind durchaus anders. Es ist nicht so, dass über Krieg und Frieden, den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hier nicht gesprochen wird. Es war im Osten ein ständiger Schwerpunkt. Hier diskutieren wir eher die Folgen, wie die ökonomischen Folgen, die hier in Deutschland natürlich von den Bürgerinnen und Bürgern zu tragen sind, und die sich auch in der Wirtschaft niederschlagen. Also, die Themen sind unterschiedlich, die Probleme sind unterschiedlich, und es kommt für mich darauf an, dass wir möglichst viel von der Unterschiedlichkeit dieses Landes in diesen Reisen zeigen und Debatten, die wir haben, diese repräsentieren.

Nun ist Völklingen eine Stadt mit einem sehr hohen Anteil an Ausländern, an sozusagen Zugezogenen, so sagen wir hier im Saarland. Einige Stadtteile haben einen Ausländeranteil von 30 Prozent und mehr. Wenn Sie jetzt an Ihre Begegnungen in den letzten Tagen denken: Funktioniert das hier mit der Integration?

Ich glaube, das wäre zu einfach, wenn ich jetzt sagen würde, ja. Es gibt viele gelungene Beispiele. Zu meinem Programm, das ich während einer Ortszeit mache, gehört auch immer die Kaffeetafel kontrovers, wo wir sehr gezielt Menschen einladen, die auf die Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven, mit unterschiedlichen Interessen schauen. Diese Debatte hatten wir heute Nachmittag und natürlich waren Migration und Integration dort ein Thema. Wir haben viele hervorragende Beispiele erlebt, in denen gerade die Kinder der zweiten Generation, deren Eltern als Arbeitsmigranten zu uns nach Deutschland, hier ins Saarland gekommen sind. Wir haben wunderbare Beispiele erlebt, wie schnell sie sich eingefunden haben. Dass sie Karriere gemacht haben, in ihren Berufen. Aber jetzt komme ich gerade eben von den Stadtteilmüttern, die sich hier in Völklingen als Frauen, die selbst einen Migrationshintergrund haben, um diejenigen kümmern, die jetzt ankommen, die Bürgerkriegsflüchtlinge sind, die teilweise ohne eigene Schulerfahrung hier herkommen. Das zeigt uns natürlich gleichzeitig, wie schwierig und wie aufwendig es ist, hier die Menschen dauerhaft zu integrieren und ihnen eine Schulausbildung zu ermöglichen, die ihnen dann ein Gelingen auf ihrem weiteren Lebensweg möglich macht – das ist aufwendig, das ist schwierig. Mein Eindruck ist hier, dass eine Stadt wie Völklingen an Integrationsaufgaben gewöhnt ist. Man macht das mit Ehrgeiz, man macht das mit Leidenschaft, man macht das mit Geduld. Aber es ist nicht so, dass ich übersehe, dass da noch ganz viel zu tun ist. Besonders mit dem Blick auf diejenigen, die in den Jahren seit 2015/16 gekommen sind. Das haben wir auch gehört im Gespräch, etwa mit Vertretern der Arbeitsagentur, die heute auch mit am Tisch saßen.

Jetzt gibt es ja aus dem politischen Raum ein paar konkrete Forderungen. Die CDU sagt, wir wollen ein Bundesamt für Migration. Es gab vorletzte Woche von Seiten einiger Grünen-Politiker – auch um Boris Palmer – Forderungen, das Ganze ein bisschen strenger zu reglementieren, klarere Regeln einzuführen. Ist das im Moment die Zeit, wo man das festlegen kann? Wo wir so viele haben? Wie stehen sie zu diesem Thema?

Na ja, es gibt ganz unterschiedliche Interessen, auch wenn ich das aus den jüngsten Erfahrungen hier in Völklingen berichten kann. Es gibt diejenigen, auch gerade von Arbeitgeberseite aus den Unternehmen, die sagen, wir brauchen eigentlich mehr Zuwanderung, um die vielen freien Stellen, die wir im Handwerk, in mittelständischen Betrieben auch in der Großindustrie haben, tatsächlich besetzen zu können. Und es gibt die anderen, die sagen: Wir ächzen ganz schön unter der Last derjenigen, die in den letzten Jahren gekommen sind. Ich glaube, hier ein einigermaßen ausbalanciertes Verhältnis zu finden, ist nicht so ganz einfach. Aber es ist die Aufgabe. Wir können unsere humanitären Verpflichtungen, die wir haben, nicht verletzen, und wir müssen in den nächsten Jahren dazu kommen, davon bin ich überzeugt, dass wir rechtliche Voraussetzungen für sogenannte qualifizierte Zuwanderung schaffen. Das dürfte das gemeinsame Interesse sein.

