Herzlich willkommen in Berlin!
Es ist gut, sich wiederzusehen. Es ist gut, miteinander zu sprechen. Und, ja, es ist auch gut, zu streiten – jedenfalls, wenn wir es auf eine möglichst gute Art
tun, wie es im Koran heißt. Sehr geehrter Herr Präsident, ich freue mich, dass unsere Länder nach viel zu vielen groben Tönen in der jüngeren Vergangenheit das Gespräch miteinander wieder suchen.
In diesem Monat vor ganz genau 70 Jahren, nur wenige Schritte von hier entfernt, hielt der spätere Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, eine Rede, die bis heute unvergessen ist: Ihr Völker der Welt […], schaut auf diese Stadt!
– ein Berliner Leuchtfeuer, jene Rede, gebaut auf der erlebten Erfahrung von Krieg und Diktatur, ein flammendes Plädoyer für die Freiheit!
Wenn ich an Reuters Rede – und an die in ihr beschworenen Werte – erinnere, dann erinnere ich zugleich an die enge Bindung zwischen Deutschland und der Türkei. Denn: Dass er diese Rede halten konnte, verdanken wir auch dem Land, das so offen und großherzig war, in den Jahren nationalsozialistischer Diktatur vertriebene jüdische und politisch verfolgte Deutsche aufzunehmen – darunter hunderte verfolgte Wissenschaftler wie Friedrich Dessauer oder Ernst Eduard Hirsch, Künstler wie Bruno Taut oder Paul Hindemith.
Vielen dieser Menschen ist die Türkei eine zweite Heimat geworden. Ernst Reuter selbst hat zwölf Jahre seines Lebens in Istanbul und Ankara verbracht, seine Familie und er haben die Türkei schätzen und lieben gelernt.
Die deutsche Emigration in die Türkei ist ein nicht allzu bekanntes, aber umso bemerkenswerteres Kapitel unserer langen und wechselvollen Beziehung. Sie reicht weit in die Jahrhunderte zurück, hat Höhen und Tiefen erlebt, und sie ist insbesondere durch die Menschen, die später aus der Türkei zu uns gekommen sind, zu einer ganz besonderen Beziehung gewachsen. Diese deutsch-türkische Beziehung, sie ist gewiss einzigartig – und gewiss nicht einfach.
Deutschland ist reicher geworden durch die inzwischen fast drei Millionen Menschen, die ihre Wurzeln in der Türkei haben und in Deutschland zuhause sind. Reicher geworden
übrigens im ganz buchstäblichen Sinne: Der wirtschaftliche Aufstieg und Wohlstand meines Landes ist schlicht nicht denkbar ohne die vielen aus der Türkei, die wir in den vergangenen Jahrzehnten gebeten haben, hier zu arbeiten, nicht denkbar ohne ihre Familien, die nachkamen, nicht denkbar ohne ihre Kinder und Enkel. Aber ich meine reicher geworden
auch im gesellschaftlichen, kulturellen, lebensweltlichen Sinne. Ich bin stolz und dankbar, Bundespräsident eines vielfältigen und weltoffenen Deutschlands zu sein, in dem Generationen türkischer Zuwanderer ihre Spuren hinterlassen haben, das sie mitprägen, in dem Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft ihr Zuhause finden – ein Zuhause mit Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.
Natürlich steckt unsere freiheitliche und offene Gesellschaft voller Widersprüche und Konflikte. Für die viel beschworene Integration gibt es weder Zauberformeln noch einen harmonischen Endzustand. Integration ist ein Prozess, der alle Beteiligten in die Pflicht nimmt: die, die seit Generationen Deutsche, und die, die zugewandert sind. Integration beginnt mit einem Bekenntnis, das uns allen – gleich welcher Herkunft – zusteht, nämlich: Hier will ich leben, hier kann ich mitgestalten.
Integration bedeutet, dass wir miteinander lernen, nicht nur teilzuhaben, sondern auch Verantwortung zu tragen für dieses demokratische Gemeinwesen. Integration bedeutet, Regeln zu respektieren, Vielfalt und Vielstimmigkeit auszuhalten, aber auch gemeinsam gegenzuhalten, wenn andere – sei es in unserem eigenen Land oder von außen – Misstrauen oder Zwietracht säen. Und ganz ohne Zweifel gehört zu den gemeinsamen Pflichten, dass wir uns jeder Form von Diskriminierung, Rassismus und Fremdenhass entgegenstellen! Erst jüngst haben wir in der Aufklärung der Mordserie des NSU in den finstersten Abgrund des Hasses geblickt. Wir haben diese abscheulichen Verbrechen, und insbesondere ihre Opfer, nicht vergessen. Sie beschämen uns bis heute.
Auf den Reisen durch unser Land stellen meine Frau und ich immer wieder mit Freude fest: Zum gesellschaftlichen Leben in Deutschland gehören heute – mehr als jemals zuvor in der bundesdeutschen Geschichte – auch Abgeordnete, Journalistinnen, Schriftsteller, Schauspielerinnen, Sportler, Unternehmer, und viele andere mit türkischen Wurzeln. Unter ihnen sind auch Menschen wie Mevlüde Genç, deren Kraft und Wille zur Versöhnung nach dem entsetzlichen Brandanschlag in Solingen vor 25 Jahren mich tief beeindruckt hat. Wir hätten sie gern heute Abend hier begrüßt, und sie wäre gern gekommen – leider lassen ihre Kräfte es nicht zu, und wir grüßen sie von hier aus sehr herzlich.
