Die meisten von uns kennen das: Man zieht an einen neuen Ort, und noch bevor alle Kisten ausgepackt sind, geht‘s auf Entdeckungstour in der neuen Heimat: Wo ist der nächste Italiener? Wo die beste Laufstrecke? Natürlich auch, liebes Gorki: wo das nächste gute Theater? So war das zum Beispiel auch, als ich vor bald 20 Jahren nach Berlin gezogen bin: U-Bahn und S-Bahn, Zone A, B, C, laute Wochenmärkte und stille Seen. Das war alles schnell erkundet. Selbstverständlich auch die Humboldt-Universität hatten wir dann bald für uns entdeckt und dabei schnell erfahren, wie man die beiden Statuen vor dem Hauptgebäude unterscheidet: Wilhelm links, in Richtung Wilhelmstraße. Und rechts, Richtung Alexanderplatz, Alexander von Humboldt.
Diese Eselsbrücke ist bekannt – gerade hier! Und bekannt ist bei den Deutschen ganz sicher der, der nach links schaut, Wilhelm von Humboldt. Seinen Geburtstag haben wir im vorletzten Jahr gefeiert. Auch diejenigen, die nie ein Wort im Original von ihm gelesen haben, wissen: Das ist der, dessen Name für Bildungsreform und deutsche Universitätsideale steht. Der Bruder, Alexander, hatte es da im Vergleich ungleich schwerer – gerade er, der die Welt nach Deutschland getragen hat, der uns beigebracht hat, dass uns diese Welt etwas angeht!
Ein Mensch, den das Erkunden einer neuen Stadt vielleicht ebenfalls stets gereizt hat, dem das aber nie gereicht hätte. Er war der Deutsche, den es über Meere und Berge zog, vom Chimborazo in den Anden bis hin zum Altai-Gebirge in Sibirien. Vor fast 250 Jahren, im September, wurde er geboren, als preußischer Adliger. Von der Mutter im Tegeler Schloss Langweil
aufs Gleis in den Staatsdienst gesetzt, als Kind stets im Wetteifer mit dem älteren Bruder – und dann doch so ganz anders, gegen jede Erwartung und Konvention: eine wirkliche Ausnahmeerscheinung. Für mich war Alexander von Humboldt immer einer meiner Helden: der andere Preuße! Der Entdecker! Der Aufklärer! Der Erfinder der Natur
, wie Andrea Wulf schreibt.
Leicht hatte er es dabei nie mit seinen deutschen Landsleuten. Nach seinem Tod, kaum zwölf Jahre später, hatte man ihn, den internationalen Superstar, schon weitgehend aus der nationalen Erinnerung verdrängt. Als zu kosmopolitisch, zu franzosenfreundlich für das neue Deutsche Reich galt er vielen, als zu eklektisch, romantisch und populär seine Wissenschaft. Umso mehr freue ich mich, dass wir Alexander von Humboldt zum 250. Geburtstag als den feiern können, der er war: als einen großen deutschen Kosmopoliten, der Mensch und Natur mit Hingabe und Neugier beobachtete, der unermüdlich ungeahnte Zusammenhänge aufzeigte, der seine Begeisterung auf Millionen seiner Zuhörer und Leser auf der ganzen Welt zu übertragen verstand – und der damit die Welt verändert hat!
Schon vor zwei Jahrhunderten hat Alexander von Humboldt erkannt, wie sehr alles mit allem zusammenhängt auf dieser Welt. Alles ist Wechselwirkung
, schrieb er und hat damit ein schier grenzenloses Verständnis von Vernetzung, Globalisierung und Interaktion geprägt. Sein vernetztes Denken durchbrach Disziplinen und Stände, überspannte Völker und Kontinente und trennte nicht zwischen Natur und Kultur. Im schwierigen Geschäft des Weltverstehens hat Humboldt einen Standard gesetzt, der uns bis heute herausfordert.
Weltverstehen war für Humboldt vor allem das Geschäft der eigenen Anschauung. Er wurde fast 90 Jahre alt, hatte als junger Mann Simon Bolivar zum Freund und feierte seinen 60. Geburtstag mit Lenins Großvater in Russland. Seine abenteuerlichen Expeditionen sind bis heute berühmt. Für sein Wirken ebenso wichtig aber war die Zeit nach den Reisen, die Zeit am Schreibtisch und im Hörsaal. Dort entstanden seine Bestseller und seine Vorlesungen, dort wuchs das weltweite Netzwerk der Geistesgrößen seiner Zeit, mit Humboldt im Zentrum, errichtet über zehntausende Briefwechsel. An diesem Schreibtisch, im Austausch mit der Welt – dort lag die Hauptstadt der ersten globalen Gelehrtenrepublik.
