Der Rundgang, gerade eben, durch die Ausstellung des Apartheid Museums hat mich sehr bewegt. Über den Eingangstüren steht Blankes – Whites
und Nie Blankes – Non Whites
. Hindurchzugehen ist eine eindrückliche, eine bedrückende Erfahrung.
Bewegt hat mich auch ein Stück Papier, auf dem handschriftlich Daten und Namen vermerkt sind. Nelson Rolihlahla Mandela hat auf diesem Stück Papier festgehalten, wer ihn in den 1960er-Jahren aus seiner Familie wann im Gefängnis besucht hat. Die Liste ist kurz, erlaubt war nur ein Besuch alle paar Monate. Auch dieses Stück Papier ist ein erschütterndes Dokument des Unrechts und des Leids.
Hier in Südafrika wird in diesem Jahr der 100. Geburtstag von Nelson Mandela gefeiert. Ohne ihn wäre Ihr Land heute ein anderes. Und die Welt wäre ärmer!
Ich weiß sehr wohl: Als Gast aus Europa, als deutscher Präsident muss ich Ihnen nicht davon berichten, was Nelson Mandela für das neue, demokratische Südafrika bedeutet. Aber ich will davon sprechen, was er für mich bedeutet, und für ganz viele Menschen in meinem Land.
Nelson Mandela ist ein strahlendes Symbol der Versöhnung und der Menschlichkeit. Er ist ein Vorbild als Staatsmann und als Mensch. Das ist er auch für mich ganz persönlich. Denn, obwohl ich ihm leider nie selbst begegnen konnte, sehe ich ihn täglich!
Ein berühmtes Bild des Berliner Fotografen Jürgen Schadeberg, dem Dokumentaristen der Antiapartheidbewegung, stand über Jahre und Ämter hinweg immer in meinen Amtszimmern. Und jetzt hängt es in meinem privaten Arbeitszimmer zu Hause in Berlin. Sie kennen das Foto alle, Sie sehen es auch jetzt, hier hinter mir: Es zeigt Nelson Mandela in seiner Zelle auf Robben Island, den Ellbogen auf dem Fenstersims, den Blick voller Kraft und voller Hoffnung in die Ferne gerichtet.
Mandela hat immer an seine Vision geglaubt, auch wenn sie noch so fern schien: die Vision eines demokratischen geeinten Südafrikas, in dem jeder gleiche Rechte hat, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Religion und sozialer Stellung.
Einer, der mit ihm für die Freiheit gekämpft hat, ist George Bizos. Dieser Saal hier ist nach ihm benannt, dem großen, streitbaren Juristen und Verteidiger der Menschenrechte. Wir sehen in diesem Saal viele Fotos von ihm, und er wollte auch persönlich bei uns sein. Leider ist er erkrankt und konnte nicht kommen. Doch seine Familie ist hier. Und ich bin sicher: Wir alle gemeinsam senden ihm von hier aus gute Wünsche zur Genesung!
Es war wahrlich ein Long Walk to Freedom
, den Sie und Ihr Land zurücklegen mussten. Am Ende dieses Weges konnte das unmenschliche Apartheidregime überwunden werden. Aber dieser Weg war begleitet von Gewalt und unvorstellbarem Leid. 27 Jahre sperrte das Regime Nelson Mandela ein, es zerstörte sein Leben, seine Familie, seine Liebe. Nur eines konnte das Regime nicht zerstören: den Menschen Nelson Mandela. Nie ließ er sich die Hoffnung nehmen, nie verließ sie ihn in fast drei Jahrzehnten Haft. Das hat mich noch einmal überwältigt, als ich vor kurzem seine Prison Letters
las, die nun auch in deutscher Sprache erschienen sind.
Ich erinnere mich noch gut: Als er am 11. Februar 1990 endlich freikam, hielt die Welt inne. Er, der allen Grund gehabt hätte, auf Rache zu sinnen, wollte keine Rache. Er wollte Versöhnung. Es gibt nur einen Weg in die Zukunft, das ist Frieden
, sagte er damals. Diesen Frieden bot er seinen Peinigern an, und das ist seine übermenschliche, seine historische Leistung.
