"Man muss hingehen, erklären, was Politik kann"

Schwerpunktthema: Interview

22. Mai 2025 ARD-Morgenmagazin

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem ARD-Morgenmagazin am Morgen des 22. Mai ein Interview gegeben. Das Gespräch mit Sven Lorig wurde live während seiner "Ortszeit Delitzsch" gesendet.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem ARD-Morgenmagazin am Morgen des 22. Mai ein Interview gegeben. Das Gespräch mit Sven Lorig wurde live während seiner "Ortszeit Delitzsch" gesendet

[Einspieler zur "Ortszeit Delitzsch" mit Stimmen von Bürgerinnen und Bürgern zum Besuch des Bundespräsidenten]

Er hat es sehr gut moderiert, so so. Und wir freuen uns sehr, dass er sich Zeit für uns auch nimmt an diesem Morgen, dem dritten Tag in Delitzsch. Der Bundespräsident ist uns jetzt live aus Sachsen zugeschaltet. Schönen guten Morgen, Frank-Walter Steinmeier.

Guten Morgen, Herr Lorig aus Delitzsch.

Sie haben es zum Teil ja offensichtlich auch so gemacht wie unsereins, der in eine Stadt neu reinkommt und erst mal guckt, vielleicht sogar shoppen geht. Sie sollen in einem Plattenladen gewesen sein. Haben Sie was gekauft?

In der Tat, ich habe ein paar alte Jazzplatten gekauft. Aber das ist nur einer der Höhepunkte, die wir hier erlebt haben; auch Überraschungen, die wir erlebt haben. Delitzsch ist ja eine Stadt mit Geschichte und Charme. Man erzählt sich, dass im Mittelalter – Sie sehen einige der Wehrtürme und einen Teil der Stadtmauer hinter mir – man erzählt sich, dass die Stadt im Mittelalter uneinnehmbar gewesen ist. Mich hat sie sofort eingenommen seit der ersten Stunde, die wir hier sind. Eine Stadt mit wirklich viel Geschichte, Tradition. Aber diese Stadt lebt nicht in der Vergangenheit, sie lebt im Hier und Jetzt. Und das ist eigentlich das, was mich begeistert. Natürlich freue ich mich über die Altstadt; natürlich freue ich mich, wenn ich weiß, dass das erste Buch, was in Sachsen überhaupt gedruckt worden ist, von einem Delitzscher Buchdrucker gedruckt worden ist. Natürlich freue ich mich darüber, wenn wir Gelegenheit haben, den historischen Spuren des Genossenschaftswesens nachzugehen, das Hermann Schulze Delitzsch hier in dieser Stadt mitgegründet hat, neben Reifeisen im Westerwald. Das ist alles gut und das ist gut zu wissen. Das braucht man auch, um die Stadt zu verstehen. Aber wichtig ist ja, wie sie sich den Anforderungen im Hier und Jetzt stellt. Und das finde ich wirklich begeisternd. Natürlich hat Delitzsch auch zu kämpfen gehabt mit Abwanderung. Natürlich hat Delitzsch auch Bevölkerung verloren. Aber man hat sich von Anfang an darauf konzentriert, wie kann die Bevölkerungsentwicklung stabil gehalten werden. Und dass man richtig gehandelt hat, sieht man daran, dass die Bevölkerung wieder langsam wächst. Und das hängt damit zusammen, dass man sich vor allen Dingen auf Familien konzentriert hat: 14 Kitas sind in den letzten Jahren hier neu gebaut oder grundsaniert worden; drei Grundschulen, eine Oberschule und eine Entscheidung über die Sanierung oder den Neubau einer nächsten Oberschule steht an. Das hat dazu geführt, dass die Bevölkerungsentwicklung inzwischen wieder positiv ist und dass die Lebensqualität hier in der Stadt steigt. Und es gehört eben nicht nur das Kümmern um die Gegenwart dazu, sondern auch um die Zukunft. Und ich hatte gestern die Gelegenheit, auf einem Gelände einer alten Zuckerfabrik, die vor fast 20 Jahren geschlossen worden ist, Neues entstehen zu sehen. Es ist ein riesengroßes Großforschungszentrum, was dort entstehen wird in den nächsten Jahren, das sich vor allen Dingen der Frage widmen wird: Wie sieht die Zukunft der Chemie aus? Was kann Chemie leisten, um uns in Richtung der Kreislaufwirtschaft zu entwickeln, auch neue Energieträger zu entwickeln? Das alles sind Überraschungen und Entwicklungen, die von der kommunalen Politik angestoßen worden sind, die auch gelingen, weil man in geschickter Weise öffentliche Fördertöpfe aufgreift, anzapft. Und das kommt hier zusammen in einer Weise, die vielleicht nicht jeder erwartet hat, in diesem Dreieck zwischen Dessau, Halle und Leipzig, in einer Kleinstadt von nur 25.000 Einwohnern.

Sie wollen ja auch von den Menschen wissen, was können Sie mitnehmen nach Berlin? Was bewegt die Leute? Worüber sind Sie vielleicht auch wütend oder auch ärgerlich oder verstehen Sie nicht? Gibt es so einen Punkt, der sich durch Ihre Gespräche durchzieht, was Sie mitnehmen?

