Eröffnung der Gedenkstätte Malyj Trostenez

Schwerpunktthema: Rede

Minsk/Belarus, , 29. Juni 2018

Der Bundespräsident hat am 29. Juni bei der Eröffnung der Gedenkstätte Malyj Trostenez in Belarus eine Ansprache gehalten: "Die gemeinsame europäische Verantwortung für das 'Nie wieder Krieg!' gründet auf dem Wissen um das, was Menschen – hier an diesem Ort – ihren Mitmenschen angetan haben. Wenn wir uns auch fortan, ohne die Hilfe von Zeitzeugen, daran erinnern wollen, warum uns dieses auf Menschlichkeit gegründete Europa, dieser gemeinsame europäische Kontinent, so wichtig ist, dann müssen wir seine Geschichte lehren und lernen und sie jeder Generation neu vermitteln."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede zur Eröffnung der Gedenkstätte Malyj Trostenez in Minsk in der Republik Belarus

Der Schritt wird schwerer und schwerer, je näher man diesem Ort kommt. Das Wissen um das, was an diesem Ort geschehen ist, das wird hier zur tonnenschweren Last. Wer hierher kommt, der hat von den Verbrechen gelesen oder gehört, die hier von Deutschen an Belarussen, an ihren europäischen Nachbarn und an den eigenen Landsleuten begangen wurden. Er wird wissen, welche Spur der Verwüstung dieser letzte und grausame Krieg durch dieses Land gezogen hat. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung von Belarus hat die Zeit der deutschen Besatzung nicht überlebt.

Einige von Ihnen werden sich, wie ich, an einen Film erinnern, der vor vielen Jahren, 1985, in den Kinos lief: Komm und sieh! Ein Film von Elem Klimow. Es war das Jahr, in dem der Eiserne Vorhang begann, sich millimeterweise zu heben, und der Film dieses großartigen russischen Regisseurs wurde in ganz Europa gezeigt, im Osten wie im Westen.

Er ist eine Begegnung mit dem Krieg. Nicht mit einem Krieg, wie man ihn bis dahin kannte. Nein, mit einem Krieg, der die Erinnerung an alle vorangegangenen auslöschen würde, der Generationen traumatisiert und das Gesicht unseres gemeinsamen Kontinents entstellt hat: dem Vernichtungsfeldzug der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion.

Für viele Westeuropäer war dieser Film eine erste Begegnung mit Ihrem Land: Belarus. Für die deutschen Zuschauer aber zugleich auch eine Konfrontation mit den eigenen Vätern und Großvätern, die der Krieg hierher geführt hatte, nicht irgendwo hin, an einem nicht näher bestimmten Ort im Osten, sondern hierher, in die Wälder von Belarus, einem Land, das einen Namen hat, auch wenn uns das der Film nur ahnen lässt.

Denn Klimow interessiert sich nicht für die konkreten Orte, auch nicht für die Frontverläufe. Er interessiert sich nur für uns Menschen. Dafür, was dieser Krieg, diese Orgie der Vernichtung, aus uns gemacht hat. Er führt uns vor Augen, wie Kindheit, Jugend und Unschuld entweiht, wie Menschen, ihrer Menschlichkeit entledigt, zu Tötungsmaschinen werden und ein Niemandsland hinterlassen – entleert, ohne Namen, ohne Orientierung.

Vielleicht liegt in dieser Erkenntnis zugleich eine Erklärung dafür, warum wir so lange gebraucht haben, Orte wie diesen wiederzufinden. Warum wir erst heute hierher zurückgefunden haben, mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges, um an die Verbrechen zu erinnern, die hier verübt wurden – an Abertausenden belarussischen, deutschen, österreichischen und tschechischen Juden, an sowjetischen Kriegsgefangenen, belarussischen Widerstandskämpfern und Zivilisten.

Komm und sieh! Ja, dieser Aufforderung nachzukommen, ist schwer. Und es bleibt gerade an diesem Ort besonders schwer.

Wir erschrecken über Hunderttausende Opfer, die dieses Inferno gefordert hat, die zu Namenlosen wurden, bevor man sie in Lager pferchte, vergaste oder gleich von der Rampe des Bahnsteigs in Malyj Trostenez an den Rand einer Grube führte, vor der man sie erschoss.

Wir erschrecken über einen Krieg, der als Vernichtungskrieg geplant, befohlen und ausgeführt wurde. Belarus musste erleben, was das bedeutete. Mehr als 600 Dörfer wurden hier in der Region – samt ihrer Bewohner – völlig ausgelöscht.

Wir verstehen: Was damals über dieses Land und seine Nachbarn kam, das war Menschenwerk. Es trug deutsche Namen wie Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich, Erich von dem Bach-Zelewski oder Oskar Dirlewanger. Der millionenfache Tod, den diese Männer brachten, war kein schicksalhafter. Er war organisiert und effizient, erdacht in Amtssitzen mit Berliner Adressen: Wilhelmstraße 101, Prinz-Albrecht-Straße 8, Rauchstraße 18, Wilhelmstraße 72.

Das Mordkomplott erstreckte sich über die Geschäftsverteilungspläne von Ministerien, gliederte sich in Organisationseinheiten, in Einsatzgruppen von SS und SD, in Erschießungskommandos von Sicherheitspolizei, Ordnungspolizei und, ja, auch der Wehrmacht. Jeder Einzelne ein Rädchen im Getriebe, eins vom anderen abhängig, eins ins andere greifend, jedes seinen Beitrag leistend, bis der todbringende Schuss fiel.