Der Traum von freien, geheimen Wahlen für alle wurde schließlich wahr. Ihr Land feierte, und die Welt feierte mit, als Mandela 1994 der erste demokratisch gewählte Präsident Südafrikas wurde. Madiba war zum Sinnbild der Hoffnung geworden, für Südafrika, für Afrika, für die ganze Welt. Wie schön, dass wir heute gemeinsam an ihn erinnern können!
Nur wenige Wochen nach seiner Freilassung kam Nelson Mandela zum ersten Mal nach Deutschland. Es war Willy Brandt, der ihn eingeladen hatte, auch er einer der ganz großen Staatsmänner des vergangenen Jahrhunderts. Auch er bewunderte Nelson Mandela zutiefst, auch er hatte ihn bei einem Besuch in Südafrika nicht besuchen dürfen. Umso größer war seine Freude an diesem Junitag 1990: Lieber Nelson Mandela, Sie sind hier unter Freunden
, rief Brandt ihm zu. Das Streben nach Versöhnung und Frieden verband diese beiden – wie auch der Glauben an eine bessere, eine gerechtere Welt. Und beide erhielten dafür den Friedensnobelpreis.
Der Begegnung von Brandt und Mandela gingen Ereignisse voraus, die unsere beiden Länder verbinden.
Nur wenige Wochen vor Mandelas Freilassung fiel in Berlin die Mauer. Und es ist kein Zufall, dass zwischen diesen beiden Ereignissen, zwischen dem 9. November 1989 und dem 11. Februar 1990, nur wenige Wochen lagen.
Hier bei Ihnen, am Kap der Guten Hoffnung, und bei uns in Berlin geschah etwas ganz Seltenes: Die Geschichte unserer Länder nahm eine Wendung, die sich die meisten unter uns vorher nie hatten träumen lassen.
In Südafrika gelang das Unvorstellbare – vielen erschien es als ein Wunder: Nelson Mandela kam frei und nach Jahrzehnten der Unterdrückung und Gewalt beschritt Ihr Land den Weg hin zu einer Demokratie.
Und auch bei uns geschah etwas Unvorstellbares: Die Teilung meines Landes kam mit dem Mauerfall endlich an ihr Ende. Es entstand schließlich – ebenfalls friedlich, dank der Politik insbesondere des Kanzlers Helmut Kohl – ein demokratisches Deutschland in einem vereinten Europa!
Wenn wir uns heute an diese historische Wendung erinnern, dann erinnern wir immer auch an den Mut und die Zivilcourage derjenigen, die damals für Freiheit und Demokratie gekämpft haben – die vielen hier in Südafrika, und auch die vielen bei uns im Osten Deutschlands. Ohne diese Vorkämpfer wären wir nicht hier. Und – auch wenn sich Geschichten niemals vergleichen lassen – können wir vielleicht doch ein wenig beim jeweils anderen nachempfinden von dem, was diese mutigen Vorkämpfer für uns erreicht haben, und wofür wir heute, in unserem jeweiligen Land, so froh und dankbar sein dürfen.
Aber noch etwas verbindet uns, das mit unseren historischen Erfahrungen eng verbunden ist: unsere demokratischen Verfassungen. Es mag ja nur ein historischer Zufall sein, aber beide wurden an einem 8. Mai verabschiedet – unser Grundgesetz im Jahre 1948, Ihre Verfassung im Mai 1996. Was kein Zufall ist: Beide Verfassungen werden von vielen – und ich würde sagen, zu Recht – zu den fortschrittlichsten und besten der Welt gerechnet. Denn beide beruhen auf dem Grundsatz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Auch das verbindet uns. Wir können stolz sein auf unsere Verfassungen.
Doch wollen wir bei alledem nicht vergessen, dass die glücklichen Wendungen in unseren Ländern nicht möglich gewesen wären ohne das Ende des Kalten Krieges, ohne die Freiheitsbewegungen insbesondere in Mittel- und Osteuropa. Und sie wären nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung unserer internationalen Partner, die den Weg unserer Länder über Jahrzehnte begleitet haben.