Ja, es gibt einen Punkt, und der ist vielleicht nicht mal Delitzsch-spezifisch: Das, was wir immer wieder hören, dass die Menschen außerhalb der großen Ballungsräume, außerhalb der Landeshauptstädte und der Bundeshauptstadt nicht gesehen und gehört werden. Das ist einer der Gründe, weshalb ich gesagt habe, wir gehen raus, jetzt zum 15. Mal aus dem Schloss Bellevue, in einen kleineren und mittleren Ort, da, wo die Scheinwerfer der Öffentlichkeit nicht so häufig hinschauen, hören den Menschen zu. Und ja, natürlich gibt es Kritik, bei manchen auch Zweifel an den demokratischen Institutionen, an ihren Repräsentanten und den Politikern. Aber je intensiver man spricht, umso mehr kommt auch heraus, dass viel getan worden ist, um die Lebensqualität in einer Stadt wie Delitzsch zu verbessern und die Weichen auf Zukunft zu stellen. Deshalb sage ich immer, wir müssen vielleicht ein bisschen weniger twittern, posten, liken und haten, sondern vielmehr reden. Und darum bin ich hier.

Aber was können Sie denn aus Delitzsch zum Beispiel, auch aus den anderen Städten, die Sie besuchen, mitnehmen und vielleicht in Berlin einfließen lassen, dass das dann mal richtige Politik wird?

Vieles fließt ja ein. Wir reden hier mit Vertretern der kommunalen Politik und es wird oft unterschätzt, was auf der kommunalen Ebene geleistet wird – unter schwierigen Bedingungen, weil die Finanzierung oft nicht auskömmlich ist. Und daran hängt manches, wie zum Beispiel das Bildungswesen, Schulen weiterzuentwickeln. Und das sind natürlich Informationen, Eindrücke, die entweder ich mit nach Berlin nehme, oder wo ich Bürgermeister, Oberbürgermeister und Bürgermeisterinnen einlade, an solchen Debatten wie zuletzt bei der Initiative für einen handlungsfähigen Staat mitzumachen und ihre Positionen dort einzubringen. Und ich glaube, das wird uns helfen, wenn wir diese kommunale Sichtweise, diese kommunale Perspektive auch in der Bundespolitik stärker berücksichtigen. Die neue Bundesregierung hat das in ihren Koalitionsprogramm auch aufgenommen.

Delitzsch geht es ja gar nicht schlecht. Man profitiert von der Nähe zu Leipzig, zum Flughafen. Ein Forschungszentrum ist im Bau. Trotzdem scheint es ja im Norden von Sachsen eine große Unzufriedenheit zu geben. Viele AfD-Wähler über 42 Prozent. Das heißt, Sie werden auch mit vielen AfD-Wählern sprechen. Was spüren Sie da für eine Wut und vielleicht auch ein Unverständnis?

Ja, das Interessante ist ja an diesen Erfahrungen, die ich mache in den Gesprächen, nicht nur in Delitzsch: Je länger man spricht und je stärker man nachfragt – „Wie ist denn die persönliche Lebenssituation? Wie ist das Leben in einer Stadt wie in Delitzsch?“ – umso geringer werden eigentlich die Selbstzweifel, umso kleinmütiger wird die Kritik. Sondern das verlagert sich dann sehr schnell in Richtung „Ach, die da in Berlin oder die da in Dresden, die verstehen uns nicht.“ Deshalb, glaube ich, darf man nicht verzweifeln in einer solchen Situation, wo die Kritik an der Demokratie und ihren Institutionen härter wird. Sondern im Gegenteil: Man muss hingehen, erklären, was Politik kann, und wo auch die Grenzen von Politik sind. Beides tue ich.

Aber verrückt ist ja auch, dass mehr als die Hälfte der Deutschen in Orten unter 50.000 Einwohnern leben. Das heißt, eigentlich müsste man ja in Berlin den Politikern nochmal klar machen, im Bundestag, dass man sich stärker auf solche Orte auch konzentrieren müsste, oder?

Ich will anderen keine Vorschriften machen. Ich sage nur jetzt nach der 15. Ortszeit, diese Investition von Zeit, die lohnt sich. Denn wenn wir Vertrauen in die Demokratie zurückgewinnen wollen, stellt sich ja die Frage, wie entsteht Vertrauen? Vertrauen entsteht nach meiner Ansicht durch Nähe. Nähe braucht Begegnung und Begegnung braucht Zeit. Und die bringe ich in diesen Ortszeiten mit.

Wo werden Sie demnächst Ihren Amtssitz hin verlegen? Ich habe gehört, NRW war nur einmal dran, Rheinland-Pfalz noch gar nicht. Es gibt noch Sehnsüchte.

[lacht] Ja, es gibt sie in der Tat. Und das zeigt ja auch ein bisschen, dass es ein Bedürfnis für diese Art, miteinander ins Gespräch zu kommen gibt. Es gibt in der Tat eine Liste von Wünschen. Die nächste Ortszeit wird uns nach Brandenburg führen, in eine Fontanestadt. Und Sie raten: Das wird Neuruppin sein.

Das hätte ich fast erraten, quasi. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Frank-Walter Steinmeier, unser Bundespräsident, zugeschaltet aus Delitzsch, aus seiner Ortstour. Dankeschön.

Danke Ihnen.

Die Fragen stellte: Sven Lorig