Ohne Zuwanderung hätte es den Wohlstand, den auch diese Stahlproduktionshütte hier geschaffen hat, nie gegeben. Es hätte nicht funktioniert. Vielleicht kommt daher auch die von Ihnen eben beschriebene Offenheit offenbar der Saarländerinnen und Saarländer.

Das habe ich mir heute Nachmittag auch als Frage gestellt. Ob diese Offenheit damit zusammenhängt, dass in der Erinnerung der allermeisten hier das Bewusstsein darüber, dass es auch wirtschaftliche Blüten in der Region nicht gegeben hätte, ohne die Zuwanderer die zunächst aus Südeuropa und später vor allen Dingen aus der Türkei gekommen sind. Ich glaube, selbst wenn sich nicht jeder jeden Tag darüber brüstet. Ich glaube, ein bisschen davon, wissen die meisten.

Nun haben wir aktuell ja das Problem, das haben sie selbst angesprochen, die Stahlproduktion ist enorm wichtig, aber sie verursacht eben auch sehr viel CO2. Und das soll weniger werden, um das Klima zu schützen, und genau das ist eine Mammutaufgabe.

[Einspieler zur Stahlproduktion]

Das ist natürlich eine enorme Menge. Sie haben ja heute mit Saarstahl gesprochen, sowohl mit der Betriebsführung wie der Politik, auch mit Arbeitern. Gibt es eine Alternative zu diesem Weg grüner Stahl, das anzuvisieren, das mit Wasserstoff zu machen? Glauben Sie, dass das zu lösen ist, so wie wir uns energiemäßig aufgestellt haben?

Ich hatte eher erwartet, dass das vielleicht in den Gesprächen bei Saarstahl heute den ein oder anderen gibt, der eher beharrend auf der bisherigen Stahlproduktion bleiben will und sagen will: Es lohnt sich gar nicht, dieses anspruchsvolle Unternehmen, der Transformation in eine neue Technologie der Stahlherstellung einzusteigen. Das Gegenteil war der Fall. Also es gab eine große, gemeinsame Analyse, dass wir mit der Stahlherstellung nur überleben werden, wenn wir unseren Beitrag zum Schutz des Klimas leisten. Und da die Stahlherstellung nun ohne CO2-Emissionen nicht geht, bleibt es eine technologische Frage, wie man reduzieren kann. Und dieser Aufgabe stellt man sich hier an der Saar; stellt man sich auch hier in Völklingen – mit großer Einmütigkeit und mit großer Zuversicht. Und ich bin mir ziemlich sicher, wenn der ehrgeizige Zeitplan eingehalten wird, den man hier hat, dass man bis 2027 in eine neue Technologie der Stahlproduktion einsteigen will, dann ist man hier im Saarland weit vor anderen und könnte sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Die anderen Aufgaben bleiben. Natürlich sicherzustellen, dass die Kapazitäten, die notwendig sind an Strom, tatsächlich zur Verfügung stehen, und dass es Rahmenbedingungen gibt, mit dem dieser hier produzierte Stahl dann unter besseren Emissionsbedingungen international wettbewerbsfähig bleibt. Dazu gehört dann auch die Debatte, die hier im Saarland nicht neu ist, auch in Berlin nicht neu ist, über den Industriestrompreis etwa.

Ist der saarländische Stahl vielleicht so eine Art Barometer, Gradmesser für den Zustand der Wirtschaft insgesamt? Ist da ein Aufbruch für mehr Nachhaltigkeit zu beobachten?

Ich schaue natürlich auch in andere Regionen und finde, manchmal wird etwas mittleidig auf die Länder geschaut, in denen noch Stahl hergestellt wird. Als sei das eine Industrie des vergangenen Jahrhunderts. Das ist sie nicht. Denn die Transformation, die wir jetzt im Bereich der Stahlherstellung diskutieren, die wird ja auch in anderen Bereichen der Industrie und der industriellen Prozesse notwendig sein. Und ich garantiere, dazu werden Qualitätsstähle notwendig sein, die an einem Standort wie hier in Völklingen produziert werden. Insofern muss es ein gesamtgesellschaftliches Interesse geben, dass der Transformationsprozess hier gelingt.