Ich finde: Für uns heute liegt darin nicht nur Grund für Dankbarkeit über Vergangenes. Sondern es liegt auch eine Erkenntnis für die Zukunft darin: Wir alle brauchen Partner! Ohne multilaterale Zusammenarbeit können wir die großen globalen Aufgaben nicht lösen. Und auch nur gemeinsam können wir Globalisierung gerechter gestalten. In den kommenden Jahren haben wir die Chance, das ganz konkret anzugehen. Deutschland und Südafrika werden gemeinsam im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sitzen, und ich hoffe, dass wir diese Chance nutzen: beim Peacekeeping, bei Klima und Sicherheit, oder bei Gesundheit und Sicherheit. Lassen Sie uns, Südafrikaner und Deutsche, gemeinsam zeigen: Friedlicher wird die Welt nicht durch ein Jeder gegen Jeden
, sondern nur durch mehr Zusammenarbeit! Leider sieht das heute bei weitem nicht jeder mehr so.
1996 kam Nelson Mandela zum zweiten Mal nach Deutschland, nun als Präsident. Im Deutschen Bundestag sagte er den unvergesslichen Satz: We celebrate with humanity the wonder of creation: that the best can come from the worst.
The best can come from the worst: Dieser Satz trifft auf Südafrika zu, aber er trifft – auf ganz eigene Weise – auch auf die Geschichte meines Landes zu.
Erst vor wenigen Tagen haben wir in Deutschland des 9. Novembers gedacht. Der 9. November, das ist für uns Deutsche ein Datum, das für Licht, aber auch für Schatten steht.
Am 9. November 1918 wurde die erste deutsche Republik geboren. Aber sie scheiterte. Die Bürgerinnen und Bürger selbst verhalfen im Juli 1932 den Feinden der Demokratie zur Mehrheit. So begann das furchtbarste Kapitel in der Geschichte meines Landes.
Ebenfalls an einem 9. November, 1938, brannten in Deutschland die Synagogen, jüdische Geschäfte wurden geplündert, jüdische Bürger misshandelt und getötet. Diese Pogrome waren ein Vorbote der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, des Zivilisationsbruchs durch das nationalsozialistische Deutschland.
Und schließlich fiel, ebenfalls an einem 9. November, 1989, die Mauer.
Das Licht in unserer deutschen Geschichte ist nicht zu trennen von den dunklen Kapiteln, die ihm vorausgingen.
Deshalb möchte ich auch Ihnen in Südafrika sagen: Wir in Deutschland wissen um die Abgründe von Gewalt und Rassenwahn. Wir wissen um das, was Menschen anderen Menschen antun können.
Und deshalb hat für uns in Deutschland das Vermächtnis Nelson Mandelas eine besondere, eine ganz eigene Bedeutung. Mandelas Vermächtnis ist die Versöhnung. Versöhnung ist auch, was uns in Deutschland einen Neubeginn in Einheit und Freiheit ermöglicht hat.
Doch ein Unterschied ist uns sehr bewusst: Nelson Mandela hat Vergebung geschenkt – wir Deutschen haben Vergebung empfangen. Wir haben sie empfangen von unseren Partnern in der Welt und ganz besonders von unseren europäischen Nachbarn.
Die Vergebung, die wir empfangen haben, ist ein Geschenk – unsere Verantwortung bleibt es, diesem Geschenk gerecht zu werden. Auch dafür steht in meinen Augen der bereits erwähnte Willy Brandt. Sie kennen vielleicht das Bild, wie Brandt vor dem Ehrenmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto spontan auf die Knie fiel. Er, der erste Kanzler der Bundesrepublik, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Polen reiste, bat damals, am 7. Dezember 1970, um Vergebung für die Verbrechen der Deutschen.
Heute möchte ich Ihnen sagen: Die Verantwortung für Krieg und Verbrechen, die von meinem Land ausgingen, gilt auch fast ein halbes Jahrhundert nach jener Geste fort. Sie kennt keinen Schlussstrich. Auch deshalb will Deutschland ein internationaler Partner sein für die Menschenrechte, für eine kooperative, regelbasierte Friedensordnung und gegen das Ungeheuer eines aggressiven Nationalismus, das mancherorts wieder seine Klauen zeigt.
Jedes Volk schaut auf ganz eigene Weise auf seine Geschichte. Und jedes Volk muss auf eigene Weise Lehren ziehen und inneren Frieden finden. Ich weiß: Auch hier in Südafrika ist die Diskussion um die Vergangenheit nicht abgeschlossen, sind die Wunden längst nicht alle verheilt. Wie könnten sie es auch sein!
Aber bei allen Unterschieden ist uns mindestens eine wichtige Lehre wirklich gemeinsam: Nämlich dass die Demokratie, in der wir leben, nichts Selbstverständliches ist – dass sie errungen wurde, mit großem Mut und unter großen Opfern.
Und diese Lehre bedeutet auch: Unsere Demokratien sind niemals fertig und niemals perfekt – sondern es kostet immer noch Mut und Mühe, unseren Mut und unsere Mühe, um sie zu erhalten und in die Zukunft zu tragen.
Und auch das: Demokratie verlangt Kompromisse. Die sind oftmals schmerzhaft, sehr schmerzhaft sogar – wer wüsste das besser als Sie hier in Südafrika. Nur weil Sie bereit waren zu schmerzhaften Kompromissen, weil Unterdrückte den Unterdrückern die Hand gereicht haben, konnte sich das Wunder der friedlichen Transformation vollziehen. Sicher gingen die Kompromisse manchem zu weit, erschien der Preis manchem zu hoch.
Ein sehr genauer Beobachter dieses Prozesses ist Pieter-Dirk Uys, der berühmte Kabarettist. Als Evita Bezuidenhout hat er es gewagt, das Apartheidregime zu kritisieren, mit einer Waffe, gegen die es wehrlos war: Humor. Auch nach dem friedlichen Machtwechsel reiste Uys weiter als Evita Bezuidenhout durchs Land. Es war 1999, kurz vor den zweiten demokratischen Wahlen, als ein junger schwarzer Aktivist aus dem Publikum dieser Evita Bezuidenhout zurief: Madam, we fought for freedom. All we got is democracy.
Der Zwischenrufer meinte das sehr ernst. Es dauerte ihm alles viel zu lang, dieser mühsame Weg der Kompromisse. Pieter-Dirk Uys hat dieser Satz sehr beschäftigt.
Warum hat ihn das so beschäftigt? Pieter-Dirk Uys` Leben erzählt eine südafrikanisch-deutsche Geschichte, eine zutiefst bewegende. Sein Vater war Afrikaans, seine Mutter war eine jüdische Berlinerin. Als mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Schikanen in Deutschland immer schlimmer wurden, gelang es ihr 1936, nach Südafrika zu fliehen. Helga Bassel war eine begabte Pianistin. Heute steht ihr Flügel wieder in Berlin, im Jüdischen Museum, und ihr Sohn tritt dort regelmäßig auf.
Pieter-Dirk Uys kannte also aus der Geschichte seiner eigenen Familie die furchtbaren Abgründe, die sich auftun, wenn einzelnen in der Gesellschaft ihre elementaren Rechte entzogen werden. Und er hat sich wohl selbst nie vorstellen können, dass in seinem Land, in Südafrika, eines Tages wirklich gleiche Rechte für alle gelten würden.
Deshalb, sehr geehrte Gäste: We fought for freedom. All we got is democracy
. Die Wahrheit ist doch: Es gibt auf Dauer keine Demokratie ohne Freiheit, und keine Freiheit ohne Demokratie. Wer die Freiheitsrechte jedes Einzelnen respektiert, wer sie schützen will, der muss sich auf die Mühen der Demokratie einlassen.
Ja, das ist anstrengend. Die Vielfalt einer demokratischen Gesellschaft ist immer anstrengend.
Das empfinden auch viele in meinem eigenen Land so. Wir erleben, wie die Mauern zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft höher werden, der Ton rauer und unversöhnlicher. Wir haben Hass und Verrohung erlebt, längst nicht mehr nur in der Anonymität des Internets, sondern auf offener Straße. Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind auch in Deutschland nicht überwunden. Sie zu überwinden, bleibt ein ständiger Auftrag, nicht nur an die Politik, sondern an alle in unserer Gesellschaft.
Und ich weiß: Auch hier in Südafrika gibt es große gesellschaftliche Herausforderungen. Noch immer gibt es Armut und Ungleichheit, es fehlen Arbeitsplätze, und längst nicht alle haben die Chance auf eine gute Bildung und Ausbildung. Auch hier gibt es Mauern zwischen Gruppen und zwischen Menschen.
Manchen scheint die Regenbogennation Nelson Mandelas und Desmond Tutus nur noch ein schöner Traum zu sein. Aber: Der Traum der Regenbogennation ist ein Traum, für den es sich zu kämpfen lohnt! Ein Traum, der andere inspiriert – auch uns!
Ja, auf der einen Seite braucht das Zeit, es braucht Geduld, es braucht wohl mehr als eine Generation. Das ist bei Ihnen so, und das ist im wiedervereinten Deutschland nicht anders.
Aber, auf der anderen Seite, braucht es Handeln, braucht es Mut: Manche Mauer muss eingerissen werden! Wir in Deutschland haben gute Erfahrungen damit gemacht. Wir haben die eine große Mauer eingerissen, mit dem Mut und Freiheitswillen. Aber wahr ist auch: Es sind andere, neue Mauern zwischen uns entstanden.
Deshalb wünsche ich mir für unsere beiden Nationen, dass weitere Mauern fallen: Mauern der Ungleichheit, Mauern von Sprachlosigkeit und Wut. Nur wenn wir diese Mauern abtragen, sehen wir wieder, was uns verbindet – und nicht nur, was uns trennt.
Denn diese Frage treibt die Menschen um, bei uns wie hier in Südafrika: Was verbindet Zulu, Xhosa und Basotho, Inder und Coloureds, die Nachfahren der Holländer und Briten? Was bedeutet es, in einem Land zusammenzuleben, in dem die große Mehrheit der Menschen jahrzehntelang, ja jahrhundertelang unterdrückt wurde?
Was verbindet eine Gesellschaft bei uns in Deutschland, die jahrzehntelang geteilt war, in der die Menschen zwar die gleiche Sprache sprechen, aber in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen gelebt haben? Und die Frage nach dem Zusammenhalt wird noch sehr viel lauter gestellt, seitdem wir Hunderttausende von Flüchtlingen, die meisten aus ganz anderen Kulturen, aufgenommen haben.
Ich weiß, in einer Gesellschaft wie der Ihren stellt sich die Frage nach der Vielfalt noch sehr viel dringlicher. Aber mit dem Blick von außen kann ich Ihnen sagen: Das Zusammenleben in Vielfalt ist auch etwas, wofür die Welt Ihr Land bewundert!
Aus dieser Vielfalt entsteht ganz vieles, was Menschen bewegt, verbindet und letztlich Gesellschaften zusammenführen kann: Kultur, Musik oder Kunst, Wissenschaft und Unternehmertum, unendlich viele Ideen und Initiativen – vieles davon kann ich auf dieser Reise in Ihren Städten sehen.
Ich verspreche mir von diesem Besuch aber nicht nur schöne Eindrücke, sondern auch Anregungen und Austausch darüber, wie wir das Zusammenleben in Vielfalt friedlicher gestalten können, wie wir unsere gesellschaftlichen Herausforderungen, die wir in Deutschland wie in Südafrika haben, angehen können.
Ich denke zum Beispiel an das Thema Migration und Flucht, das heute in meinem Land viele, manchmal zu viele Debatten über Afrika prägt und dominiert. Südafrikas Wirklichkeit erinnert uns in Deutschland daran, dass Flucht und Migration nicht nur nach Europa stattfinden. Ihr Land hat selbst sehr viele Menschen aufgenommen, aus Ihren Nachbarländern, aus ganz Afrika. Das ist eine Leistung, die Respekt, Anerkennung und Unterstützung verdient. Viele Menschen in Afrika fliehen vor Krieg und Gewalt nach Süden, viele kommen aber auch hierher, weil sie von einem besseren Leben träumen. Sie in Südafrika stehen also vor ähnlichen Herausforderungen wie wir in Deutschland.
Auch darüber will ich das Gespräch suchen. Denn wir in Deutschland haben – das bemerken Sie an meinen kurzen Ausführungen – beileibe nicht alle Antworten. Auch als Bundespräsident bin ich manchmal, sogar häufiger, ein Suchender. Und ich glaube, dass wir uns sehr viel zu sagen haben und sehr viel voneinander lernen können.
Während ich das sage, ist mir sehr bewusst, dass es diese Bereitschaft zur Verständigung und zur Zusammenarbeit nicht immer gegeben hat. In jenem Jahr 1990, als Mandela zum ersten Mal nach Deutschland kam, haben ihn beileibe nicht alle als Freund gesehen. Zur Wahrheit gehört auch, dass auch Deutschland lange Zeit an Wirtschaftsbeziehungen mit dem Apartheidregime festgehalten hat. 1996 schließlich empfing mein Vorgänger Roman Herzog Nelson Mandela zum Staatsbesuch in Deutschland. Damals richteten beide Länder den Blick nach vorn. Die Gründung der deutsch-südafrikanischen Binationalen Kommission stand für die Überzeugung, dass Europa und Afrika eine gemeinsame Zukunft verbindet.
