Eröffnung der Ausstellung "Verschwörungstheorien – früher und heute"

Schwerpunktthema: Rede

Lichtenau, , 17. Mai 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 17. Mai zur Eröffnung der Ausstellung "Verschwörungstheorien – früher und heute" im Kloster Dalheim in Lichtenau eine Ansprache gehalten: "Wer ernsthaft glaubt, dass dunkle Mächte hinter politischen Entscheidungen stehen, der kann nicht daran glauben, dass er Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen kann, der kann kein Vertrauen in die Demokratie und demokratische Institutionen haben."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Eröffnung der Ausstellung "Verschwörungstheorien - früher und heute" im Landesmuseum für Klosterkultur Kloster Dalheim in Lichtenau.

Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind, und ein besonderer Dank geht an den Direktor dieses Museums für die Einladung. Lieber Herr Grabowski, ich freue mich sehr, heute hier zu sein – hier in dieser wunderschönen Klosteranlage in Dalheim! Und damit auch in meiner ostwestfälischen Heimat, in der ich mich immer noch ein bisschen auskenne. Ja, wir sind hier in einer ländlichen Region nach den gängigen Kriterien. Aber ländlich heißt nicht abgehängt, heißt erst recht nicht vernachlässigt. Ostwestfalen ist ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort und reich an Kulturschätzen. Genau das will ich zeigen, an möglichst vielen Orten Deutschlands. Und deshalb steht diese Reise durchs Land bei mir unter dem Titel Land in Sicht. Was ich anderswo beschrieben habe, gilt gerade und erst recht hier: Kunst und Kultur gibt es in Deutschland eben nicht nur in den Metropolen, sondern überall im Land und auf dem Land. Vielen Dank also an Sie alle, die dieses Museum so engagiert betreiben und unterstützen! Und herzlichen Dank für die Einladung!

Es ist kein Zufall, dass ich hier bin. Und erst recht sind es nicht dunkle Mächte, die im Hintergrund die Fäden gezogen haben, um mich nach Dalheim zu bringen. Verschwörungstheorien müssen nicht bemüht werden. Hier nicht und auch sonst seltener, als es tatsächlich geschieht.

Dennoch, ich weiß: Der Glaube an Verschwörungen ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Lange Zeit war er vor allem religiös begründet – vielleicht eignet sich also gerade ein ehemaliges Kloster hervorragend für eine solche Ausstellung. Der Rundgang, den wir gerade gemacht haben, ist eine faszinierende Zeitreise, die ich jedem empfehlen kann. Da geht es um Pakte mit dem Teufel, um Templerorden und Illuminaten. Und auch um die Aufklärung – die Aufklärung, die mit der Verschwörungstheorie gerungen hat und sie dennoch nicht besiegen konnte. Beide – Aufklärung und Verschwörungstheorien – liegen bis in die Gegenwart hinein im Kampf miteinander, denken wir nur an die sogenannte Dolchstoßlegende nach 1918, die wunderbar dargestellte inszenierte Mondlandung oder die wahren Drahtzieher hinter den Anschlägen vom 11. September 2001. Eine der perfidesten und in ihrer Folge mörderischsten Verschwörungstheorien war die einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung, die auch im modernen Antisemitismus bis heute weiterlebt.

Nein, trotz allen Fortschritts in Wissenschaft und Gesellschaft, trotz aller Aufgeklärtheit und Rationalität: Bis heute glauben viele Menschen daran, dass sich reale oder irreale Verschwörer im Geheimen zusammentun, um dunkle, oft verbrecherische Komplotte zu schmieden.

Solche Theorien, das wissen wir aus der Forschung, sind nicht nur nicht beweisbar, sondern sie folgen immer demselben simplen Muster: Sie reduzieren höchst komplexe, manchmal auch schwer erklärbare Ereignisse und Sachverhalte auf eine einzige Ursache, die dann als Tatsache verkauft wird. Offenbar ist das ein zutiefst menschliches Bedürfnis: sich eine komplexe Welt einfach zu stricken. Je unsicherer die Zeiten sind, desto tiefer dieses Bedürfnis. Je schwieriger die Frage, umso einfacher sollen offenbar die Antworten sein.

Und so wundert es kaum, dass heute auch in unserem Land Verschwörungstheorien blühen und gedeihen, ja sogar mehr Verführungskraft und Wirkmacht entfalten als noch einige Jahrzehnte zuvor – eine echte Renaissance der Verschwörungstheorien. Dass da Agenten des Teufels am Werk sind, mag vielleicht niemand mehr glauben. Aber immerhin fast die Hälfte aller Deutschen – das hat jüngst eine Studie belegt – ist davon überzeugt, dass es geheime Organisationen und Mächte gibt, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen.