Kohle und Stahl waren für das Saarland sehr wichtig im Aufbau. Nicht umsonst gab es mit Borussia Neunkirchen und Neunkirchen/Völklingen gerade im Stahlort auch wichtige Fußballvereine. Aber das Thema gleichwertige Lebensverhältnisse ist ja ein hehres Ziel, was sich die Politik auf die Fahne geschrieben hat. Leider hat sich das im Saarland im Moment in eine andere Richtungen entwickelt.

[Einspieler zum Thema Armut]

Die Zahlen, die wir gerade gesehen haben, zeigen: Die Menschen sind im Saarland ärmer als in anderen Regionen Deutschlands. Das Land kann aus eigener Kraft nicht allzu viel dagegen tun. Wie bewerten Sie vor diesem Zusammenhang Bestrebungen Bayerns ganz aktuell, den Länderfinanzausgleich beenden zu wollen?

Ich glaube, wenn man die Geschichte der Bundesrepublik der Nachkriegszeit betrachtet, dann war der Länderfinanzausgleich eins der entscheidenden Instrumente, um einigermaßen gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen. Es hat immer wieder Diskussionen gegeben, dann, wenn Neuverhandlungen des Länderfinanzausgleiches anstehen. Bayern hat jetzt eine neue Debatte in Gang gesetzt, in dem Bayern geltend macht, dass die Interessen Bayerns nicht genügend gewahrt bleiben. Sogar angekündigt, dass eine Klage dazu angestrengt werde. Ich kann im Augenblick noch nicht übersehen, wie das endet. Ich höre jedenfalls aus anderen Bundesländern nicht, dass sie dieser Debatte beitreten werden. Insofern müssen wir abwarten, wie sich das über das Jahr hinweg entwickelt.

Haben Sie Ideen, haben Sie Visionen – jetzt aus den Gesprächen vielleicht schon mitgekriegt – wie das Saarland jetzt sozusagen einen Aufbruch schaffen könnte? Wir haben die Zahlen jetzt gesehen: Saarstahl ist noch da, Stahl hat immer noch eine Bedeutung. Sehen Sie andere Möglichkeiten für so ein kleines Flächenbundesland wie das Saarland?

Ja, ich meine das Saarland hat sich ja entschieden, mit mutigen Schritten nach vorne zu gehen. Ansiedlungen auch durch ein kreditfinanziertes Landesprogramm zu begleiten, und das ist ja ganz offensichtlich, wenn ich die jüngsten Nachrichten über die Ansiedlung einer Halbleiterfertigung im Saarland betrachte, durchaus attraktiv, auch für ausländische Anleger. Ich glaube, wir müssen einfach einräumen: Die finanzielle Situation im Saarland – auch der Städte und Gemeinden – wird sich dann verbessern, wenn es gelingt, die Unternehmen zu stabilisieren. Auch die Stahlunternehmen in eine Lage zu bringen, dass sie wettbewerbsmäßig wieder vorne liegen. Ich habe vorhin angekündigt, wie das gelingen könnte. Und natürlich, Städte wie Völklingen – wir haben uns das heute, nein, gestern schon im Gespräch mit den Stadtverordneten, heute mit der Oberbürgermeisterin erörtert. Die Möglichkeiten sind aufgrund der geringen Gewerbesteuereinnahmen eng. Deshalb kommt es darauf an, dass es gelingt, insbesondere die Gewerbesteuereinnahmen wieder zu steigern. Will sagen, das eine hängt so eng mit dem anderen zusammen. Wohl und Wehe in Völklingen hing immer am Stahl. Es hängt nicht ausschließlich am Stahl, aber die Bedeutung als Arbeitgeber, auch als Gelegenheit für Ausbildung für junge Menschen, ist so bedeutend, dass man jedenfalls nicht auf ein solches Unternehmen verzichten kann. Deshalb sag ich nochmal: Was hier jetzt in Angriff genommen wird, das ist ein mutiges Unternehmen, gegründet auf einem mutigen Zeitplan. Aber es spricht viel dafür, dass es gelingen könnte.

