Zeigen und Verneigen: das sind wahrscheinlich die beiden elementaren Bewegungen bei großen Kunstausstellungen.
Einerseits zeigen sie auf etwas neu hin, sie lassen Zusammenhänge erkennen, die man vielleicht so noch nicht gesehen hat. Gute Ausstellungen lassen uns buchstäblich die Augen neu aufgehen.
Aber Ausstellungen gehen nicht im Zeigen auf. Ausstellungen großer Kunst sind auch Zeugnisse der Anerkennung, Wertschätzung und der Verneigung, oder sagen wir ruhig: der Verehrung. Denn so sicher wir alle, als aufgeklärte Zeitgenossen, die kritische Auseinandersetzung mit Kunst suchen und brauchen, so sehr wir Fragen an sie richten, so sehr lassen wir uns aber auch gerne ins Staunen versetzen. Und wir zögern auch nicht, Meisterwerken die Ehre zu erweisen, die ihnen gebührt.
Beide Bewegungen, Zeigen und Verneigen, gehören sicher auch zu dieser ganz außergewöhnlichen Ausstellung, die uns hier in Stuttgart erwartet: Die jungen Jahre der Alten Meister
.
Wer immer sich diesen wunderbaren Titel ausgedacht hat, für die hier ausgestellten vier Künstler trifft er ins Schwarze. Denn es sind inzwischen tatsächlich alle vier Alte Meister
, nicht nur und nicht in erster Line im biografischen, sondern vor allem in jenem Sinne, wie wir ihn aus der Kunstgeschichte kennen. Alte Meister nämlich als diejenigen, die – jeder für sich, bei allen Entwicklungen, Brüchen und Neuanfängen, die jede Kunst kennt – ein Werk geschaffen haben, das herausragend, eigenständig und deshalb in gewisser Weise klassisch zu nennen ist.
Thomas Bernhard, der einen Roman mit dem Titel Alte Meister
geschrieben hat, der nur im Wiener Kunsthistorischen Museum spielt, hat jedenfalls für sich keinen Zweifel aufkommen lassen: Unter uns gesagt, ich bin ein Klassiker.
Vielleicht hat der eine oder andere von den Vieren das in jungen Jahren in aller selbstbewussten Bescheidenheit auch schon einmal gedacht.
Alle vier nämlich: Sigmar Polke, der leider nicht mehr unter uns sein kann, Georg Baselitz, Anselm Kiefer und Gerhard Richter haben nicht nur zu Recht internationalen Ruhm, sie haben auch durch ihr Werk den Blick auf unser Land verändert und tief geprägt. Den Blick aus dem Ausland auf uns in Deutschland – aber eben auch unseren eigenen Blick auf unsere eigene Wirklichkeit, den Blick auf uns selber: wie wir waren, wie wir sind und wie wir sein könnten.
Keiner dieser vier Künstler ist mit seinem Werk ohne deutsche Geschichte und vor allen Dingen ohne die nationalsozialistische Vergangenheit denkbar. Über Richter hat man geschrieben: Kunst ist sein Weg, um aus dem Albtraum der Geschichte zu erwachen.
Aber genauso lebt die Kunst, die wir hier sehen, von der Auseinandersetzung mit der deutschen Gegenwart. Keines der Werke verhält sich neutral zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dass ihnen allen das von ihrer Anfangszeit an eigen war, genau das zeigt diese Ausstellung.
Das ist mir besonders wichtig, denn ich bin ja nicht als Kunsthistoriker hier, sondern als Bundespräsident. Und als Bundespräsident freue ich mich sehr darüber, dass es in unserem Land, wenn auch nicht sofort, aber immerhin jetzt möglich war, diesen vier ehemaligen jungen Wilden die Anerkennung entgegenzubringen, die sie verdienen. Ihre geschichtsbewusste und immer auch politisch zu verstehende Kunst, ihre hier kritischen, dort eruptiven, ihre hier ironischen, dort provokativen Arbeiten gehören zum unbestreitbaren kulturellen Inventar unseres Landes.
In der Auseinandersetzung mit ihrer Vätergeneration sind sie selbst heute Väter mehrerer Generationen zeitgenössischer Kunst. Ihre Kunst ist nicht nur fester Bestandteil unserer Kultur, sondern sie gehört zu unserer deutschen Seelenlandschaft. Gerade indem und gerade weil sie nichts von ihrer kritischen, eruptiven, ironischen und provokativen Kraft eingebüßt hat. Wenn wir solche Kunst zu schätzen, ja sogar lieben gelernt haben, dann ist mit uns Betrachtern, mit den Deutschen etwas geschehen. Es hat eine Veränderung stattgefunden, über die wir froh sein können. Wir sind – auch durch den Beitrag von Kunst und Kultur – offener, selbstkritischer, geschichtsbewusster geworden in diesen Jahrzehnten. Eine Entwicklung, die unmittelbar nach 1945 nicht zu erwarten war und die wir jetzt neu und wieder zu verteidigen haben gegen diejenigen, die die Uhren offenbar zurückstellen wollen.
Dass wir in Deutschland sieben Jahrzehnte einen Prozess von Aufklärung und Selbstvergewisserung erlebt haben, dafür müssen wir auch den Künstlern dankbar sein, denn sie haben zu dieser Veränderung einen großen, einen unschätzbaren Beitrag geleistet.
Das ist selbstverständlich im Laufe der Jahrzehnte vielen aufgefallen und wurde entsprechend gewürdigt. Aber heute können wir das in einer wunderbaren Schau einmal in aller Klarheit und in aller beeindruckenden Gesamtheit noch einmal besehen. Dafür will ich allen danken, die dazu beigetragen haben, den Künstlern selber natürlich, den Leihgebern und ganz besonders Ihnen, lieber Götz Adriani, dessen überwältigende Kennerschaft und Erfahrung als Kurator sich in dieser Ausstellung erweist. Herzlichen Dank.
Wir haben in Deutschland keine guten Erfahrungen damit gemacht, wenn der Staat sich allzu sehr für Kunst interessiert hat, wenn er sie vereinnahmt oder zensiert, wenn er sie propagiert oder ausgegrenzt hat. Deshalb liegt es mir fern, die Werke, die wir Georg Baselitz, Sigmar Polke, Anselm Kiefer und Gerhard Richter verdanken, in einer großen Umarmung, die zudem anmaßend wäre, für irgendeinen Zweck, und sei er noch so ehrenwert, zu vereinnahmen.
Aber den Dank unseres Landes für ihre überzeugenden und überragenden Arbeiten, die uns ein für alle Mal einen neuen Blick auf unsere Welt geschenkt haben, den darf ich als Bundespräsident aussprechen, und sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, in Ihrer aller Namen!
Und dass wir stolz darauf sind, dass diese Kunst aus Deutschland ihren Weg in die Welt gemacht hat, das kann man uns am heutigen Tag auch nicht verdenken.
Herzlichen Dank.