Herzlich willkommen! Ich freue mich, dass wir uns heute sehen – endlich könnte man fast sagen. Die Suche nach einem Nachfolger für Sie, lieber Herr Kirchhof, war in der Tat ungewöhnlich lang. Manchmal ist es vielleicht ganz schön zu erfahren, dass man gebraucht wird. Aber schon beim letzten Zusammentreffen waren Sie der Meinung, es reicht langsam. Denn Ihre Amtszeit endete offiziell bereits am 30. Juni dieses Jahres. Dennoch, so möchte ich betonen, die Vorsorge des Gesetzgebers, die er für den Fall getroffen hat, dass die Nachfolge nicht pünktlich geregelt werden kann, war äußerst klug, wie wir gerade in diesen Tagen wieder erfahren. Denn er hat geahnt, dass unser rechtsstaatliches Auswahlverfahren, das für die Wahl von Verfassungsrichtern eine Zweidrittelmehrheit und damit einen hohen politischen Konsens in den Wahlorganen verlangt, eben deshalb auch einmal länger dauern kann. So ist die Regelung in § 4 Absatz 4 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes sehr vorausschauend, dass Amtsinhaber im Amt zu bleiben haben bis Nachfolger ernannt und vereidigt sind. Und wenn es dann einmal etwas länger dauert, dann löst es Ungeduld nicht nur beim Amtsinhaber aus. Ganz gleich, ob es um die Bildung von Regierungen geht oder um die Berufung von Verfassungsrichtern, wenn es lange dauert und länger als erwartet, dann wird über das Verfahren geredet und Kritik am Verfahren geübt. Ich habe das alles verfolgt, Vorschläge zu besseren Lösungen habe ich nicht gesehen. Bei uns ist die Justiz unabhängig, und es gibt keine einseitige politische Einflussnahme auf die Justiz. Auch wenn manche das in unseren Nachbarländern, die durchaus Anlass hätten, auf die Erhaltung ihrer rechtsstaatlichen Mindeststandards zu schauen, dies öffentlich weismachen wollen. Selbstverständlich ist die Auswahl der Mitglieder der Verfassungsgerichtsbarkeit ein politischer Prozess. Aber das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit und der Wechsel zwischen den Wahlorganen Bundestag und Bundesrat bieten eben auch Gewähr dafür, dass Personen gefunden werden, die den Erfordernissen von unabhängigen Richterinnen und Richtern in hohem Maße genügen. Dass uns das in der Vergangenheit gelungen ist und dass dies in der Gegenwart ebenso der Fall ist, das sehen wir gerade heute.
Lieber Herr Kirchhof,
Sie mussten seit dem 30. Juni Geduld beweisen. Geduld zu beweisen ist indes für Sie nichts Neues. Denn schon 2005 waren Sie Kandidat für das Bundesverfassungsgericht – die Wahlberechtigten haben sich dann für einen anderen Kandidaten entschieden. Indes: Sie konnten das gelassen sehen. Qualität setzt sich durch – und so kamen Sie 2007 dann zum Zuge.
Natürlich erfüllten Sie alle Voraussetzungen, die Verfassungsrichter auszeichnen. Bei Ihnen kommt zudem vielleicht noch eine besondere Veranlagung hinzu: Eine Art Jura-Gen scheint in Ihrer Familie zu liegen. Ihr Vater war Richter am Bundesgerichtshof, Ihr älterer Bruder Paul war Richter des Bundesverfassungsgerichts. Und wie ich gehört habe, sind Nichten und Neffen ebenfalls Richter geworden. Einer der Neffen ist sogar in die Fußstapfen von Ihnen und Ihrem Bruder getreten und ist bereits Staatsrechtslehrer. Das Juristische liegt sozusagen in der Familie. Da geht der Gesprächsstoff nicht aus – zumal auch Ihre Gattin Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgerichtshof in Mannheim ist.
Lieber Herr Kirchhof,
Sie hat eine geradlinige, beeindruckende juristische Karriere in das Amt des Bundesverfassungsrichters geführt. Und, wie ich festgestellt habe, Sie haben schon ganz früh Witterung aufgenommen: Sie legten Ihr Abitur schon ganz in der Nähe der späteren Wirkungsstätte ab, nämlich am Bismarck-Gymnasium in Karlsruhe. Es lag nur ein paar Straßen vom damaligen Gebäude des Bundesverfassungsgerichts entfernt, an dem Sie auf Ihrem Schulweg jeden Tag vorbeikamen. Nach einer zweijährigen Bundeswehrzeit studierten Sie in Freiburg, Heidelberg und Speyer, um anschließend zielstrebig die akademische Laufbahn einzuschlagen: Sie legten 1981 eine Promotion über Die Höhe der Gebühr
in Heidelberg vor und habilitierten sich über Private Rechtsetzung
in Speyer 1985. Nach Lehrtätigkeiten in Saarbrücken, München und Speyer übernahmen Sie 1986 dann an der Universität Tübingen den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht. In beiden Fachgebieten, das darf man, glaube ich, immer noch sagen, liegt bis heute ein Schwerpunkt Ihres wissenschaftlichen Interesses. Dabei weist Ihr Publikationsverzeichnis über 170 wissenschaftliche Beiträge aus: vom Grundriß des Steuer- und Abgabenrechts
über Die Finanzen des Föderalismus
oder Die Entwicklung des Sozialverfassungsrechts
bis hin zu einem klassischen Thema des Steuerrechts: Das Leistungsfähigkeitsprinzip nach dem Grundgesetz
– um nur einige ganz wenige Beiträge aufzuzählen.
