100-jähriges Jubiläum der Internationalen Arbeitsorganisation ILO

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 12. März 2019

Der Bundespräsident hat am 12. März beim Festakt zum 100-jährigen Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Berlin eine Ansprache gehalten: "Gesunde und gute Arbeitsbedingungen sind ein menschliches Grundrecht! Sie gehen uns alle an! Und dafür brauchen wir auch in Zukunft eine starke Stimme, die diese Forderung um die Welt trägt. Wir brauchen eine starke Internationale Arbeitsorganisation, und ich bin froh: Wir haben sie!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Festakt zum 100-jährigen Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO im ewerk in Berlin

Herzlichen Dank für die Einladung! Ich bin heute gern gekommen! Ich sage das nicht einfach so, weil es an den Anfang einer Rede gehört, sondern weil mir Ihre Themen am Herzen liegen. Decent work – so heißt eines der Leitbilder bei der Internationalen Arbeitsorganisation. Und ich finde, das ist genau die richtige Überschrift: Anständige Arbeitsverhältnisse, menschenwürdige Bedingungen – dafür hat die ILO nicht nur in 100 Jahren ihrer Geschichte gekämpft, sondern das bleibt auch die Herausforderung für unsere Zeit. Was heißt menschenwürdige Arbeit in der Digitalisierung? Welche Normen für anständige Arbeitsverhältnisse brauchen wir in dieser neuen, vernetzten Welt?

Die Internationale Arbeitsorganisation bleibt die Vordenkerin und Vorkämpferin der Arbeit – auch in diesen Fragen. Deswegen das Wichtigste zu Beginn: Wie gut, dass es sie gibt! Alles Gute zum 100. Gründungsjubiläum!

Runde Geburtstage sind eine schöne Gelegenheit, gedanklich in eine Zeitmaschine zu steigen. Blicken wir zurück auf den Jahreswechsel 1918/19, mitten in die revolutionären Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg. In Versailles wird über die Kriegsschuldfrage, über Reparationen und neue Grenzziehungen in Europa verhandelt, aber auch über eine Nachkriegsordnung, die eine Friedensordnung sein sollte.

Was daraus wurde, ist bekannt. Weniger bekannt ist: Die Versailler Verträge bringen auch andere, geradezu revolutionäre Ideen hervor – humane Arbeitsstandards werden Teil der internationalen Rechtsordnung. Und eine internationale Organisation überprüft deren Umsetzung: das ist die Geburtsstunde der ILO.

In Berlin wurde wenige Monate zuvor das Stinnes-Legien-Abkommen geschlossen. Zum ersten Mal wurde die kollektive Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft anerkannt. Die Vereinigungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern verhandelten erstmals auf Augenhöhe miteinander. Lohnvereinbarungen waren also nicht mehr die Folge individueller Abhängigkeit des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber, sondern das Ergebnis anerkannter Tarifverhandlungen.

Das bedeutet: Die Konflikte der Vergangenheit waren zwar nicht verschwunden, aber es gab nun einen geordneten Prozess, diese Konflikte über die Lohnfindung auszuhandeln. Und: die Verhandlungsmacht hatte sich ein Stück weit zugunsten der Arbeitnehmer verschoben. Es war der Beginn der Sozialpartnerschaft auf deutschem Boden.

Die ILO überträgt diese Ideen auf die internationale Ebene. Unerhört fortschrittlich scheinen ihre Forderungen für die damalige Zeit: eine 48-Stunden-Woche, sechs Wochen Mutterschutz vor und nach der Entbindung und, damals wirklich revolutionär, keine Kinderarbeit in Industriebetrieben.

Und mehr noch: Diese Rechte sollen universelle Gültigkeit erhalten! Was für eine bahnbrechende Forderung! In der Präambel der ILO-Verfassung heißt es, dass die Nichteinführung wirklich menschenwürdiger Arbeitsbedingungen durch eine Nation die Bemühungen anderer Nationen um Verbesserung des Loses der Arbeitnehmer in ihren Ländern hemmen. Heute würden wir sagen: Gute Arbeit gelingt nur gemeinsam! Arbeit ist keine Ware! Bei Arbeitsrechten reicht nicht der kleinste gemeinsame Nenner!

Was also entlang der globalen Wertschöpfungskette passiert, in den Textilfabriken in Bangladesch oder den Steinkohleminen in Kolumbien, darf uns hier in Deutschland und anderswo nicht gleichgültig sein! Gesunde und gute Arbeitsbedingungen sind ein menschliches Grundrecht! Sie gehen uns alle an! Und dafür brauchen wir auch in Zukunft eine starke Stimme, die diese Forderung um die Welt trägt. Wir brauchen eine starke Internationale Arbeitsorganisation, und ich bin froh: Wir haben sie! Herzlichen Glückwunsch zum hundertjährigen Geburtstag!

Wir leben in einem Land, in dem die Wirtschaft zurzeit wächst und die Arbeitslosigkeit weiter sinkt. In einem Land, in dem es vergleichsweise gut um die Arbeitsstandards bestellt ist. Wir haben eine soziale Marktwirtschaft, in der die Organisationen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ihre Verantwortung anerkennen. Und staatliche Politik, die die historisch gewachsene Sozialpartnerschaft respektiert und sich der eigenen Verpflichtung bewusst ist, das Arbeitsrecht stets zu modernisieren und anzupassen.

Aber auch bei uns gibt es Nachholbedarf. Eine Kernarbeitsnorm der ILO aus dem Jahr 1951 trägt den Titel Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit. Ratifiziert wurde das Abkommen in Deutschland im Jahr 1955. Aber wie steht es um die Umsetzung? Ich wünschte, das wäre eine rhetorische Frage. Allerdings zeigen Studien, die alle Jahre wieder zum Weltfrauentag erscheinen, dass die Verdienstlücke weiterhin weit auseinanderklafft. Noch einmal ein halbes Jahrhundert Verzögerung sollten wir uns nicht leisten!

Sie sehen, auch bei uns gibt es Bedarf für etwas Orientierung und Druck von internationaler Ebene. Und manchmal tut eine sanfte Ermahnung auch unserem Land gut. Denn internationale Normen sind keine Bevormundung von oben, sondern sie ermöglichen der Weltgemeinschaft, einem großen Ziel etwas näher zu kommen: menschenwürdige Arbeit für alle!

1919 ist dieser Ansatz einer internationalen Zusammenarbeit revolutionär. Noch vor Gründung des Völkerbunds schließen sich souveräne Staaten in einer internationalen Organisation zusammen, um – zum ersten Mal überhaupt – gemeinsame Herausforderungen gemeinsam zu lösen. Es sind die Anfänge eines institutionalisierten Multilateralismus, oder – um ein Modewort aufzunehmen – einer regelbasierten Global Governance.

US-Präsident Franklin D. Roosevelt sprach 1941 rückblickend vom Traum einer internationalen Zusammenarbeit: Für viele, so Roosevelt, war es 1919 ein kühner Traum. Wer hatte je davon gehört, dass Regierungen zusammenkommen, um Arbeitsstandards auf internationaler Ebene anzuheben?

Heute, in einer Zeit, in der sich die Waren- und Datenströme jedes Jahr beschleunigen, alles mit allem vernetzt wird, in der unsere Welt immer enger zusammenwächst, wird diese Verknüpfung von nationaler und internationaler Politik immer wichtiger. Nichts macht sie so dringlich wie die Digitalisierung, der bedeutendste Strukturwandel seit der Industrialisierung vor 150 Jahren.

Wenn ich mich hier in diesem ehemaligen Umspannwerk umsehe, dann symbolisiert dieser Ort geradezu das thematische Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen. Einst eine Kathedrale der Elektrizität, mit ihren Schalttafeln und Lastenkränen ein Symbol für das industrielle Zeitalter, könnten heute hier in Berlin-Mitte auch Start-up-Gründer mit Laptops unter den Armen durch die Gänge laufen. Vor unseren inneren Augen begegnen sich die Arbeitswelten von gestern, heute und morgen.

Die Digitalisierung der Arbeit stellt uns vor folgendes Dilemma: Wie schöpfen wir ihre Chancen aus, ohne die Nebenwirkungen, von denen wir manche schon spüren, achselzuckend in Kauf zu nehmen?

Ich muss Ihnen keine wissenschaftlichen Studien referieren, die Sie im Zweifel besser kennen als ich, um zu folgendem Schluss zu kommen: Automatisierung und Digitalisierung bedeuten nicht das Ende der Arbeit. Sie wird uns nicht ausgehen. Die Frage ist eher: Wie verändern sie das Arbeitsleben jedes Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt? Und was können wir tun, damit die Menschen keine Angst vor dem sozialen Abstieg haben, sondern Lust auf Zukunft bekommen?

Die Antwort klingt einfach: Gute Politik auf nationaler Ebene braucht Unterstützung durch wirksame internationale Normen. Beide Ebenen bedingen einander. Unsere Welt ist zu vernetzt, als dass nationales Handeln allein zum Erfolg führt. Aber internationale Normen ohne wirksame Umsetzung auf nationaler Ebene laufen ebenso ins Leere. Beide müssen ineinandergreifen.

