Mittagessen zu Ehren von Otto Schily anlässlich seines 85. Geburtstages

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 2. Oktober 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 2. Oktober bei einem Mittagessen für Otto Schily anlässlich seines 85. Geburtstages eine Ansprache gehalten: "Was sich wie ein roter Faden durch Dein Leben zieht, ist der Glaube an Institutionen, an Recht und Gesetz, an korrekte Staatlichkeit. Und es ist die Überzeugung, dass die Autonomie des Einzelnen der höchste Wert ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Tischrede bei dem Mittagessen zu Ehren von Bundesminister a. D. Otto Schily anlässlich seines 85. Geburtstages im Schinkelsaal von Schloss Bellevue

Lieber Herr Bundesminister a. D., lieber Otto,

Du machst es mir heute Mittag nicht leicht. Einen Toast auf Dich zu halten – und das in einer menschenfreundlichen Rede-Zeit –, das ist in etwa so anspruchsvoll wie der Versuch, die Geschichte der Bundesrepublik auf eine Briefmarke zu schreiben.

Ein Biograf, der sich redlich bemüht hat, das Phänomen Otto Schily in den Griff zu bekommen, hat Dich einmal den Facettenreichen genannt. Und zumindest dieses Etikett, finde ich, musst Du Dir gefallen lassen. Denn vielseitig warst Du immer, auf allen Stationen Deines Lebens, und Du bist es bis heute.

Otto Schily, das ist der Sohn aus großbürgerlichem Elternhaus, der in Bochum aufwuchs und, was nur wenige wissen, zunächst Talsperrenbauer werden wollte – später dann Dirigent und Schauspieler.

Das ist der leidenschaftliche Anwalt, der sich im Dreiteiler, mit Uhrenkette und Krawatte, der außerparlamentarischen Opposition anschloss und in Stammheim die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin verteidigte. Im vierzigsten Jahr der Erinnerung an den Deutschen Herbst begegnest Du mir zurzeit häufiger, als Du denkst.

Das ist der Mitbegründer der Grünen, der als Bundestagsabgeordneter die politische Szene mit neuen Gedanken aufmischte – und doch immer ein wenig wirkte wie der vernünftige ältere Bruder der sozialen Bewegungen.

Das ist, und ich rede immer noch vom selben Mann, der streitbare Bundesinnenminister mit SPD-Parteibuch, der nach den Anschlägen vom 11. September für schärfere Sicherheitsgesetze kämpfte – und sich den Ruf eintrug, ein eiserner Sheriff zu sein.

Und das ist, nicht zuletzt, der Liebhaber von Kunst und Musik, für den es lebenswichtig ist, auf seinem Steinway zu spielen – und der sich, aller Rationalität zum Trotz, einen Sinn fürs Anthroposophische bewahrt hat.

Zur Vielseitigkeit kommt noch etwas anderes: Distanz ist für Dich nicht nur eine Stilfrage, sondern ein menschliches Grundrecht. Du lässt Dich nicht vereinnahmen, spielst gern mit verschiedenen Rollen. Ich vermute, jede und jeder hier am Tisch kennt eine andere Facette von Dir besonders gut: Deine Frau, Deine Töchter, Dein Bruder, Dein ehemaliger Chef im Kabinett, Deine engsten Weggefährten.

Du selbst hast einmal gesagt: Ich bin nichts ganz. Ich bin ein ewiger Skeptiker. Deshalb will ich gar nicht erst versuchen, Deiner Persönlichkeit gerecht zu werden. Heute Mittag, wo wir hier im kleinen Kreis Deinen 85. Geburtstag nachfeiern, will ich einen mehr persönlichen Blick wagen und Dir sagen, was mich an Dir beeindruckt.

Was mir zuerst einfällt, sind unsere Gespräche im Kanzleramt. Ich erinnere mich noch gut, wie Du abends, wenn Du genug hattest von Akten und innenpolitischen Debatten, oft aus dem Ministerium zu mir rübergekommen bist in den siebten Stock des Kanzleramts. Ich hörte dann ein tiefes Grummeln im Vorzimmer – Isser da? –, und schon saßt Du bei mir im Büro, und wir haben ein, zwei Stunden übers große Ganze geredet und darüber, dass Schröder dem Fischer endlich mal Benehmen beibringen muss.