All diese Menschen prägen unser gemeinsames Deutschland, und ich freue mich, dass einige von ihnen heute Abend hier sind. Sie sind der wichtigste Teil unserer Beziehungen – auf sie kommt es an! Sie können bezeugen, dass viele, sehr viele Menschen in Deutschland, Anteil daran nehmen, wie unsere Länder zueinander stehen – und wie die Lage im jeweils anderen Land ist. Das Interesse aneinander ist groß, die Emotionen sind es auch. Was in der Türkei geschieht, ist wichtig für diese Menschen, und es ist wichtig für Deutschland. Ebenso wie in der Türkei besonders genau beobachtet wird, was in Deutschland geschieht. Um es kurz zu sagen, über manche aktuellen Differenzen hinweg: Wir sind und bleiben wichtig füreinander. Im Wissen darum sollten wir unsere künftige Beziehung gestalten.
In der Erinnerung an Ernst Reuter, den ich am Anfang meiner Rede erwähnt habe, steckt für mich zweierlei: Dankbarkeit – für die Offenheit und Mitmenschlichkeit, die die Türkei ihm und vielen anderen gegenüber bewiesen hat. Aber eben auch dies: Hoffnung. Vor 80 Jahren fanden Deutsche Schutz in der Türkei – heute suchen beunruhigend viele aus der Türkei bei uns Zuflucht vor wachsendem Druck auf die Zivilgesellschaft. Ernst Reuters Beispiel aber sollte uns Mut machen: Seine gesamte Biographie verkörpert das Ringen um die Besserung der politischen Verhältnisse, die Überwindung von Zwang und Unfreiheit, sie verkörpert die Hoffnung auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.
Diese Hoffnung hegte er für das Zusammenleben der Völker – ganz besonders natürlich für unsere beiden Länder, Deutschland und die Türkei.
Und diese Hoffnung hege auch ich, und mit mir viele Deutsche. Wir wünschen uns, dass die Türkei zwei Jahre nach dem Trauma des Putschversuchs zum Ausgleich, zum Frieden im Inneren zurückfindet. Wir wünschen uns, dass die Versöhnung der scharfen gesellschaftlichen Gegensätze auf der Grundlage von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gelingt.
Und wir wünschen uns das nicht nur. Deutschland hat ein sehr handfestes, ausgeprägtes Interesse an einer stabilen und demokratisch verfassten, einer wirtschaftlich erfolgreichen und europäisch orientierten Türkei.
Ich begrüße daher ausdrücklich alle Bemühungen, die dabei helfen, nach konfliktreichen Monaten in der jüngsten Zeit zu unserer gewachsenen guten Beziehung zurückzufinden. Zu solchen Mühen gehört der offene Austausch über das, was uns trennt. Und das war zuletzt mehr, als wir uns wünschen. Ich sorge mich als Präsident dieses Landes natürlich – das wissen Sie, Herr Präsident – um deutsche Staatsangehörige, die aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert sind. Und ich sorge mich auch um türkische Journalisten, Gewerkschafter, Juristen, Intellektuelle und Politiker, die sich noch in Haft befinden. Über eine Reihe von Einzelfällen haben wir heute Morgen ausführlich gesprochen. Ich hoffe, Herr Präsident, Sie verstehen, dass wir darüber nicht ohne weiteres hinweg und zur Tagesordnung übergehen.
Herr Präsident, Deutschland und die Türkei brauchen einander – auch in Europa. Wir brauchen einander im Ringen um einen Frieden im Nahen und Mittleren Osten, im Kampf gegen Terrorismus und im Bemühen darum, die Lage der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten der Region zu erleichtern. Herr Präsident, wir würdigen die enormen Leistungen Ihres Landes für Millionen Menschen, die aus Syrien geflohen sind. Knapp eine Million schulpflichtige Flüchtlingskinder sollen bis zum Ende des nächsten Schuljahres in das reguläre Schulsystem der Türkei eingegliedert werden. Und das ist nur ein Beispiel für die großen Aufgaben, die Migration und Integration mit sich bringen, in Ihrem Land und natürlich auch hier in Deutschland. Ich finde: Wie wir diese Aufgaben gemeinsam bewältigen können, darüber sollten wir uns verständigen.
Meine Damen und Herren, die Herausforderungen drängen uns zur Eile. Doch Verständigung braucht Zeit, sie braucht Geduld und Beharrlichkeit. Und sie braucht Vertrauen. Herr Präsident, Sie haben die große Emotionalität gespürt, die Ihrem Besuch in meinem Lande entgegenschlägt. Diese Emotionen sind Ausdruck der besonderen Beziehungen unserer Länder einerseits, aber natürlich auch Ausdruck von Irritationen der letzten Monate, die noch nicht überwunden sind. Ein Besuch allein kann Normalität nicht herstellen. Aber er könnte ein Anfang sein, der Anfang eines Weges, der über viele, konkrete Schritte zu neuem Vertrauen führt. Herr Präsident, verehrte Frau Erdoğan, darauf, dass Vertrauen zwischen unseren Ländern wieder wachsen möge, möchte ich mein Glas erheben. Darauf, dass aus der besonderen Beziehung zwischen der Republik Türkei und der Bundesrepublik Deutschland und zwischen den Menschen unserer Länder eine freundschaftliche und für beide Seiten fruchtbare Beziehung wächst!