Das ist wichtig für einen wirksamen Schutz von Arbeitnehmerrechten. Digitale Geschäftsmodelle krempeln Branchen um, gefährden Jobs – schaffen aber auch neue. Nur dürfen diese neuen Jobs nicht zu Arbeitsverhältnissen zweiter Klasse werden!

Wer sorgt dafür, dass Arbeitsrechte eingehalten werden, wenn Arbeit seltener im Betrieb stattfindet? Wenn Plattformen den klassischen Arbeitgeber ersetzen, aber nicht an dessen Stelle als Adressat von sozialpolitischen Verpflichtungen treten? Wie verhindern wir, dass eine regel- und grenzenlose Click- und Gig-Ökonomie die Arbeitsnormen weltweit nach unten drückt? Wie können wir faire Wertschöpfungsketten auch bei Bits und Bytes erreichen?

Alles offene Fragen, auf die wir Antworten brauchen! Ich weiß, dass die ILO daran mit Hochdruck arbeitet. Der Bericht Ihrer Globalen Kommission zur Zukunft der Arbeit ist ein guter Schritt. Eine Idee zieht sich als roter Faden durch diesen Bericht: höhere Investitionen. Höhere Investitionen in Bildung, höhere Investitionen in aktive Arbeitsmarktpolitiken, höhere Investitionen in gute Arbeitsbedingungen. Das wäre gleichzeitig ein Beitrag gegen den weltweit sich verbreitenden Eindruck, die neuen Zeiten würden automatisch ungerechtere Zeiten. Diesen Automatismus gibt es nicht!

Wenn wir die Dividende der Digitalisierung einfahren wollen, müssen wir also rechtzeitig investieren, um die Menschen auf den Arbeitsmarkt der Zukunft vorzubereiten. Und das lässt sich nur finanzieren, wenn auch Digitalunternehmen sich ihrer Steuerpflicht weltweit nicht entziehen. Gewinne nicht in Steueroasen zu verschieben, die eigentlich Nichtbesteuerungsoasen heißen müssten, das muss auch für Digitalunternehmen eine Selbstverständlichkeit sein. Und da, wo das noch stattfindet, muss das beendet werden!

Dass wir solche Ziele auch erreichen können, wenn alle an einem Strang ziehen, das zeigen die Diskussionen um Arbeitnehmerrechte in Freihandelsabkommen. Auch dank der ILO hat das alte Verständnis, jeder Freihandel sei bedingungslos gut, sich mittlerweile fortentwickelt. Unsere Erwartungen richten sich an einen freien und fairen Handel. Und fairer Handel ist ohne starke Arbeitsnormen und Arbeitnehmerrechte nicht denkbar! Es geht dabei auch darum, den Mittelschichten, die für ihren Lebensunterhalt auf Arbeit angewiesen sind, das Vertrauen in die Vorzüge der Globalisierung zurückzugeben. Und deswegen ist es gut, dass in den neuen EU-Freihandelsabkommen mit Kanada und mit Japan eben jene Arbeitsrechte eine bedeutende Rolle spielen, und ich bin sicher: Sie sind auch aus allen künftigen Verhandlungen nicht mehr wegzudenken.

Für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung und Digitalisierung brauchen wir also mehr internationale Zusammenarbeit, nicht weniger!

Und so ist es ein Paradox, dass einige versuchen, gerade jetzt unsere internationale Ordnung zu zerstören. Take back control oder das eigene Land zuerst, die Schlachtrufe ähneln sich, so wie wahrscheinlich die Ergebnisse: Am Ende droht anstelle eines Kontrollgewinns ein umso größerer Kontrollverlust.

Gerade wir in Europa müssen unsere Kräfte bündeln, um unsere Werte zu verteidigen. Denn es gibt auf der Weltbühne nur zwei Arten von Mitgliedstaaten in der EU: die kleinen und diejenigen, die noch nicht bemerkt haben, dass wir alle kleine Staaten sind im weltweiten Maßstab.

Und doch behaupten die neuen Nationalisten, internationale Kooperation schwäche die nationale Souveränität. Die Europäische Union oder andere internationale Organisationen nähmen ihnen die Freiheit zur eigenen Entscheidung. Das Gegenteil ist richtig! Gemeinsames Handeln widerspricht nicht der nationalen Souveränität – nein, es ergänzt, es verstärkt sie sogar. Die Geschichte lehrt uns: Wenn internationale Zusammenarbeit eine Freiheit einschränkt, dann die Freiheit der autoritär Herrschenden, ungestört ein Regime der Unfreiheit zu errichten!

