Haben Sie vielen Dank für den herzlichen Empfang. Die Lebenshilfe strahlt Wärme aus
, diesen Satz habe ich bei meiner Vorbereitung auf diese Rede irgendwo gelesen. Und jetzt, schon nach den ersten Eindrücken heute Mittag hier im Café Auster, verstehe ich noch viel besser, was damit gemeint ist.
Liebe Frau Günther, ich danke Ihnen für die ganz besonders freundlichen und herzlichen Begrüßungsworte. Wer Ihnen nur einen Augenblick lang zuhört, dem wird sofort klar, warum es so wichtig ist, dass Menschen mit Behinderung ihre Interessen in Politik und Gesellschaft selbst vertreten – als Expertinnen und Experten in eigener Sache, aber auch als sympathische Vorbilder für uns alle. Herzlichen Dank für Ihr Engagement!
Das ist nur einer der vielen Gründe, weshalb ich – als Ulla Schmidt mir die Einladung zur Geburtstagsfeier ankündigte – schon ja
gesagt habe, bevor das Einladungsschreiben überhaupt auf meinem Schreibtisch lag. Herzlichen Dank für die Einladung!
Ich darf vielleicht zur Vorgeschichte sagen, dass ich vor etwas mehr als einem Jahr zu Besuch in den Hannoverschen Werkstätten war. Hannover kenne ich ganz gut. Ich habe zehn Jahre dort gewohnt mit meiner Familie. Im Büro für Leichte Sprache in Laatzen habe ich mir genau erklären lassen, wie man Verträge, sogar Gesetzentwürfe, ganze Bücher so verwandeln kann, dass möglichst jede und jeder sie versteht.
Einer der Übersetzer, den ich damals getroffen habe in Hannover, Andreas Finken, hat zu mir gesagt: In meinen Augen ist es Demokratie, wenn jeder Mensch die Wahl hat, ob er einen Text in leichter oder in schwerer Sprache lesen möchte.
Das hat mir nicht nur gefallen, das hat mich überzeugt. Und damit heute jeder hier im Saal die Wahl hat, haben wir mein Redemanuskript schon vorab in Leichte Sprache übersetzen lassen. Und ich kann nach dieser Erfahrung allen, die Reden und Vorträge halten, nur empfehlen, das wenigstens auch mal auszuprobieren – denn man lernt dabei selbst eine Menge darüber, wie schwer die Sprache manchmal ist, an die man sich selbst gewöhnt hat, und wie leicht es ist, sie verständlicher zu machen.
Wir feiern heute einen wunderbaren runden Geburtstag: 60 Jahre Bundesvereinigung Lebenshilfe! Das sind 60 Jahre Engagement für eine Gesellschaft, in der es normal ist, verschieden zu sein und in der Menschen mit Behinderung gleichberechtigt und so selbstbestimmt wie möglich am Leben teilnehmen können und sollen – im Kindergarten und in der Schule, im Wohnviertel und am Arbeitsplatz, in der Freizeit und in der Politik.
Sie alle miteinander dürfen stolz darauf sein, was Sie erreicht haben – für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien, aber auch für die Kultur des Miteinanders in unserem Land. Ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein, und ich gratuliere der Lebenshilfe zum Geburtstag: Ihnen allen von Herzen meinen Glückwunsch zum Sechzigsten!
Im Rückblick wird uns bewusst, welch unglaublichen gesellschaftlichen und politischen Wandel die Lebenshilfe in diesen 60 Jahren mit vorangebracht hat.
1958, als die Bundesvereinigung gegründet wurde, lag das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte noch nicht lange zurück. Die Nationalsozialisten hatten Menschen mit Behinderung als so genannte Ballastexistenzen
oder als lebensunwertes Leben
erniedrigt, zu medizinischen Experimenten missbraucht und, wie wir wissen, zu Hunderttausenden ermordet.
In den Anfangsjahren der Bundesrepublik war die menschenverachtende Ideologie der Nazis nicht einfach und sofort aus allen Köpfen verschwunden. Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien stießen damals oft auf Vorurteile, auf Unverständnis, sogar auf offene Ablehnung. Viele waren zu einem Leben am Rand der Gesellschaft verurteilt.
Zum Glück gab es Zeitgenossen, die sich damit nicht abfinden wollten – allen voran Tom Mutters, der niederländische Pädagoge, der als Beauftragter der Vereinten Nationen nach Deutschland gekommen war. Schon in den 1950er-Jahren verbreitete er unermüdlich seine Botschaft: Menschen mit geistiger Behinderung gehören dazu, ohne Wenn und Aber, sie brauchen nur mehr Unterstützung.
Tom Mutters machte damals vielen Eltern Mut, sich zu ihren Kindern mit Behinderung zu bekennen und gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen. Er trug dazu bei, dass ein neues Selbstbewusstsein und der Wille zur Selbsthilfe tatsächlich wachsen konnten.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe, die er gemeinsam mit Eltern und Fachleuten in Marburg gründete, war eine der ersten Bürgerbewegungen in der Bundesrepublik. Sie steht bis heute für den Neubeginn in der Behindertenhilfe, aber auch für den gesellschaftlichen Aufbruch in unserem Land.
Meine Damen und Herren, heute feiern Sie zum ersten Mal einen runden Geburtstag der Lebenshilfe ohne Tom, den Gründer
. Er, der in der Hinwendung zum Nächsten
den wirklichen Sinn des Lebens
erkannt hatte, war ein Wegbereiter unserer offenen und solidarischen Gesellschaft. Ich finde, gerade in einer Zeit, in der diese Gesellschaft immer mehr in Einzelteile zu zerfallen droht, sollten wir gerade daran erinnern.
Die Lebenshilfe hat in 60 Jahren entscheidend dazu beigetragen, dass wir dem großen Ziel einer inklusiven Gesellschaft in unserem Land Schritt für Schritt näher gekommen sind – von der Einführung der Schulpflicht für Kinder mit geistiger Behinderung bis hin zur UN-Behindertenrechtskonvention. Und es ist, meine Damen und Herren, gar nicht so sehr der Erfolg der Politiker, sondern es ist Ihr Erfolg, dass das Wahlrecht für alle
jetzt auch endlich im Koalitionsvertrag verankert werden konnte. Herzlichen Glückwunsch dazu!
Mein Dank gilt heute den vielen Menschen, die sich für die Lebenshilfe engagieren: den Müttern, Vätern und anderen Angehörigen, den ehrenamtlichen und hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – und nicht zuletzt natürlich den Menschen mit Behinderung selbst, die im Bundesvorstand, in Ortsvereinen oder Werkstatträten mitwirken, ganz nach dem Motto Nichts über uns ohne uns
.
Sie alle wissen, wie mühsam das Engagement in unserer Demokratie manchmal ist. Wie anstrengend es sein kann, Kompromisse zu erarbeiten, sie einzugehen, zu ertragen und in der eigenen Organisation zu vermitteln. Es geht nicht immer auf geradem Weg voran. Und nicht immer so schnell, wie man das gern hätte. Aber die Geschichte der Lebenshilfe zeigt eben auch: Engagement lohnt sich, und zwar für uns alle. Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz!
Die Lebenshilfe hat in den vergangenen Jahren auch viel dazu beigetragen, dass Menschen mit und ohne Behinderung sich im Alltag begegnen und schätzen lernen können. Aber ich weiß natürlich: Auch heute noch gibt es Vorbehalte und Vorurteile, auch heute noch erleben Menschen mit Behinderung Situationen, in denen sie ausgegrenzt oder bevormundet werden.
60 Jahre nach Gründung der Bundesvereinigung Lebenshilfe ist die Verwirklichung der Vision von Tom Mutters immer noch eine große Aufgabe – für die Politik, aber vielleicht mehr noch für die Gesellschaft.
Ich finde, wir müssen in diesen Zeiten wieder verstärkt darauf aufmerksam machen, dass es normal ist, verschieden zu sein, dass alle Menschen gleich viel wert sind und gleiche Rechte haben.
Denn wir erleben ja heute, wie in ganz Europa politische Kräfte Zulauf erhalten, die Vielfalt ablehnen. Wir erleben, wie der Ton in der politischen Debatte rauer und die Sprache unmenschlicher wird. Wir erleben, wie Empathie und Solidarität von manchen als Schwäche ausgelegt werden.
Wir erleben auch, wie die fortschreitenden Möglichkeiten der Pränataldiagnostik bei manchen den falschen Eindruck erwecken, es gebe so etwas wie ein allgemeines Interesse daran, kein Kind mit Behinderung zu kriegen und, wo sich das andeutet, abzutreiben – und Eltern behinderter Kinder sogar unter Rechtfertigungsdruck geraten, ganz nach dem Motto Das muss doch heute nicht mehr sein
.
Und nicht zuletzt erleben wir, wie viele Menschen unter großem Druck stehen, weil sie meinen, dem Zeitgeist der Selbstoptimierung hinterherhecheln zu müssen – der Vorstellung also, wir müssten ewig jung, niemals krank und unbegrenzt leistungsfähig sein, immer schöner und glücklicher werden und uns dabei ständig mit anderen vergleichen.
Mal ganz davon abgesehen, dass das Streben nach solchen überzogenen Idealen viele Frauen und Männer in die Erschöpfung treibt: Es leistet der Abwertung von Menschen mit Beeinträchtigungen Vorschub, und das dürfen wir nicht hinnehmen!
Es gibt keine Norm für das Menschsein
– diesen schönen Satz hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker schon vor 25 Jahren gesagt.
Was uns als Menschen verbindet, ist die Würde, die jede und jeder von uns besitzt, ohne Rücksicht auf körperliche oder geistige Eigenschaften. Was uns verbindet, ist die Fähigkeit, Glück und Freude zu empfinden, zu lieben und Freunde zu gewinnen. Es ist der Wunsch, kreativ zu sein und sich als Persönlichkeit schöpferisch, auch durch Kunst, auszudrücken. Und es ist die Sehnsucht, in seiner Einzigartigkeit beachtet und geachtet zu werden.
Ich finde, die Kunstwerke Ihres Wettbewerbs lassen das tatsächlich ganz plastisch
werden: Sie geben Einblick in Gedanken und Gefühle von ganz verschiedenen Menschen, auch von solchen, denen es nicht oder nur schwer möglich ist, ihre Empfindungen in Worte zu fassen. Und sie machen klar: Das Thema Teilhabe und Ausgrenzung ist nicht reserviert für Menschen mit Behinderung, sondern es geht uns alle an.
Nicht nur mit diesem Wettbewerb zeigt die Lebenshilfe, was es heißt, Humanität zu leben. Sie steht für Offenheit, Vielfalt und ein partnerschaftliches Miteinander, für Respekt und Achtung, aber eben auch für Gelassenheit und gesunden Humor – im Umgang mit anderen, aber auch mit sich selbst.
Von dieser Haltung brauchen wir heute eindeutig mehr in unserem Land. Deshalb, liebe Lebenshilfe, wenn ich einen Wunsch äußern darf zu Ihrem Sechzigsten: Lassen Sie nicht nach, wenn es darum geht, Menschenrechte zu verwirklichen, bleiben Sie sichtbar und hörbar! Lassen Sie uns unsere humane Gesellschaft gemeinsam verteidigen, und lassen Sie uns dabei das Feiern nicht vergessen!
Herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch!