Abendessen zu Ehren von Henry A. Kissinger anlässlich seines 95. Geburtstages

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 12. Juni 2018

Der Bundespräsident hat am 12. Juni beim Abendessen zu Ehren von Henry Kissinger zu dessen 95. Geburtstag in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Solange Amerika zwischen einer kooperativen internationalen Ordnung und seinem wohlverstandenem Eigeninteresse keine innere Verbindung mehr sieht, solange die Vereinigten Staaten die Welt eher als eine Arena des Kampfes 'jeder gegen jeden' begreift, so lange kommt die Welt dem Frieden nicht näher – und so lange steht das Bündnis des Westens infrage."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Abendessen zu Ehren von Henry A. Kissinger anlässlich dessen 95. Geburtstages im Langhanssaal von Schloss Bellevue

Wir sind hier zusammen, um Henry Kissinger zu ehren, den großen Denker und Gestalter von Weltpolitik. Die meisten hier im Saal wissen es, von Zeit zu Zeit lädt der Bundespräsident herausragende Zeitgenossen hier ins Schloss Bellevue ein, um deren Verdienste und ihre Person zu ehren. Heute ist es fast ein bisschen umgekehrt: Heute Abend dürfen wir uns, darf sich unser Land, verehrter Herr Kissinger, durch Ihr Kommen geehrt fühlen! Denn als Heinz Alfred Kissinger, der jüdische Junge aus Fürth, als 15-Jähriger 1938 mit seinen Eltern Deutschland verlassen musste, da war es absolut unvorstellbar, dass er eines Tages einem deutschen Staatsoberhaupt die Ehre geben würde, ihn hier zu seinem 95. Geburtstag zu empfangen.

Denn damals regierte – nur wenige hundert Meter entfernt von hier – der Mann, dessen Ziel es war, Europas Juden zu vernichten. Eine Topographie des Terrors nahm Gestalt an, in dieser Stadt und in ganz Europa.

Eine gewaltige Anstrengung alliierter Staaten, beendete schließlich diesen verbrecherischen Wahnsinn. Hier im Zentrum Berlins, wo wir uns befinden, da fanden die letzten Kämpfe statt. Und ich weiß, man soll mit solchen Worten vorsichtig sein, aber, lieber Henry Kissinger, ich empfinde unsere Begegnung heute und hier als eine wirklich historische Stunde. Denn wir ehren heute einen Freund Deutschlands. Und dass wir das sagen können, war vor 70 Jahren keine Selbstverständlichkeit und sagt viel über das Glück unseres Landes und über den weiten Weg, den wir seit jenen dunklen Tagen zurückgelegt haben.

Zum ersten Mal sind Sie am 25. November 1944 nach Deutschland zurückgekehrt, in jener Uniform, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus auch andere Deutsche wie Klaus Mann oder Marlene Dietrich trugen. Sie freuten sich, dass Sie an diesem Tag endlich unter der Ortsangabe Irgendwo in Deutschland an Ihre Eltern schreiben konnten: Jetzt bin ich also dorthin zurückgekehrt, wo ich hinwollte. Ich denke an die Grausamkeit und Barbarei, die diese Leute dort draußen in den Ruinen zeigten, als sie obenauf waren. Und dann empfinde ich Stolz und Glück, weil ich als freier amerikanischer Soldat hierherkommen kann.

Sie haben dann Ihr ganzes weiteres Leben den Vereinigten Staaten von Amerika gedient, denen Sie Ihr Leben und Ihre Freiheit verdankten. Sie sind auch weiter den Idealen gefolgt, in deren Namen die Nazis bekämpft wurden: dem Kampf für Freiheit und Demokratie und dem Kampf für eine Weltordnung, die auf dem friedlichen Ausgleich von Interessen beruht.

Zunächst haben Sie das auf geradezu alteuropäische Weise, nämlich als Gelehrter getan. Ihre frühe Lebenserfahrung war starker Antrieb genug, um das geopolitische Denken und Handeln großer Staatsmänner ins Zentrum Ihrer Untersuchungen zu stellen. Dem Problem des Friedens beim Wiener Kongress, jener großen Stunde der Weltdiplomatie, haben Sie ein Werk gewidmet, das wirklich Maßstäbe gesetzt hat. Seinen Titel A world restored kann man als Überschrift über Ihr ganzes weiteres Wirken setzen. Denn das ist von der Überzeugung geprägt, dass man Geschichte wirklich gestalten, dass die Welt von verantwortlichen Gestaltern in Ordnung gebracht und in Ordnung gehalten werden, von unverantwortlichen aber auch zerstört werden kann.