Und das zeigt uns auch die Geschichte dieser ILO: Die Kernarbeitsnormen setzten Standards für Freiheit und Demokratie und gegen Unterdrückung. Bürgerrechtler und Gewerkschaftler beriefen sich in ihrem Kampf auf diese Abkommen, etwa auf das Recht auf freie gewerkschaftliche Vereinigung. Lech Wałęsa protestierte 1981 bei der ILO in Genf gegen die Verhängung des Kriegsrechts in Polen, die Hand zum Victoryzeichen nach oben gestreckt.

Auch das Apartheidregime in Südafrika stand unter großem internationalem Druck. Es stieg sogar aus der ILO aus, um einem drohenden Stimmentzug zuvorzukommen.

Und dann, im Juni 1990, kam Nelson Mandela nur wenige Monate nach seiner Freilassung nach Genf. In seiner Rede an die Internationale Arbeitskonferenz sagte er: Trotz der dicken Gefängnismauern auf Robben Island haben wir Ihre Stimmen, die unsere Freilassung forderten, laut und deutlich gehört. Auch Ihrem Druck haben wir es zu verdanken, dass die Gefängnismauern brüchig wurden und schließlich einstürzten.

Darauf dürfen Sie als Organisation zu Recht stolz sein! Erheben Sie auch in Zukunft Ihre Stimme, wo Arbeitsrechte missachtet, wo Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt werden! Auch dafür brauchen wir die ILO!

Lieber Herr Ryder, diese Aufgabe ist bei der ILO in guten Händen, weil sie alle Interessen repräsentiert. 187 Länder sind Teil Ihrer Organisation. Und am Verhandlungstisch in Genf sitzen nicht nur Regierungsvertreter, sondern auch Arbeitgeber und Gewerkschaften. Diese Verzahnung der unterschiedlichen Interessen macht die Stärke Ihrer Organisation aus.

Am besten illustriert das eine Episode aus der Geschichte der ILO, wie sie sich 1926 in Genf zugetragen hat. Feierlich wird dort der neue Hauptsitz der ILO eingeweiht. Der erste Generaldirektor Albert Thomas hält die Festrede. Dann begibt sich die Festgesellschaft an das schmiedeeiserne Tor, das mit drei Schlössern gesichert ist. Drei Schlüssel werden angereicht: einer für die Regierungen, einer für die Arbeitgeber und einer für die Arbeitnehmer. Nur wenn alle Schlüssel im Schloss stecken und sich in die gleiche Richtung drehen, kann das Tor geöffnet werden.

Jeder, der sich in die Tiefen des sozialpartnerschaftlichen Dialogs begeben hat, und in meinen Jahren als Chef des Kanzleramts habe ich da einige Erfahrung sammeln können, weiß, wie anstrengend diese Konsultationen sein können. Aber er oder sie weiß auch, wie lohnend dieser Dialog ist.

Die ILO ist eben keine Konsensmaschine, in der alle Ambitionen kleingehäckselt werden. Denn am Ende soll eben nicht der kleinste gemeinsame Nenner stehen. Aber sie ist eine Konsensfinderin, weil sie weit entfernte Positionen langsam und mühevoll annähert: zwischen Länderinteressen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Wenn man mit ILO-Insidern spricht, dann hört man oft: Alles ist langsam, zäh, aber es geht nicht anders. Ich wünsche Ihnen: Bleiben Sie ausdauernd und zäh. Oder um noch einmal mit Franklin D. Roosevelt zu sprechen: Haben Sie Träume! Haben Sie kühne Träume! Und arbeiten Sie weiter hart dafür, dass diese Träume wahr werden!

Meine Damen und Herren, die ILO hat sich in ihrer 100-jährigen Geschichte große Verdienste erworben. Und so überrascht es nicht, dass sie dafür zum 50. Geburtstag die wohl höchste internationale Auszeichnung erhalten hat, den Friedensnobelpreis. In der Laudatio damals hieß es: Unter dem Grundstein des ILO-Gebäudes in Genf liegt ein Dokument auf dem steht: Si vis pacem, cole justitiam – wenn Du den Frieden willst, pflege die Gerechtigkeit. Nur wenige Organisationen haben es wie die ILO verstanden, diesen moralischen Anspruch in die Tat umzusetzen.

Ich glaube, diesem Lob ist auch 50 Jahre später nichts hinzuzufügen. Herzlichen Dank!