Nochmal zurück zum Länderfinanzausgleich. Wenn wir sehen, dass das Saarland durchaus Leistung beziehen kann, aber sich an der Situation grundlegend noch nichts verändert hat, ist das dann noch das richtige Mittel der Wahl? Gibt es nicht Alternativen, wie man den Länderfinanzausgleich vielleicht grundsätzlich umgestalten könnte, um dafür zu sorgen, dass es wirklich zu einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse kommt, denn die haben wir ja ganz offensichtlich momentan in Deutschland, wenn man sich das Saarland anschaut, nicht.

Natürlich. Ich meine, man kann sich immer einen anderen Länderfinanzausgleich vorstellen. Zu früheren Zeiten, als ich selbst an den Verhandlungen beteiligt war, habe ich in Erinnerung, wie schwierig das ist, immer wieder einen Konsens in Zeitabständen hinzukriegen. Und ich glaube, auch im Saarland wird man nicht bestreiten können, dass es ein Maß an Solidarität auch anderer Bundesländer über die Jahre und Jahrzehnte hinweg gegeben hat. Was das Problem nicht aus der Welt geschafft hat, aber was keinen Vorwurf rechtfertigt; dass Länder wie Bremen oder das Saarland ohne Rücksicht an der Seite gelassen werden. Insofern natürlich wird dann nach der aktuellen finanziellen Situation bei den nächsten Verhandlungen wieder geprüft werden, wie die Regelungen sich verändern müssen. Aber im Augenblick sage ich Ihnen ganz ehrlich, spricht für das Saarland eher viel dafür, dass man an dem gegenwärtigen Finanzausgleich festhält.

Sie sind auf Reisen gegangen, um mit den Menschen zu sprechen. Wir haben es erlebt in den vergangenen Jahren, dass sich die Gesellschaft immer mehr aufgespalten hat. Sie haben das im Osten wahrscheinlich mehr erlebt als hier. Wie bewerten Sie die Situation im Gesamten? Müssen wir uns daran gewöhnen, dass es Gruppen gibt ,die wir mit unseren demokratischen Möglichkeiten nicht mehr einfangen können, oder haben Sie noch den Optimismus zu sagen, nein, das kriegen wir doch irgendwie nochmal hin? Ist die Demokratie in Gefahr in Deutschland?

Ich werde mich jedenfalls nicht daran gewöhnen, deshalb bin ich unterwegs, und deshalb gehe ich eben auch in die schwierigen Orte dieser Republik. Gerade da, wo ich feststelle, dass Demokratie und demokratische Institutionen entweder angegriffen oder mit großer Nachlässigkeit behandelt werden. Aber in Wahrheit ist das Problem ja noch ein bisschen größer, wenn wir uns das Maß der Wahlenthaltung oder die Zahl derjenigen Menschen anschauen, die mit Wahlen gar nichts mehr zu tun haben. Insofern sage ich, das ist ein Zustand, den darf man in der Demokratie gar nicht hinnehmen, und man muss mit den Möglichkeiten, die man hat, dagegen anarbeiten. Ein Land ohne Politik, ist nicht vorstellbar. Ein Land ohne Demokratie, ist nicht das bessere Land. Sondern ich glaube, wir haben über die letzten 70 Jahre gesehen, die Demokratie hat doch bewiesen, dass wir auch schwierige Zustände, dass wir Krisen überwinden können. Ich schöpfe jedenfalls daraus die Zuversicht und gebe diese Zuversicht in meinen Besuchen, in meinen Gesprächen an die Menschen weiter, dass die Demokratie diejenige Regierungsform ist, die auf der einen Seite weite Beteiligungsmöglichkeiten zulässt, die auch Minderheitenpositionen berücksichtigen hilft, die den regelmäßigen Austausch von Verantwortlichen in Regierung und in verantwortlichen Positionen möglich macht. Und ich versuche Menschen, die nach der starken Hand suchen, davon zu überzeugen, dass das nicht die bessere Alternative ist, sondern dass uns das in einen Abgrund führt, den wir für die Zukunft dieses Landes nicht sehen wollen. Aber ehrlich gesagt, bei diesen Reisen fühle ich mich immer wieder neu ermutigt, gerade wenn ich hier aus Völklingen spreche. Gestern Abend in einem Boxverein, wo so viele Ehrenamtliche sich darum bemühen, Kinder, viele davon mit Migrationshintergrund, aus schwierigen Familien, zu helfen, auf dem Weg in diese Gesellschaft. Ihnen beizubringen, wie man mit Regeln umgeht, was Regelverletzung bedeutet. Wir haben die Stadtteilmütter erlebt, heute hier in Völklingen, die sich wirklich rührend aufwendig – ehrenamtlich vor allen Dingen – um diejenigen kümmern, die neu ankommen. Und ich kann nur sagen, das eine sind die Institutionen der Staatlichkeit, dazu gehören Regierungen, Parlamente, das andere ist das, was ich das Rückgrat der Gesellschaft nenne: die Ehrenamtlichkeit. Das ist ja, wenn man ein bisschen rumgekommen ist in der Welt, so einzigartig, hier in Deutschland: Dass es zwischen 25 und 30 Millionen Menschen gibt, die sich ehrenamtlich betätigen. Worauf ich mein Augenmerk lege ist, dass das Ehrenamt unverändert wichtig bleibt, aber aufgrund der Alterung unserer Gesellschaft viele darüber klagen, dass es an Nachwuchs in den Ehrenämtern fehlt, und deshalb werbe ich sehr dafür, auch mit Vorschlägen in der Öffentlichkeit, dass wir Menschen dazu auffordern, wenigstens eine Zeit in ihrem Leben dem Gemeinwesen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft – ich könnte jetzt sagen, zu opfern – ich sage aber zur Verfügung zu stellen. Weil es am Ende kein Opfer ist, sondern jeder der das tut, dabei auch gewinnt. Ob der Vorschlag einer sozialen Pflichtzeit, den ich gemacht habe, am Ende die Zustimmung findet, die ich mir erhoffe, das weiß ich nicht. Aber die Debatte ist in Gang gekommen. Sie wird, wie ich mir das gewünscht habe, kontrovers diskutiert, und dass, was ich mir wünsche, diese Debatte nicht wie in früheren Zeiten ohne ein Ergebnis endet. Ich erhoffe mir sehr, dass wir unseren gesellschaftlichen Beitrag für mehr Ehrenamtlichkeit in Zukunft auch leisten können.

Nun ist Beitrag leisten das eine, das andere ist natürlich: Was kann Politik tun? Sie sagen, die Möglichkeiten ausschöpfen, sagen aber auch, es gibt zu viele Nichtwähler oder eine hohe Anzahl an Sonstigen. Das heißt viele Menschen, deren Stimme sich dann gar nicht in der Besetzung der Parlamente niederschlägt. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass man auch neben den Parlamenten komplementierend, zusätzlich weitere, neue Wege sich eröffnen muss, um demokratische Beteiligung zu ermöglichen?

Das gibt es ja. Der Deutsche Bundestag hat sich ja entschieden, Bürgerräte einzuführen, jetzt zum ersten Mal auch mit Fragen zu befassen. Als Beratungsgremium zusätzlich für den Bundestag und die gewählten Abgeordneten zur Verfügung zu stehen. Aber ich glaube, es gibt noch etwas anderes. Man muss den Menschen auch das Argument nehmen, dass sie nicht gehört werden. Deshalb komme ich nochmal ganz auf den Anfang zurück: Die Ortszeit, die ich vor einem Jahr begonnen habe und die sechste, die jetzt in Völklingen stattfindet, ist auch ein Grund, dass ich sagen will: Es kann sein, dass Ihr Euch nicht in jeder getroffenen Entscheidung wiederfindet. Das gehört auch zur Demokratie, dass versucht wird, nach Kompromissen zu suchen. Wenn sie nicht gefunden werden, muss manchmal auch entschieden werden. Und deshalb kann es sein, dass nicht jeder sich in einer Entscheidung wiederfindet und seine Interessen gewahrt sind. Deshalb glaube ich, müssen wir in solchen Gesprächen, wie ich sie jetzt führe, und ich natürlich nicht alleine, sondern viele andere, die Verantwortung tragen, immer wieder deutlich machen: Es liegt nicht immer daran, dass wir Eure Argumente nicht kennen, dass wir Euch nicht sehen, dass wir Euch nicht hören. Sondern es liegt manchmal auch daran, dass Politik eine Entscheidung treffen muss, die nicht jedem recht geben kann und jedem zu einem Vorteil verhelfen kann. Wichtig ist, dass wir diese demokratischen Entscheidungsverfahren anerkennen, und dafür werbe ich.

Wie bewerten Sie unter der Überschrift dieses Manifest für den Frieden von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer? Trägt das dazu bei, dass es Menschen gibt, die sich irgendwo einbringen können oder splittert es nicht noch mehr auf?