An so vielen Orten hat er gewirkt, über derart viele Themen geforscht, ein so intensives Leben geführt, dass man schlicht nicht von dem Alexander von Humboldt sprechen kann. Im Gegenteil: Erst wenn wir anerkennen, wie vielschichtig und facettenreich er war, kommen wir ihm überhaupt irgendwie näher. Auf meiner jüngsten Lateinamerikareise stöhnte einer meiner wissenschaftlichen Reisebegleiter so richtig: Von Humboldt kann man eigentlich nur im Plural sprechen!
Das scheint mir ein durchaus plausibler Gedanke zu sein, gerade weil er Spannungen zulässt und Uneindeutigkeiten aushält. Humboldt war Humanist, Verehrer der französischen Revolution und Demokrat, und doch stets von Krone, Adel und Obrigkeitsstaat abhängig. Er dachte vernetzt und kannte keine disziplinären Grenzen, sammelte und beschrieb alles, was er in die Hände bekam, prägte aber dennoch keine spezifische Fachrichtung so nachhaltig, wie es manche der großen Koryphäen nach ihm taten. Er war großzügig mit Geld und Gedanken, förderte den Nachwuchs und unterhielt die Gesellschaft, schwang zugleich aber eine ausnehmend spitze Feder – zuweilen auch gegen die selbsternannten Spitzen der Gesellschaft. In den Pariser Salons war seine scharfe Zunge angeblich so gefürchtet, dass man es tunlichst vermied, vor ihm den Raum zu verlassen.
Wenn ich aber eine der vielen Facetten von Humboldt nennen müsste, die mich besonders beeindruckt, dann wäre es die schier grenzenlose Fähigkeit zur Begeisterung: zur Neugier, zum Staunen, zum atemlosen Bewundern, zum Sammeln und Katalogisieren, ja – aber eben auch zum packenden Erzählen von der Natur und von den Menschen. Humboldts Werk ist eminent lesbar, emotional und zugänglich. Expertensprache und Statistik leben in den Fußnoten, seine Bücher sind auch für ungeübte Leser verständlich, und sie erhalten durch kunstvolle Schaubilder eine ganz eigene, atemberaubende visuelle Ästhetik. Alexander von Humboldt wollte gelesen und wollte verstanden werden. Nirgendwo war diese Eigenschaft deutlicher sichtbar als bei seinen Kosmos-Vorträgen hier in der Berliner Singakademie. Nach seiner Vorlesung für die Gelehrten drüben in der Universität kam er hierher und trug erneut vor – für alle – verständlich, begeisternd! Ein Aufklärer im wahrsten Sinne des Wortes!
Deshalb bin ich heute besonders gern hier. Was heute manchmal etwas trocken Wissenschaftsvermittlung
heißt, das war für Humboldt eines seiner wichtigsten Anliegen und Handwerk zugleich. Und mit diesem Anliegen ist Humboldt unverändert aktuell. Denn in diesem sperrigen Begriff der Wissenschaftsvermittlung
steckt ja nicht nur der Gedanke, möglichst viele Menschen auch jenseits von Bibliotheken und Forschungslaboren an der Faszination und der Freude von Wissenschaft teilhaben zu lassen. Wenn das gelingt, dann ist schon sehr viel gelungen! Aber darin steckt auch ein Anspruch: der Anspruch, dass eine freie, lebendige und, ich füge hinzu, eine finanziell gut ausgestattete Wissenschafts- und Forschungslandschaft für diese Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist!
Auch deshalb bin ich froh über diese neue Reihe der Kosmos-Lesungen
im Humboldtjahr. Sie, die Humboldt-Universität, erinnern damit nicht nur an den großen Jubilar, sondern Sie setzen ein starkes Zeichen für den Austausch von Wissenschaft und Gesellschaft. Ich glaube, diesen Geist der Kosmos-Vorlesungen, den brauchen wir heute sogar noch viel mehr als zu Humboldts Zeiten! Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Wir erleben immer schnellere und machtvollere Wellen technologischer Disruption. Wir erleben einen scharfen globalen Wettbewerb, der längst nicht mehr nur ein ökonomischer, sondern ein politischer, ein systemischer Wettbewerb geworden ist. Gerade in solchen Zeiten dürfen wir, bei allen tagesaktuellen, hitzigen politischen Debatten von der Migrations- bis zur Sicherheitspolitik, eines nicht vergessen: Die Zukunft der Welt, auch die Zukunft unseres Wohlstands hängt mehr denn je davon ab, ob wir weltweit auf Augenhöhe und im Austausch von wissenschaftlicher Erkenntnis und belastbaren Lösungen arbeiten. Wenn wir in Deutschland weiterhin Gestalter von Zukunft sein wollen und nicht Getriebene, dann verdienen Wissenschaft und Forschung höchste gesellschaftliche Priorität!