Leo Tolstoi glaubte – anders als Sie –, dass Staatenlenker ohne wirklichen Einfluss auf die Geschichte bleiben. Dennoch hat er über die Vorgeschichte des Wiener Kongresses einen der größten Romane der Weltliteratur geschrieben, mit dem denkbar einfachsten, aber umfassendsten Titel: Krieg und Frieden. Nichts anderes steht letztlich in der internationalen Politik immer wieder auf dem Spiel.

Krieg und Frieden: Wie nur wenige andere Gelehrte haben Sie die Bedeutung dieses fundamentalen Gegensatzpaares immer wieder durchdacht. Sie haben Krieg und Frieden historisch untersucht und die Lehren der Geschichte für die Gegenwart dargestellt. Und Sie haben wie nur wenige andere als praktisch Handelnder in hoher Regierungsverantwortung vor der Aufgabe gestanden – und nicht nur ein Mal –, über Krieg und Frieden zu entscheiden oder solche Entscheidungen vorzubereiten.

Ich weiß in der Gegenwart keinen Denker, der sich so in den Alltag des Politischen hineinbegeben hätte. Und ich weiß in der Gegenwart keinen politisch Verantwortlichen, der mit einer derartigen Reflexionsfähigkeit und analytischen Klarheit die Chancen, Zwänge, aber auch Grenzen des außenpolitischen Handelns ausgeleuchtet hat. Der in den alltäglichen Herausforderungen stets die großen Zusammenhänge im Blick gehabt hat. Der sich in den Kopf des Gegenübers hineinversetzen konnte, seine Wahrnehmung der Wirklichkeit ebenso kannte wie die Grenzen, die auch der Stärkste zu beachten hat, wenn unvermeidbare Konflikte beherrschbar bleiben und nicht außer Kontrolle geraten sollen.

Als Intellektueller haben Sie den Umgang mit kritischen Intellektuellen geschätzt – etwa mit dem Verleger Siegfried Unseld. Der kam eines Tages mit dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch ins Weiße Haus, wo Sie damals als Nationaler Sicherheitsberater für Präsident Nixon arbeiteten.

Nur wenig später veröffentlichte Max Frisch seine Eindrücke in einem gleichzeitig faszinierten wie auch kritischen Bericht. Er schreibt unter anderem: Wer Entscheidungen fällt oder zu Entscheidungen rät, die Millionen von Menschen betreffen, kann sich nachträgliche Zweifel, ob die Entscheidung richtig ist, nicht leisten; die Entscheidung ist gefallen, das weitere abzuwarten. […] Ich verstehe immer mehr, dass Henry A. Kissinger, so oft es nur geht, seine Hände in die Hosentaschen steckt; seine Verantwortung steht in keinem Verhältnis mehr zur Person, die einen Anzug trägt wie wir.

Und dann – so erinnert sich Frisch – sagt Kissinger, er ertrage Verantwortung lieber als Ohnmacht.

Was für ein Satz! Und so selten bei denen zu hören, denen jede Form von Macht suspekt ist und die ein Sich-Heraushalten zu oft für eine besondere moralische Qualität halten.

Wer Verantwortung übernimmt, kann nicht damit rechnen, alles richtig zu machen. Wer handelt, geht Risiken ein, macht Fehler. Er kann auch nicht damit rechnen, von allen Beifall zu bekommen.

Das galt immer in besonderer Weise für die Führungsnation des westlichen Bündnisses: für die Vereinigten Staaten. Gewiss ist: Auch unter Henry Kissinger wollte – und konnte Amerika die Probleme der Welt nicht im Alleingang lösen. Aber umgekehrt gilt bis heute: Die Welt wird ihre Probleme nicht ohne Amerika und sehr wahrscheinlich auch nicht gegen Amerika lösen können.

Gerade diese Einsicht macht es so schwer, von unserer Seite des Atlantiks aus eine vernünftige, verantwortungsvolle Antwort zu geben auf die Erschütterungen, die dieser Tage von Washington ausgehen. Denn es geht nicht, wie es das auch früher schon gab, um Differenzen in Politikfragen – hin und wieder auch wichtigen Politikfragen. Sondern, jeder spürt das, es steht Grundsätzliches auf dem Spiel.

Und ich fürchte: Solange Amerika zwischen einer kooperativen internationalen Ordnung und seinem wohlverstandenem Eigeninteresse keine innere Verbindung mehr sieht, solange die Vereinigten Staaten die Welt eher als eine Arena des Kampfes jeder gegen jeden begreift, so lange kommt die Welt dem Frieden nicht näher – und so lange steht das Bündnis des Westens infrage. Denn: Der Westen ist nur dann mehr als eine Himmelsrichtung, wenn die Welt mehr ist als ein Boxring.