Neben dem akademischen Engagement – Sie waren auch Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen und ihr Prorektor – suchten Sie immer auch den Kontakt zur Praxis. Hervorheben möchte ich nur Ihr Wirken als gewähltes Mitglied der Föderalismuskommission in den Jahren 2003/2004 – ich erinnere mich, eine Zeit, in der wir uns häufig über den Weg gelaufen sind – und Ihre Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof für Baden-Württemberg von 2003 bis 2007.
Lieber Herr Kirchhof,
Sie zeichnen sich durch fachliche Exzellenz, aber auch, wenn ich das so nennen darf, durch eine unaufgeregte Zurückhaltung aus. Selbst wenn Sie nicht selbst veröffentlicht haben, haben Sie immer dann, wenn Sie gefragt wurden, mit Ihren Meinungen nicht hinterm Berg gehalten – immer mit richterlicher Bescheidenheit, doch zugleich prononciert und, wo notwendig, meinungsstark.
Demo-crazy
etwa – das war der Titel Ihrer Analyse zur Lage der Demokratie in Deutschland und Europa Ende des vergangenen Jahres. Wie ich finde, ein lesenswertes Stück über die gegenwärtigen Gefahren für Demokratie und Rechtsstaat. In vielem sind wir einer Meinung, was das von Ihnen vorgeschlagene Heilmittel einer Einführung von direktdemokratischen Elementen auf Bundesebene angeht, bin ich aus etwas grundsätzlichen Überlegungen eher skeptisch – wichtig ist aber, dass konkrete Vorschläge die Diskussion befruchten und anfeuern. Und das zeichnet Ihre öffentlichen Wortmeldungen in ganz besonderem Maße aus.
Im ersten Senat waren Sie in der Hauptsache für das Sozialrecht
zuständig. Es hat damals niemanden gewundert: In diese für Sie fachlich noch relativ neue Materie haben Sie sich bei Amtsantritt mit der für Sie typischen Akribie und Freude eingearbeitet. Obwohl sozialrechtliche Regeln für viele Menschen in unserer Gesellschaft unmittelbare Wirkung haben, hat das Fach in der juristischen Zunft einen etwas weniger glamourösen Ruf. Welche Bedeutung Entscheidungen aber auf diesem Gebiet haben können, hat das Urteil zum Existenzminimum gezeigt. Zeitungen kommentierten die von Ihnen als Berichterstatter betreute Entscheidung damals, dass Sie ein teurer Richter für den Staat seien. Tatsächlich haben Sie den Gesetzgeber bei der Bemessung sozialer Transferleistungen an die Beachtung der Verfassung erinnert. Nicht mehr und erst recht nicht weniger – aber genau Ihre Aufgabe. Dass Bürgerinnen und Bürger in sozialpolitischen Fragen immer öfter die Hilfe des Bundesverfassungsgerichts suchen, zeigt auch die Zahl der von Ihnen betreuten Verfahren: Insgesamt waren Sie Berichterstatter in 3.238 Verfahren, die überwiegende Zahl waren Verfassungsbeschwerden. Viele dieser Entscheidungen sind für die Lebenswirklichkeit zahlreicher Menschen in unserem Land wichtig, existenziell wichtig. Ich nenne nur drei, die dies verdeutlichen: etwa die Entscheidungen zum Basistarif in der privaten Krankenversicherung, das Urteil über die Hartz-IV-Regelleistungen, in dem es um den Anspruch auf ein Existenzminimum ging, und die Entscheidung zum Umfang der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung.
Hinter dem Staatsrechtler, Verfassungsrichter und Vizepräsidenten steht der Mensch Ferdinand Kirchhof. Er drängt nicht in die Öffentlichkeit, und es gibt – soweit ich weiß – auch keine Homestories
über Sie. Aber wer mit Ihnen zusammenkommt, lieber Herr Kirchhof, mit Ihnen zusammenarbeitet oder über Fachfragen diskutiert, erlebt – das sage ich aus eigener Erfahrung – einen ungemein zugewandten und, wie ich finde, sehr humorvollen Menschen. Als solchen habe ich Sie immer wieder kennengelernt bei den zahlreichen Gelegenheiten, bei denen wir uns in der Vergangenheit begegnet sind. Sie gehen offen und neugierig auf Ihr Gegenüber zu. Sie diskutieren lieber als zu dozieren. Und besonders betont wird von Ihren Kolleginnen und Kollegen Ihre Bereitschaft, sich durch gute Argumente durchaus auch von anderen Positionen überzeugen zu lassen. So wichtig wie Ihnen Diskussionen sind, ist Ihnen ebenso wichtig das Wohlergehen der Menschen in Ihrer Umgebung. Ihr Wie geht es Ihnen?