Leider haben wir die Jahre danach nicht immer genutzt, um gemeinsamen Antworten und Lösungen näher zu kommen. Heute hat sich in meinen Augen die Debatte in Deutschland aber verändert. Ich sehe ermutigende Signale, dass wir einander mit einer neuen Offenheit begegnen, wie sie Horst Köhler, ebenfalls mein Vorgänger, gefordert hat. Ihm lag als Bundespräsident und liegt noch heute Afrika besonders am Herzen. Und auch seine Nachfolger haben Afrika als einen Schwerpunkt in ihre Aufgaben übernommen.
Ende Oktober hatte ich in Berlin Staats- und Regierungschefs aus sieben afrikanischen Ländern zu Gast – auch Ihr Präsident Cyril Ramaphosa war dabei, und ich freue mich sehr auf unsere nächste Begegnung morgen in Kapstadt.
In Berlin herrschte an jenem Abend Einigkeit, dass wir neue Partnerschaften brauchen zwischen Afrika und Europa. Der Compact with Africa
, den Bundeskanzlerin Merkel im G20-Rahmen angestoßen hat, ist Ausdruck einer solchen Partnerschaft, mit der wir neue Potenziale für Investitionen, für Arbeitsplätze, für neue Formen der Zusammenarbeit erschließen wollen. Und es gibt starke Signale der deutschen Wirtschaft – viele Vertreter sind hier im Saal –, sich auch hier bei Ihnen, in Südafrika, noch stärker zu engagieren, als in der Vergangenheit.
Damit neue Partnerschaften gelingen können, müssen wir auch unsere Wahrnehmung des jeweils anderen kritisch prüfen. Wir Europäer schauen noch immer zu sehr auf Afrika als den einen, großen Krisenkontinent. Das eine Afrika gibt es nicht. Natürlich nicht. Meine Reise soll auch dazu dienen, den Menschen in Deutschland einen differenzierten Blick auf Afrika nahezubringen. Auf einen Kontinent mit 54 Ländern, mit einer faszinierenden Geschichte, einer unendlich vielfältigen Kultur.
Aber umgekehrt gilt auch: das eine Europa gibt es nicht. Auch Europa ist vielfältig. Allein die Europäische Union besteht aus 28 Staaten. Europa als Kontinent umfasst wie Afrika 50 Staaten und mehr, Länder mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen. Aber auch: mit ganz eigenen Problemen! Die Europäische Union ist auf die Probe gestellt wie selten zuvor. Sie muss neue Antworten geben: auf die Frage nach der Offenheit unserer Gesellschaften, auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten der Globalisierung, auf die Frage nach der Bereitschaft zur Zusammenarbeit, zu friedlichen Kompromissen mit Nachbarn und Partnern.
Ob in Europa, ob in Afrika: Wir leben in Zeiten voller Bewegung! Wir leben in Zeiten des Aufbruchs! Das spürt man derzeit ganz besonders in Ihrem Land: Südafrika wagt einen neuen Aufbruch, und dafür wünsche ich Ihnen Zuversicht und viel gemeinsamen Willen!
Denn: Wir brechen auf in eine Zukunft, die offen ist. Vielleicht offener denn je! Und, wenn wir uns derzeit umschauen auf der Welt, dann sehen wir an vielen Beispielen: Der Aufbruch kann in höchst unterschiedliche Richtungen verlaufen. Er kann ein Aufbruch sein, der das Gemeinsame stärkt – oder ein Aufbruch, der Gräben vertieft.
Ich wünsche mir, dass wir alles tun, damit es ein Aufbruch wird, der uns zusammenführt!
Dass wir die Vergangenheit nicht vergessen, aber uns nicht zu ihrem Gefangenen machen lassen. Dass wir die Energie, die es gibt, nicht in Empörung und Konfrontation, sondern in Zuversicht und Gestaltungswillen verwandeln.
Das wünsche ich mir für Ihr Land und für mein Land – das wünsche ich mir für die Freundschaft zwischen unseren Völkern!