Im Netz, in den sozialen Netzwerken finden solche Vorstellungen dann breite Resonanz – und werden rasend schnell weiterverbreitet. Fakten spielen in diesen Filterblasen kaum eine Rolle, stattdessen feiert das Kontrafaktische fröhliche Urständ. Und eben deshalb ist diese Ausstellung nicht nur hochaktuell, sie ist vor allem auf sehr wohltuende Art und Weise faktenbasiert und aufklärend! Und genau das brauchen wir in diesen Zeiten.

Als Bundespräsident interessieren mich diese Phänomene vor allem aus einem ganz bestimmten Grund. Nicht aus Neugier an Kuriosem – die habe ich gelegentlich auch. Sondern weil das etwas mit Demokratie zu tun hat. Wie keine andere Staatsform gründet die Demokratie auf der Vernunft. Darauf, dass wir den Anspruch bewahren, am Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge festzuhalten.

Ich hatte im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung über fake news im Schloss Bellevue den Tübinger Amerikanisten Professor Butter zu Gast, einen Wissenschaftler, der sich seit langem mit Verschwörungstheorien beschäftigt. Der neue Glaube an Verschwörungstheorien, schreibt er in seinem jüngsten Buch, ist ein Symptom für eine tiefer liegende Krise demokratischer Gesellschaften.

Wir leben in einer Zeit, in der die Vernunft, in der unsere demokratischen Werte stärker in Misskredit geraten. Populisten in vielen Ländern verbreiten nicht nur sogenannte alternative Wahrheiten, sondern offensichtliche Lügen, neue Verschwörungstheorien – ich denke dabei beispielsweise an die wirklich gefährliche Behauptung vom angeblichen großen Austausch der Bevölkerung in Deutschland, der angeblich von der Politik betrieben wird. Und neue Nationalisten verbreiten die Theorie, dass sich die sogenannten Eliten aus Politik, aus Kirchen, aus Wirtschaft und Medien gegen das Volk verschwören.

Ja, auch früher wurden Tatsachen verdreht, auch früher wurden Verschwörungstheorien zu politischen Zwecken instrumentalisiert – selbst in den liberalen Demokratien der Neuzeit. Neu ist aber, dass alternative Fakten, dass offensichtliche Lügen innerhalb von Sekunden Millionen Menschen erreichen können. Aber es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass das Netz ein Werkzeug des Teufels ist. Denn gerade in den sozialen Netzwerken werden falsche Fakten und Verschwörungstheorien oft auch schnell entlarvt, und das kreativ und witzig.

Ich bin überzeugt: Die Zukunft unserer Demokratie hängt auch von der Unterscheidung zwischen Fakten und fake news, zwischen Tatsachen und Meinungen ab. Denn ein vernünftiger öffentlicher Diskurs setzt voraus, dass ihm überprüfbare und allgemein akzeptierte Fakten zu Grunde liegen. Nur dann sind auch vernünftige politische Entscheidungen möglich.

Wer ernsthaft glaubt, dass dunkle Mächte hinter politischen Entscheidungen stehen, der kann nicht daran glauben, dass er Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen kann, der kann kein Vertrauen in die Demokratie und demokratische Institutionen haben. Und der ist, auch das zeigt die Forschung, oft nur schwer mit rationalen Argumenten zu erreichen. Dennoch – und das ist Demokratie – müssen wir auf die Kraft der Aufklärung, auf die Kraft der Vernunft setzen.

Der Kampf gegen Desinformation und Verschwörungstheorien ist eine der großen Herausforderungen für die liberalen Demokratien. Es ist ein Kampf, der uns alle angeht, der in Familien, Schulen, Büros und Betrieben ebenso ausgetragen werden muss wie in Zeitungsredaktionen, sozialen Netzwerken und Parlamenten. Und er wird ja auch überall ausgetragen, von den Nachfahren eines Erasmus, eines Galilei und Voltaire, von Wissenschaftlern, Journalisten und Bloggern, von Abgeordneten in Untersuchungsausschüssen – und von Ausstellungsmachern wie Ihnen hier im Kloster Dalheim!

Das Wort ist mächtig. Das muss man an einem Ort wie diesem nicht wiederholen. Es steht am Anfang aller Dinge, und es hat Macht über unsere Vorstellung von der Welt. In einer Zeit ständiger Verkürzung und Vereinfachung von Sachverhalten und der Komprimierung von Nachrichten zu Newsfeeds müssen wir – so glaube ich – den Umgang mit Worten und die Ehrfurcht vor dem Wort noch einmal neu erlernen.

Und deshalb ist eine Ausstellung wie diese so wichtig, denn sie zeigt, wie Verschwörungstheorien entstehen, wie sie funktionieren und wirken – und wie sie entlarvt werden können. Wenn uns das gelingt, wenn wir sie immer wieder entlarven, dann erobern wir uns den Spielraum zurück, in dem demokratische Politik und demokratische Mitwirkung tatsächlich funktionieren können. Ich wünsche mir und Ihnen deshalb aus tiefstem Herzen, dass diese Ausstellung viele Menschen interessieren wird.

Herzlichen Dank!