Natürlich hat eine Position in Deutschland ihre Rechtfertigung, die nach den Vorbereitungen für einen Waffenstillstand oder nach Frieden fragt. Aber ich bitte doch sehr zu beachten, dass niemand sich so sehr den Frieden wünscht, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Und vor diesem Hintergrund muss man fragen, was ist realistisch und was ist möglich? Ich finde, das Plausibelste hat der amerikanische Präsident vor Kurzem gesagt, in dem er sinngemäß übersetzt gesagt hat: Wenn Russland den Krieg einstellt, dann ist das das Ende des Krieges. Wenn die Ukraine aufhört, sich selbst zu verteidigen, ist es das Ende der Ukraine. Will sagen: Wenn man auf die Situation schaut und weiß, dass es ein russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine ist, dass die russische Armee in einem fremden Land einmarschiert ist, dann muss man in der Lage sein, Täter und Opfer zu benennen und nicht so tun, als seien es zwei miteinander irgendwo auf der Welt in Streit befindlichen Kriegsparteien gewesen. Es wird ein noch langer Weg sein, bis die Weichen für Verhandlungen zu einem Waffenstillstand tatsächlich gestellt werden, und sie können nur gestellt werden, wenn die Ukraine – das ist jedenfalls meine Überzeugung – in die Lage versetzt wird, sich tatsächlich auch selbst zu verteidigen. Dazu versucht die deutsche Bundesregierung und viele, viele andere beizutragen.

Wenn sich nun die Hinweise bestätigen, dass möglicherweise die Anschläge auf die Gaspipelines in der Nordsee auf ukrainische Auftraggeber zurückgehen, glauben Sie, dass sich dann die Haltung in der Bevölkerung massiv verändern wird?

Zunächst mal weiß ich nicht, was tatsächlich ermittelt worden ist. Das sind Hinweise, die offensichtlich an Medien gegeben worden sind, von wem auch immer. Bei uns hat die Zuständigkeit für die Ermittlungen der Generalbundesanwalt. Ich vertraue darauf, dass die Ermittlungen mit dem Ziel der Aufklärung und auch so schnell wie möglich geführt werden. Vorher, finde ich, sollten wir keine hypothetischen Fragen erörtern.

Können Sie sich vorstellen, dass der Krieg mit Wladimir Putin beendet wird, oder muss in Russland irgendwas Besonderes passieren?

Das wäre uns natürlich am liebsten, wenn in Russland die Weichen so gestellt würden, dass Putin gezwungen wird – oder in Russland andere entscheiden –, diesen Krieg nicht weiter fortzuführen. Aber ehrlich gesagt, auch dafür spricht im Augenblick nicht viel. Insofern, wir können der Frage nicht ausweichen, was der Inhalt unserer versprochenen Solidarität gegenüber der Ukraine ist. Ich sehe neben der politischen, humanitären, finanziellen Unterstützung, die wir geleistet haben und leisten, keinen Weg, daran vorbeizukommen, dass wir auch unseren Teil zur militärischen Unterstützung leisten. Das ist eine Entscheidung, die den Deutschen nicht einfach gefallen ist, vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte. Aber wenn ich mir die letzten Entscheidungen der Bundesregierung zur Unterstützung der ukrainischen Armee anschaue, dann hat es – jeweils nach auch durchaus öffentlicher Kontroverse – doch ein erhebliches Maß an Zustimmung für diese Entscheidungen gegeben. Insofern, ja, das ist ein schwieriger Lernprozess. Das ist ein Lernprozess in dem wir auch feststellen müssen, dass wir nicht nur mit Blick auf diesen Krieg, sondern für die Zukunft mehr aufwenden werden müssen, um unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten; dass wir unsere Leistungen stärker einbringen müssen in das gemeinsame militärische Bündnis der NATO. Ein Lernprozess, der sicherlich noch nicht abgeschlossen ist, aber in dem wir auch aufgrund des Krieges notwendigerweise Fortschritte gemacht haben.

Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. Die Zeit für unser Interview ist auch schon wieder um. Danke für Ihre Ortszeit heute in Völklingen und auch hier mit uns und unserem Publikum.

Ich danke Ihnen beiden sehr. Vielen Dank.

Die Fragen stellten: Armgard Müller-Adams und Roman Bonnaire