Dieser bürokratisierte Krieg, gestützt auf einen Apparat und seine Arbeitsteilung, atomisierte die Verantwortung eines jeden Einzelnen. Am Ende werden alle Beteiligten erklären, ihr Beitrag sei gering gewesen, nicht von Gewicht und nur auf Befehl von oben erfolgt.

Malyj Trostenez erreichten die Mordkommandos im Frühjahr 1942. Es war ein abgelegener Flecken, damals noch vor der Stadtgrenze von Minsk. Auf Reinhard Heydrichs Befehl wird aus diesem Ort eine Mordstätte, die ehemalige Kolchose Karl Marx zu einem Arbeits- und Vernichtungslager. Ein wieder in Betrieb genommener Gleisanschluss und ein schwer einsehbares Gelände als Ort für Exekutionen – mehr brauchte es nicht.

Abertausende wurden im Wald von Blagowschtschina erschossen oder in eigens dafür gebauten Lkw vergast – doch nur an Werktagen. Züge, die an arbeitsfreien Tagen in Malyj Trostenez ankamen, wurden nicht abgefertigt. Die Todgeweihten mussten warten, bis die Erschießungskommandos ihren Dienst am Montag wieder aufnahmen. Diese Schamlosigkeit der Täter entsprach der Mechanik des Tötens. Hier sollte jede menschliche Spur, auch jeder Rest von Menschlichkeit getilgt werden.

Der Ort, Malyj Trostenez, von der deutschen Wehrmacht in Besitz genommen als Lebensraum im Osten, war ein Ort des Todes. Er lag am äußersten Ende einer Befehlskette, verzeichnet auf keiner Landkarte, aber verzeichnet auf einem Plan zur sogenannten Endlösung der Judenfrage. Diesen Ort in das historische Bewusstsein Europas zurückzuholen, ist ein lange überfälliger Schritt.

Was hier geschehen ist, hat tiefe Wunden geschlagen. Und sie sind sichtbar für alle, die sie sehen wollen. Komm und sieh! Diese Aufforderung, so schmerzhaft sie ist, gilt uns – gilt uns, den nachgeborenen Generationen.

Was nun hier, an diesem Ort, entstanden ist, ist deshalb von unschätzbarem Wert, weil das Wissen um Orte wie diesen und die Erinnerung an das, was hier geschah, unabdingbar ist für ein Verständnis von uns selbst. Das 20. Jahrhundert und auch das 21. Jahrhundert lassen sich nicht denken ohne dieses Wissen.

Die gemeinsame europäische Verantwortung für das Nie wieder Krieg! gründet auf dem Wissen um das, was Menschen – hier an diesem Ort – ihren Mitmenschen angetan haben.

Wenn wir uns auch fortan, ohne die Hilfe von Zeitzeugen, daran erinnern wollen, warum uns dieses auf Menschlichkeit gegründete Europa, dieser gemeinsame europäische Kontinent, so wichtig ist, dann müssen wir seine Geschichte lehren und lernen und sie jeder Generation neu vermitteln.

In dieses historische Gedächtnis der Europäer, vor allem aber in das deutsche, gehört zwingend auch die Geschichte von Belarus. Nach fast drei Jahrzehnten Unabhängigkeit ist es an der Zeit, dass das Land in unserem Bewusstsein und Verständnis aus dem Schatten der Sowjetunion tritt, vor allem aber, dass Belarus wahrgenommen wird als ein Staat mit einer eigenen Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Dieser Ort hier, Malyj Trostenez, ist ein Schreckensort in dieser belarussischen Geschichte. Aber er steht heute auch für ein gemeinsames Erinnern. Dieser Gedenkort, ebenso wie die gemeinsame Geschichtswerkstatt in Minsk ist das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen von belarussischen und deutschen Historikern und von zivilgesellschaftlichen Gruppen, wie dem Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk in Belarus und in Deutschland.

Aber richtig ist auch, und das will ich hervorheben: Ohne die Bereitschaft Weißrusslands zur Versöhnung wäre diese Zusammenarbeit nicht denkbar.

Wir dürfen niemals vergessen: Der deutsche Vernichtungskrieg hatte zum Ziel, dieses Land und die Menschen, die in ihm leben, auszulöschen. Umso tiefer ist meine Demut, umso dankbarer bin ich den Menschen in Weißrussland für ihre Bereitschaft zur Versöhnung.

Es hat in Deutschland lange, viel zu lange gedauert, sich an diese Verbrechen zu erinnern. Lange, zu lange haben wir gebraucht, uns zur Verantwortung zu bekennen. Heute besteht die Verantwortung darin, das Wissen um das, was hier geschah, lebendig zu halten. Und ich versichere Ihnen, wir werden diese Verantwortung auch gegen jene verteidigen, die sagen, sie werde abgegolten durch verstrichene Zeit.

Komm und sieh!, das ist eine Verpflichtung, die niemals erlischt. Und so stehe ich heute vor Ihnen – als Bundespräsident, als Deutscher und als Mensch – dankbar für die Zeichen der Versöhnung, und ich stehe vor Ihnen voll Scham und Trauer über das Leid, das Deutsche über Ihr Land gebracht haben.