Ich möchte keinen dieser Abende missen, weil ich Dich schon damals als guten und unabhängigen Ratgeber schätzen gelernt hatte und mir in diesen Stunden immer bewusst war, dass da ein einzigartiger Zeitzeuge vor mir sitzt. Einer, der den Wandel der Bundesrepublik verkörpert, aber auch ihre Kontraste. Denn natürlich bist Du kein typischer 68er, eher der biographische Gegenpol zu Joschka Fischer – und nicht nur der biographische Gegenpol, wenn ich mich an Eure Auseinandersetzungen im Kabinett erinnere – und anderen, die es aus einfachen Verhältnissen nach oben geschafft haben. Und trotzdem stehst Du für eine ganze Generation, mit all ihren Idealen und Verdiensten, mit ihren Irrtümern und Metamorphosen.

Politisch ist die 68er-Zeit vollständig gescheitert, hast Du gesagt, aber was sie an positiven Veränderungen bewirkt hat, das wirkt positiv bis heute. Keine Frage: Du hast diesen Umbruch der politischen Kultur in Deutschland mit vorangebracht. Als Anwalt konntest Du in den 1970er Jahren dazu beitragen, dass in einer Gesellschaft, die von einem blutigen Generationenkonflikt erschüttert wurde, nicht die Gesprächsfäden abrissen. Und als Bundestagsabgeordneter der Grünen hast Du in den 1980er Jahren daran mitgewirkt, eine Haltung der Offenheit und Toleranz in die demokratischen Institutionen hineinzutragen. Das Parlament ist ungeachtet aller Mängel und Schwächen eine sehr nützliche Einrichtung, um gesellschaftliche Konflikte sichtbar werden zu lassen und sie in friedlicher Weise auszutragen. Dass der Unterhaltungswert des Parlaments dabei ziemlich beschränkt bleibt, ist nicht schlimm, sagst Du im Interview mit Klaus Wagenbach.

Vieles von dem, was Du damals gesagt hast, sollte man in diesen Tagen wieder zitieren. Das hier zum Beispiel: Die Geringschätzung, das Ressentiment gegenüber dem Parlament ist eine antidemokratische Haltung, gegen die wir uns entschieden zur Wehr setzen müssen.

Wir wissen: Parlamente brauchen nüchterne Arbeiter, die Akten lesen können, und sie brauchen mitreißende Rhetoriker mit einem Gespür für Dramaturgie. Du konntest beides! Unvergessen bleibt Deine Rede zur Wehrmachtsausstellung im Bonner Bundestag. Was Du damals erzählt hast über Deine Familie und den Vater Deiner Frau, das hat mich – und viele andere – sehr bewegt. Das was Du sagst über Deinen Onkel Fritz, der aus Verzweiflung über die Verbrechen des Hitler-Regimes den Tod suchte; über Deinen Bruder Peter, der vergeblich vor den Nazis fliehen wollte und in Russland schwer verwundet wurde; über Deinen Vater, der ein Gegner der Nazis war, aber erst in den fünfziger Jahren einsah, wie töricht es gewesen war, für dieses Deutschland in den Krieg zu ziehen. Und über den Vater Deiner Frau Linda, der als jüdischer Partisan gegen die Wehrmacht kämpfte. Es folgte der Satz: Der Einzige von allen vier genannten Personen – der Einzige! –, der für eine gerechte Sache sein Leben eingesetzt hat, war Jindrich Chajmovic. Denn er kämpfte gegen eine Armee, in deren Rücken sich die Gaskammern befanden, in denen seine Eltern und seine gesamte Familie ermordet wurden.

Auch als Innenminister hast Du unser Land verändert, ich denke nur an die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Vor allem hast Du das Bewusstsein dafür geschärft, dass der Staat früher und besser informiert sein muss, wenn er den neuen terroristischen Gefahren wirksam begegnen will. Wer sich auf dem schwierigen Feld der Inneren Sicherheit bewegt, der braucht vor allem eins: Glaubwürdigkeit. Und diese Glaubwürdigkeit, diese Autorität hattest Du, gerade wegen der Brüche in Deiner Biografie. Und wenn Dich gelegentlich einer der Anwesenden mon Fouché genannt hat, dann – weiß ich – geschah es in großem Respekt vor Deiner Haltung.

Und das war eine Haltung, mit der Du oft gegen Widerstände ankämpfen musstest. Du hast auch bittere Niederlagen einstecken müssen. Ich kann das Bild nicht vergessen, wie Du nach dem Scheitern der NPD-Verbotsanträge in Karlsruhe den Gerichtssaal verlässt, mit erstarrtem Gesicht.

Irgendwann hast Du mir mal von einer Mauer erzählt, die auf Deinem Grundstück in der Toskana steht. Wind und Wetter setzen ihr fortwährend zu, Steine fallen heraus, schließlich bricht sie ein. Ich habe die Geschichte nie vergessen und damals schon gewusst: Du baust die Mauer wieder auf, wenn notwendig: mehrfach, wie ein moderner Sisyphos. Hartnäckigkeit zeichnet Dich eben aus.

Und natürlich die Lust am intellektuellen Gefecht. Du hast mit offenem Visier für Deinen Standpunkt gestritten, hart in der Sache, aber nie unversöhnlich. Auch wenn wir bei einer Sache gelegentlich nicht einer Meinung waren, sind wir uns bei der nächsten wieder freundschaftlich begegnet. Nachtragend warst Du nie, aber Du bist dem Streit auch nicht aus dem Weg gegangen. Ich weiß es natürlich nicht, aber vielleicht wird einem dieser Widerspruchsgeist ja schon in die Wiege gelegt, wenn man an einem 20. Juli geboren wird.

Lieber Otto, wenn Dich jemand nach den Widersprüchen in Deiner Biografie gefragt hat, dann hast Du oft Brecht zitiert, eine Geschichte vom Herrn Keuner:

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten. ‘Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ‚Oh!‘, sagte Herr K. und erbleichte.

Und Du hast hinzugefügt:

Wenn mich ein alter Freund begrüßt, muss ich nicht erbleichen. Jeder verändert sich, nimmt neue Erfahrungen auf, lernt hoffentlich daraus. Und manche Dummheiten, die man in der Vergangenheit begangen hat, werden metamorphosiert und gewinnen eine neue Gestalt.

Es gibt aber auch ein Kontinuum in Deiner Biografie: Was sich wie ein roter Faden durch Dein Leben zieht, ist der Glaube an Institutionen, an Recht und Gesetz, an korrekte Staatlichkeit. Und es ist die Überzeugung, dass die Autonomie des Einzelnen der höchste Wert ist - ebenso wie Haltung und Benehmen, das Du gelegentlich Kinderstube nennst.

Du bist durch viele Formen geschritten – und doch immer derselbe geblieben.

Und manchmal wird man dann überrascht, wenn man Dich wiedersieht. Ich weiß noch, wie wir uns zu Deinem 80. Geburtstag in einem Restaurant oberhalb von Siena versammelt haben. An diesem Abend, als wir da saßen und über die Dächer der Stadt schauten, habe ich verstanden, wie viel Dir die Liebe zu Italien bedeutet. Es ist kaum zu glauben, aber in der Toskana kann man noch einen anderen Otto Schily kennenlernen: Den Landwirt, der am glücklichsten aussieht, wenn er mit seinem kleinen Traktor durch den Olivenhain fährt. Und der uns Daheimgebliebene glücklich macht, wenn er uns ein Fläschchen vom kostbaren Kaltgepressten mitbringt.

Lieber Otto,

der Kontakt zwischen uns ist auch nach unserer Zeit im Kabinett nie abgerissen. Nicht als Bundespräsident, ich möchte Dir sagen: Du bist mir ein Freund geblieben, und dafür danke ich Dir.

Und als Bundespräsident darf ich heute sagen: Du hast Dich verdient gemacht um unser Land. Als großer Unangepasster, als kritischer Geist, als Anwalt der Demokratie. Auf Deine Einsprüche und Plädoyers können und wollen wir nicht verzichten.

Bitte erheben Sie Ihr Glas auf Otto und Linda Schily:

Auf Eure Gesundheit und Euer Wohl!