Betrieblicher Aktionstag Europa im BMW-Werk Leipzig

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig , , 20. Mai 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 20. Mai beim betrieblichen Aktionstag Europa im BMW-Werk Leipzig eine Ansprache vor Werksmitarbeiterinnen und -mitarbeitern gehalten: "Wir Deutschen brauchen ein vereintes Europa. Ein starkes Europa. Ein Europa, in dem wir gemeinsam das anpacken, was kein Land allein schaffen kann. Klima, Digitalisierung, Handel, Migration – viele Fragen, mit denen jedes Land allein überfordert ist: Mit Europa schaffen wir mehr – ohne Europa ganz sicher sehr viel weniger."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Ansprache beim betrieblichen Aktionstag Europa im BMW-Werk Leipzig.

Schön, wieder hier bei BMW in Leipzig zu sein. Herzlichen Dank für den freundlichen Empfang!

Heute stehen für Europa einen Augenblick die Bänder still. Kein Warnstreik, keine Werksferien. Nein: für eine Mitarbeiterversammlung anlässlich der Europawahl. Ich freue mich, dass die Sozialpartner, die Unternehmensleitung und der Betriebsrat dabei Seite an Seite stehen.

Das ist ein tolles Zeichen! Überlassen wir die Debatte über Europa nicht anderen, vor allem nicht denen, die das Haus Europa abbrechen wollen. Machen wir die Zukunft Europas zu unserer gemeinsamen Sache!

Ich weiß: Für viele, vielleicht auch für manchen von Ihnen, scheint Europa weit weg. Mancher fragt sich: Was hat das mit mir zu tun? Aber gerade deshalb sind wir heute hier. Lassen Sie uns Europa zu uns holen, in unsere Betriebe und Büros, auf unsere Straßen und Plätze, und hierher: in die Fabrikhallen und an die Montagebänder.

Bei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament hat nicht einmal jeder zweite Deutsche seine Stimme abgegeben. Ich wünsche mir, dass es am kommenden Sonntag sehr viel mehr tun! Denn wie bei jeder Wahl gilt: Wer nicht wählt, lässt andere bestimmen. Also: Am kommenden Sonntag gilt's! Packen wir unsere Kollegen, Nachbarn, Freunde ein. Auf uns alle gemeinsam kommt es an. Gehen wir wählen! Ich werde es tun, Sie bitte auch!

Wir alle sind Europa – Europa geht uns alle an! Um das zu zeigen, hätte ich mir keinen besseren Ort wünschen können als diesen. Unser Wohlstand in Deutschland und Europa hängt ganz wesentlich an der Autoindustrie. Und unsere Autoindustrie hängt an einem wirtschaftlich und politisch starken Europa.

Schauen wir auf Ihr Werk und was es bedeutet für die Region Leipzig: über 5000 Arbeitsplätze, viele mehr bei den Zulieferern in der Region.

Sie alle erleben doch täglich, wie eng Ihr Werk mit Europa verbunden ist. Als diese Hallen im Jahr 2005 eingeweiht wurden, war die Europäische Union gerade erst, hier an der Grenze Sachsens, weiter in Richtung Osten gewachsen. Tschechien und Polen wurden Teil der EU. Der europäische Binnenmarkt wurde größer. Ohne ihn wären Leipzig, die Region und jeder, der hier arbeitet, ärmer! Das ist die Wahrheit! Und weil es die Wahrheit ist, darf uns Europa nicht egal sein.

Wirtschaftlich geht es uns besser, weil wir über unsere Grenzen in Europa eng zusammenarbeiten. Ihr Arbeitgeber heißt Bayerische Motorenwerke, aber Großbritannien ist der zweitwichtigste Markt für Leipzig. Jeder sechste hier gebaute BMW geht über den Ärmelkanal. Und Sie hier beziehen Motoren aus einem britischen Werk.

Auch deshalb tut der Austritt unserer britischen Freunde aus der EU so weh. Der Brexit gefährdet Wohlstand und Arbeitsplätze – insbesondere auf der anderen Seite des Kanals, aber er berührt auch uns hier in Deutschland.

Die Geschichte rund um den Brexit zeigt, was da für ein Teufelskreis im Gange ist: Über viele Jahre hinweg, lange vor dem Brexit, hat in Großbritannien die Industrie gelitten. Man hat auf die New Economy gesetzt, auf Dienstleistungen, vor allem Finanzdienstleistungen. Fabrik und Blaumann, das war angeblich von gestern. Tausende Betriebe haben geschlossen, Gewerkschaften sind geschrumpft, Arbeiterinnen und Arbeiter haben gut bezahlte Stellen verloren.

So etwas schwächt und spaltet ein Land. So entstand Frust, der sich allzu oft gegen die da oben und ganz besonders gegen die da in Brüssel wendet. Und auf einmal hatten diejenigen Zulauf, die ganz einfache Lösungen versprachen und immer einen Sündenbock parat hatten: Europa. Auch deswegen fiel die Volksabstimmung in Großbritannien vor drei Jahren mit knapper Mehrheit gegen die EU aus.

Die traurige Wahrheit ist aber: Der Brexit wird die hausgemachten Probleme nicht lösen, sondern eher verschärfen. Der Austritt aus der EU hat die Gräben in der Gesellschaft tiefer gemacht und er wird die verlorengegangene Industrie dort nicht wieder zurückbringen.

Wir müssen es genau umgekehrt machen: Wir gehen nicht in die Sackgasse des populistischen Kampfs gegen Europa! Wir wollen ein starker Industriestandort bleiben. Das bleiben wir nur mit offenen Märkten und in der EU. Und da brauchen wir uns nicht zu verstecken. Deutschland steht heute auch deshalb so gut da, weil wir uns angestrengt haben im Wettbewerb, weil wir uns in Europa vernetzt haben, weil wir neue Technologien entwickelt haben, weil wir unsere industriellen Kerne erneuert und dadurch bewahrt haben. Wir können heute eben beides: Blaumann und Laptop.

Kurzum: Wenn wir gute Arbeitsplätze wollen, dann brauchen wir industrielle Wertschöpfung. Und wenn wir industrielle Wertschöpfung wollen, dann brauchen wir ein geeintes, starkes Europa. Das sollten wir ruhig auch denen mal erklären, die das Schimpfen auf Europa zum Hobby erkoren haben. Das ständige Schimpfen auf Europa hat noch keinen Arbeitsplatz gebracht. Sägen wir nicht an dem Ast, auf dem wir sitzen!

Henry Ford soll einmal gesagt haben: Autos kaufen keine Autos. Was er damit meinte? Ordentliche Löhne für ordentliche Arbeit. Gut bezahlte Arbeit sorgt dafür, dass sich die Menschen etwas leisten können, und das nicht nur in Deutschland. Wenn es in ganz Europa wirtschaftlich aufwärts geht, dann füllt das auch die Auftragsbücher bei uns.

Aber die Europäische Union ist mehr als ein Wirtschaftsraum. Sie ist auch ein Versprechen: für faire Löhne, gute Arbeitsbedingungen und eine verlässliche soziale Absicherung. Darum muss man in Europa immer wieder neu ringen. Nur ein Beispiel: Es war höchste Zeit, dass die Regeln für den Einsatz von Arbeitskräften in einem anderen EU-Land geändert wurden. Das Prinzip ist einfach und muss überall gelten: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. In der EU darf es kein Lohndumping geben. Wer das richtig findet, wer das will, der braucht eine EU, die das so regelt. Ohne die geht's nicht! Und von selbst regelt sich sowieso nichts!

Wenn ich in unserem Land unterwegs bin, höre ich natürlich auch Frust über manche EU-Verordnung: unnötig, bürokratisch, gegen deutsche Interessen, so die Kritiker.

Wer über die EU redet, muss auch über ihre Schwächen reden. Ja, die EU macht Fehler. Aber, wenn wir ehrlich sind, haben auch wir den ein oder anderen Fehler beigetragen. Wir wollen ein starker Industriestandort mit einer starken Autoindustrie bleiben. Gleichzeitig muss uns – auch im deutschen Interesse – der Schutz von Klima und Gesundheit wichtig sein. Und ich bin sicher: Auch dazu haben wir viel beizutragen. Es kommt jetzt darauf an, dass uns beides gelingt, ohne dabei den Automobilstandort Deutschland zu gefährden. Das ist eine Aufgabe für die nationale Politik und die Innovationskraft unserer Unternehmen.

Ich finde: Wir haben allen Grund zur Zuversicht! Mit der deutschen Autoindustrie verbinden Kunden weltweit Spitzenqualität. Und Sie hier im BMW Werk Leipzig sorgen dafür, dass das so bleibt. Wie ich eben beim Rundgang gesehen habe, haben Sie kräftig investiert und Ihr Werk erweitert, um Autos mit neuen, zukunftsweisenden Antriebstechniken zu bauen.

Ich denke, Politik und Unternehmen müssen mehr in diese Technologien investieren. Dann bin ich sicher: Genauso wie deutsche Ingenieurskunst den Verbrennungsmotor perfektioniert hat, genauso wird sie das Auto der Zukunft perfektionieren. Welcher Antrieb auch immer sich dabei durchsetzen wird: Die Autoindustrie bleibt, was sie ist – ein Pfeiler der deutschen Wirtschaft, auf den wir alle stolz sein können. Sie sind es und ich bin es auch. Und das soll so bleiben!

Was wäre die Alternative zu einem schrittweisen Wandel im Verkehrssektor? Den Kopf in den Sand zu stecken? So zu tun, als gäbe es keine Probleme in den Städten mit wachsendem Autoverkehr und steigenden Emissionen? Oder Rückkehr zu nationaler, zu deutscher Gesetzgebung: In Deutschland einfach mehr Emissionen als anderswo erlauben – egal, was die EU vorschreibt?

Stellen Sie sich vor, in Frankreich würden niedrigere Grenzwerte gelten als in Italien und in Italien niedrigere Werte als in Deutschland. Das wäre das Ende des Binnenmarktes! Wie wollen Sie so noch gewinnbringend Autos außerhalb Deutschlands verkaufen?

Die deutsche Autoindustrie braucht offene Märkte und offene Grenzen in Europa. Und dafür braucht sie verlässliche Spielregeln, die Deutschland in Brüssel übrigens maßgeblich mitbestimmt. Unsere Stimme zählt etwas in der EU, und eine kraftvolle europäische Stimme zählt etwas in der Welt.

Deswegen: nicht raus aus Europa, sondern ran an den Verhandlungstisch. Nicht hinterher laufen, sondern vorneweg gehen mit Spitzentechnologie. Nicht zurück zu nationalen Scheinlösungen, sondern vorwärts zu europäischen Antworten. Nicht auf Europa schimpfen, sondern Europa gestalten. Darum geht es bei dieser Europawahl und deshalb werbe ich dafür, dass Sie von Ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.

Nehmen Sie als weiteres Beispiel das Thema Globalisierung. Die deutsche Autoindustrie ist global vernetzt wie kaum eine zweite – das wissen Sie. Aber was ist die Grundlage dafür? Erstens, die deutsche Autoindustrie profitiert vom Binnenmarkt. Zweitens, sie profitiert vom Euro, der gemeinsamen Währung. Drittens, sie profitiert davon, dass Europa für freien und fairen Welthandel eintritt.

Wenn der Hausherr im Weißen Haus morgens aufwacht und per Twitter mit Zöllen auf deutsche Autos droht, dann bin ich froh, dass es eine Europäische Kommission gibt, die für alle 500 Millionen EU-Bürger klar macht: so nicht! So gehen Partner nicht miteinander um. Das lassen wir nicht mit uns machen! Und dafür brauchen wir die Europäische Union!

Also, falls Ihre Kollegen oder Nachbarn, die noch nicht überzeugt sind, Sie demnächst mal kritisch fragen sollten: Was hat denn die EU jemals für uns getan?, dann haben wir jetzt schon eine ziemlich lange Liste beisammen: Frieden, Völkerfreundschaft allen voran, Freiheit und Wohlstand auch nicht gerade eine Kleinigkeit. Aber eben auch das: unsere europäischen Interessen gegenüber anderen Weltmächten zu verteidigen.

Ich wünsche mir aber, dass wir nicht nur fragen: Was hat Europa für uns getan? Fragen wir auch: Was können wir in Deutschland für Europa tun? Zum Beispiel, indem wir darüber diskutieren, welches Europa wir wollen.

Wir müssen in der Europapolitik nicht in allem einer Meinung sein. Im Gegenteil. Aber lassen wir uns beim Ringen um die besten Lösungen immer von der Frage leiten: Wie können wir Europa besser machen? Nutzen wir die Wahl zum Europäischen Parlament, um das zum Ausdruck zu bringen.

Und nutzen wir diese Wahl zu einem klaren Bekenntnis: Wir Deutschen brauchen ein vereintes Europa. Ein starkes Europa. Ein Europa, in dem wir gemeinsam das anpacken, was kein Land allein schaffen kann. Klima, Digitalisierung, Handel, Migration – viele Fragen, mit denen jedes Land allein überfordert ist: Mit Europa schaffen wir mehr – ohne Europa ganz sicher sehr viel weniger.

Und eins sollten wir dabei nie vergessen: Wir in Deutschland – gerade wir in Deutschland – haben dieser europäischen Einigung unendlich viel zu verdanken.

Und das gilt nicht zuerst für die Wirtschaft, sondern das gilt zuallererst für uns als Menschen in Deutschland: Frieden, sogar Partnerschaft mit unseren Nachbarn – für Jahrzehnte und Jahrhunderte überhaupt nicht selbstverständlich! Reisen, Austausch, persönliche Freundschaften. Und in der Politik Zusammenarbeit und sogar Vertrauen, auch von denen, über die unser Land in zwei Weltkriegen furchtbares Unheil gebracht hat.

Also lassen Sie uns nie das große Ganze vergessen, um das es am kommenden Sonntag geht: Ein demokratisches Deutschland in einem vereinten Europa – das ist ein verdammt großes Glück! Das sollten wir nicht auf's Spiel setzen!

Deswegen sage ich als Bürger und als Bundespräsident, als Deutscher und als Europäer: In Deutschland sind wir zu Hause, aber Europa ist unsere zweite Heimat! Für dieses große Glück lohnt es sich zu arbeiten. Dafür lohnt es sich zu streiten, und allemal, am Sonntag wählen zu gehen.

Herzlichen Dank.