Bevor ich gleich zum Schluss komme und die Bühne freimache für den Eröffnungsvortrag des heutigen Tages, für den wohl berühmtesten brasilianischen Klimaforscher, Professor Paulo Artaxo, erlauben Sie mir noch einen letzten Gedanken. Humboldts Drang, seine Begeisterung für die Natur an uns weiterzugeben, war kein Selbstzweck. In klaren Worten hat er schon damals vor einem ausschließlich anthropozentrischen Blick auf die Welt gewarnt. Hinter Humboldts durchaus emotionalem Zugang zur Welt steht auch eine einfache, bewahrende Erkenntnis: Wir schützen nur das, was wir lieben! Die eitle Selbstliebe vieler seiner Zeitgenossen, das rücksichtslose Streben nach persönlichem Reichtum unter Missachtung der Würde anderer, die Unmenschlichkeit der Sklaverei, all das hat er zu seiner Zeit schon heftig kritisiert. Sein Plädoyer war, den Menschen als Teil der Natur zu verstehen und die Natur als Verkörperung des großen Ganzen.
Ich bin sicher: Er hätte nicht das geringste Verständnis gehabt, wenn heute vereinbarte Klimaziele gekündigt, infrage gestellt werden und wissenschaftliche Erkenntnis verspottet wird. Die Vermüllung der Ozeane, Artensterben, extreme Wetterlagen, Abschmelzen der Gletscher, Dürren, extremer Mangel an Wasser und dadurch ausgelöste politische Konflikte und massenhafte Wanderungsbewegungen, all das hat er nicht im Detail voraussehen können oder vorausgesagt. Aber dass und wie sehr Eingriffe des Menschen die Natur verändern und ihr schaden können, wie in der Folge auch den Menschen, all das sah er und hat es den Zeitgenossen zu vermitteln versucht. Schon vor 200 Jahren hat Alexander von Humboldt uns gelehrt, dass der Mensch eine Bedeutung in der Natur hat und deshalb Verantwortung für die Natur trägt. Auch, dass Veränderungen von Natur und Umwelt nicht an Landesgrenzen haltmachen. Zwei Jahrhunderte nach Humboldt sollten wir weiter sein – nicht nur in der Erkenntnis, sondern auch in unserem Handeln!
Natürlich ist das eine Erwartung, die zuerst an Regierungen, Parlamente und Unternehmenszentralen geht: nämlich unser Wirtschaften, unseren Energieverbrauch und unsere Ressourcennutzung an den längst bekannten Notwendigkeiten auszurichten. Aber auch den Einzelnen hätte Humboldt nicht aus der Verantwortung entlassen – im Gegenteil. Als Verbraucher, die wir jeden Tag Entscheidungen treffen, ob im Supermarkt, beim Fahrzeugkauf oder bei der Urlaubsplanung, hätte er uns in die Pflicht genommen.
Und schließlich, da bin ich mir sicher, hätte Humboldt auch Hoffnungen in die menschliche Vernunft und die Wissenschaft gesetzt – also in die Fähigkeit zur Entwicklung innovativer Methoden und Technologien, zu fortschreitendem Erkenntnisgewinn über Wechselwirkungen und Zusammenhänge, gepaart mit der Bereitschaft von Menschen, aus wissenschaftlicher Erkenntnis die richtigen Schlüsse zum Erhalt der Welt für die kommenden Generationen zu ziehen.
Genau deshalb gehören Wissenschaft und Gesellschaft untrennbar zusammen. Ich glaube, Alexander von Humboldt hätte heute ebenso wenig Verständnis für Politiker, die wissenschaftliche Fakten bestreiten, wie für Wissenschaftler, die mit Politik nichts am Hut haben wollen. Lassen Sie uns also das Jubiläumsjahr dieser Ausnahmeerscheinung zum Anlass nehmen, uns an seine Neugier, seine Begeisterung, sein politisches Denken, seine Liebe zu Mensch und Natur zu erinnern und möglichst viel davon in unsere Zeit zu übersetzen.
Das wünsche ich uns, und das wünsche ich der Neuausgabe
der Kosmos-Lesungen!
Vielen Dank.