Und auch wenn Sie, Henry Kissinger, gewiss der große Realist unter den Außenpolitikern sind und waren, der kühle Analytiker widerstreitender Interessen, so haben Sie, mit allen Widersprüchen und Anfechtungen, in meinen Augen immer eines verkörpert: nämlich das besondere normative Projekt des Westens! Ich wünsche mir, dass genügend Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks an diesem Anspruch festhalten!

Dennoch: Unsere Unruhe darf sich nicht in Klagen erschöpfen. Wir müssen in diese Verbindung über den Atlantik hinweg investieren – auch und gerade in diesen Zeiten. Ich werde an diesem Sonntag nach Los Angeles aufbrechen, um dort das Thomas-Mann-Haus zu eröffnen. Ein neuer Ort für die transatlantische Debatte, für den Austausch, für die Arbeit an dem, was den Westen im Innersten zusammenhält: nämlich die Zukunft der Demokratie. Und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als das Haus, von dem Thomas Mann leidenschaftlich sowohl für einen demokratischen Neubeginn Deutschlands wie auch für die Partnerschaft mit Amerika geworben hat?

Die Geschichte kennt keine unausweichliche Notwendigkeit. Es gibt für uns Politiker immer die Freiheit zu handeln, den Verlauf der Dinge zu ändern, oder doch zu beeinflussen. Das ist, lieber Henry, Ihre tiefe Überzeugung und sie ist es immer gewesen. Sie haben es selbst einmal so formuliert: Es gibt einen Grenzbereich zwischen Notwendigkeit und Zufall, innerhalb dessen der Staatsmann ausdauernd und intuitiv Entscheidungsmöglichkeiten wahrnehmen muss, um das Schicksal seines Volkes zu gestalten.

Durch Ihre große Kenntnis von Welt und Geschichte können Sie auch bei neuen Problemstellungen mit großer Urteilssicherheit Orientierung geben. Ich selbst, darf ich Ihnen sagen, lieber Henry, habe davon immer wieder profitiert – in unzähligen Begegnungen und Gesprächen, die wir miteinander hatten oder aus vielen Schriften und Büchern, die ich von Ihnen lesen durfte. Aus denen immer beides sprach: Ihre ungeheure Urteilskraft und Ihre praktische Vernunft. Und beides hat jetzt schon, glaube ich, Generationen von Außenpolitikern beeinflusst und Anleitung gegeben.

Dabei sind Sie nie stehen geblieben, haben nie in den Schützengräben alter ideologischer Axiome verharrt. Und was zuallererst für Ihren außenpolitisch erfahrenen Blick auf die Welt gilt, gilt allerdings auch für alles Neue.

Als allerneuestes Beispiel für Ihre unerschöpfliche Neugier habe ich einen Artikel entdeckt, den Sie gerade eben erst im Atlantic veröffentlicht haben: How the Enlightenment Ends.

Dort beschäftigen Sie sich mit den möglichen Konsequenzen der jüngsten Fortschritte der künstlichen Intelligenz, und zwar den Konsequenzen für Gesellschaft und Politik. Wie immer stellen Sie die neuesten Entwicklungen in historische Zusammenhänge. Ganz deutlich wird in diesem Aufsatz noch einmal, wie sehr sie in Ihrem Denken an den Werten der Aufklärung orientiert sind.

Sie fordern, dass zur Technologie der künstlichen Intelligenz dringend Philosophen und Ethiker gehört werden müssen. Sonst könnten, so sagen Sie, die moralischen und intellektuellen Errungenschaften der Aufklärung verspielt werden. Und mit einem ganz typischen Kissinger-Satz, der sozusagen amerikanischen Pragmatismus in alteuropäischer Dialektik formuliert, schließt dieser wunderbare neue Aufsatz: This much is certain: If we do not start this effort soon, before long we shall discover that we started too late.

Zum Schluss: Am 29. Januar 1973 telegrafierte Ihr Freund Siegfried Unseld Ihnen seine Glückwünsche zum Abschluss der Friedensverhandlungen in Paris: Meinen herzlichen Glückwunsch zu Deiner großen Friedensleistung – Stop – Gib nicht auf – Stop – Die Geschichte wird von Dir mit Shakespeare sagen: This was a man.

Besser kann man es nicht sagen: Er ist ein Mann. Und was für einer.

Herzlichen Glückwunsch!