, so ist mir versichert worden, ist nie nur eine rhetorische Frage geblieben, sondern Ausdruck wirklicher Neugier, zu erfahren, wie es Ihrem Umfeld, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kolleginnen und Kollegen tatsächlich geht. Sie legen, auch das ist versichert, Wert auf ein angenehmes, ausgeglichenes Arbeitsklima – im Senat genauso wie im Team Ihres Dezernats. Dort rühmt man Sie wegen Ihres Pflichtbewusstseins, Ihres großzügigen Wesens und Ihrer Bescheidenheit. Und deshalb, aus all diesen Gründen, bin ich überzeugt, Sie haben mit Ihren menschlichen und fachlichen Vorzügen wesentlich dazu beigetragen, gerade in Ihrem Amt als Vizepräsident, das Gesicht des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit mit zu prägen.
Mit Ihnen, lieber Herr Kirchhof, verlässt ein nicht nur erfahrener, sondern auch überaus kompetenter Richter das Bundesverfassungsgericht. Ich bin mir sicher, Sie werden sich auch künftig mit klugen und durchdachten Beiträgen zu Wort melden – auch wenn Sie gesagt haben sollen, man werde sich wundern, wie viele Anfragen Sie in Zukunft ablehnen werden.
Für Ihr Engagement und Ihren Einsatz spreche ich Ihnen heute meinen Dank und meinen wirklich großen Respekt aus. Als sichtbare Anerkennung Ihrer Verdienste für unseren Staat darf ich Ihnen daher – erst nach Überreichung der Entlassungsurkunde – das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verleihen.
Lieber Herr Harbarth,
der Bundestag hat Sie am 22. November 2018 zum Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt, der Bundesrat am 23. November 2018 zum Vizepräsidenten als Nachfolger von Herrn Kirchhof. Dazu darf ich Ihnen von Herzen gratulieren.
Für Sie enden damit heute zwei berufliche Lebensabschnitte, der des Anwalts und der des Politikers. Sie wechseln – so könnte man sagen – zweifach die Seiten: von der Legislative in die Judikative, vom Anwaltstisch auf die Richterbank.
Ich bin überzeugt, Bundestag und Bundesrat haben eine gute Wahl getroffen. Sie sind für neue Aufgaben in jeder Hinsicht gerüstet: Nach dem Abitur im Jahre 1991 studierten Sie in Heidelberg Rechtswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität. Im Anschluss an die Erste Juristische Staatsprüfung 1996 wechselten Sie für den Vorbereitungsdienst nach Berlin, wo Sie von 1997 bis 1999 gewirkt haben und den Sie mit der Zweiten Juristischen Staatsprüfung abgeschlossen haben. Während dieser Zeit schrieben Sie Ihre Dissertation mit dem Titel Anlegerschutz in öffentlichen Unternehmen
. 1998 promovierte Sie die Universität Heidelberg. Es schloss sich ein Auslandsstudium in den USA mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an. An der Yale Law School erwarben Sie den akademischen Grad eines Masters of Laws. Sie wechselten im Anschluss daran in eine auf Wirtschaftsrecht spezialisierte Sozietät.
Schon seit Jugendjahren politisch tätig, war es vielleicht folgerichtig, dass Sie 2009 in die aktive Politik gingen. Seither vertraten Sie – direkt gewählt – den Wahlkreis Rhein-Neckar im Bundestag. Dass Sie, lieber Herr Harbarth, neben all diesen beruflichen Aktivitäten seit 2004 als Lehrbeauftragter und seit diesem Jahr als Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg wirken, zeigt Ihre große Arbeitskraft und hohe Belastbarkeit, darauf freuen sich Ihre Kolleginnen und Kollegen. Sie werden diese angesichts des großen Arbeitsanfalls in Karlsruhe wohl auch in Zukunft brauchen.
Mit Ihrer Wahl, lieber Herr Harbarth, wird eine oft beklagte Leerstelle im Bundesverfassungsgericht besetzt – fehlende Präsenz anwaltlicher Expertise nämlich. Und auch die Erfahrungen in der Politik sind keineswegs schädlich, vor allem wenn sie sich mit unbestrittener juristisch-fachlicher Kompetenz verbinden, wie das bei Ihnen der Fall ist. Ich bin überzeugt, mit Ihren vielfältigen Erfahrungen werden Sie das Bundesverfassungsgericht bereichern. Ihre Kolleginnen und Kollegen werden Ihnen – da bin ich sicher – den Wechsel in die neue Aufgabe leicht machen. Für den neuen Lebensabschnitt und die neuen Aufgaben wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute.