Festakt "70 Jahre Bundespräsident" zum 70. Jahrestag der Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten

Schwerpunktthema: Rede

Stuttgart, , 12. September 2019

Der Bundespräsident hat am 12. September beim Festakt "70 Jahre Bundespräsident" am 70. Jahrestag der Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten in Stuttgart eine Rede gehalten: "Mit dem Vertrauen zur Person kam das Vertrauen in den neuen Staat. Das ist eine Lehre, die man gar nicht genug herausstreichen kann und die nichts von ihrer Geltung verloren hat: Demokratie lebt nicht zuletzt auch vom Vertrauen in die, die sie repräsentieren."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim Festakt "70 Jahre Bundespräsident" am 70. Jahrestag der Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten in Stuttgart

Ein leichtes Wolkenfeld lag über dem Rheinland, als am Montag, dem 12. September 1949 die Bundesversammlung Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland wählte.

Am selben Tag, so schrieb damals die Wochenzeitung Christ und Welt schnitt man in Essen eine Kriegerwitwe […] vom Strick. In den Flüchtlingslagern, in Baracken, in Kellerwohnungen lagen die Menschen genau so hoffnungslos und apathisch auf ihren Strohsäcken wie sonst, und vor den Arbeitsämtern standen sie Schlange nach Stempelgeld.

An diesem für die entstehende Bundesrepublik so wichtigen Tag, der in Bonn – im bescheidenen Rahmen der damaligen Möglichkeiten – als ein Festtag begangen wurde, an diesem Tag ging für die meisten der frisch gebackenen Bundesbürger das Leben so weiter, wie es seit dem Kriegsende gewesen war: als eine Zeit der Entbehrung und Not, der Unsicherheit und oft der Verzweiflung. In jedem Fall als eine Zeit des Provisoriums.

So wie seinem Gegenkandidaten, dem Sozialdemokraten Kurt Schumacher, sah man auch dem neuen Bundespräsidenten diese Zeitspuren an: Noch immer schmal und mit den Spuren der Hungerjahre im Gesicht, leistete er seinen Amtseid – und mit dem ernsten Blick eines Mannes, der um die Ehre weiß, die ihm übertragen wurde, aber mehr noch um die Last der Verantwortung für die nächsten Jahre einer ungewissen Zukunft.

Großer Gott, wir loben dich hatte man zu seinem Empfang auf dem Bonner Marktplatz gesungen. Eine Nationalhymne hatte man ja noch nicht. Und auch sonst war alles Provisorium: Das Dienstgebäude samt Wohnung war ein ehemaliges Erholungsheim der Reichsbahn, das die letzten Kurgäste erst vierzehn Tage vor dem Einzug des Präsidenten verlassen hatten.

Ein Amt musste erfunden und Tag für Tag mit Leben und politischer Bedeutung gefüllt werden. Ein Amt, so Heuss, das bisher nur als Paragraphengespinst vorhanden war. Für die Bürger war der neue Präsident weitgehend unbekannt – und doch bestürmten sie ihn vom ersten Augenblick an mit ihren vielen Sorgen. Wir sitzen in ein paar Stuben, und diese paar Stuben sind nun der Magnet der Hoffnung und Verzweiflung der Deutschen geworden. […] Die ganze deutsche Not, in Einzel- und Gruppenschicksalen schlägt Tag um Tag an unsere Tür – es ist kein fröhliches Amt. So Heuss nur wenige Zeit nach seinem Amtsantritt angesichts der Flut von Hilferufen und Bittschriften, die ihn schon sofort erreichten.

Theodor Heuss wuchs schnell in dieses neue Amt hinein. Besser gesagt: Er hat schnell eine Form gefunden und erfunden, dieses Amt zu gestalten. In seiner ersten Amtszeit konnte er noch keine Staatsbesuche empfangen oder unternehmen – die Bundesrepublik war außenpolitisch, wie Sie wissen, noch nicht souverän.

So setzte er seine ganze Kraft dazu ein, die Deutschen an die neuen demokratischen Zustände zu gewöhnen, ihnen eine zivile Liberalität vorzuleben und ihnen in Reden zu erklären, welche Aufgaben und welche Möglichkeiten ihnen dieses neue und freie, dieses demokratische und soziale Gemeinwesen bot. Und vor allem jenes moderne Grundgesetz, an dem er selber so entscheidend mitgewirkt hatte.

Er verstand sein Wirken auch als Erinnerung an die Kontinuität der liberalen und demokratischen Tradition, deren Wurzeln mindestens bis zum Paulskirchenparlament 1848 zurückreichen. Wenn Kurt Georg Kiesinger über den Präsidentenkandidaten Heuss gespöttelt hatte, der sei ein liebenswerter Überrest des neunzehnten Jahrhunderts, dann war ironischerweise genau das ein Teil dessen Selbstbewusstseins: ein Erbe der demokratischen 1848er zu sein.

Machen wir uns einen Moment klar, wie nahe uns ferne Zeiten durch biographische Überschneidungen manchmal sein können: Als Theodor Heuss 1884 geboren wurde, lebten noch Menschen, die Goethe mit eigenen Augen gesehen hatten. Goethes letzte Liebe, Ulrike von Levetzow, starb, als Heuss 15 Jahre alt war. Meine eigene Lebenszeit wiederum überschneidet sich mit der von Theodor Heuss und unter uns haben einige Heuss sogar noch mit eigenen Augen gesehen.

Solcher Kontinuitäten war sich Heuss sehr bewusst. Und er wusste, dass man ein Gemeinwesen nicht ohne Geschichte, nicht ohne Tradition und nicht ohne Symbole in den Herzen der Menschen lebendig werden lassen kann.

Deswegen ließ er zum Beispiel – mit einigen Tricks übrigens – die Friedensklasse des alten preußischen Ordens Pour le mérite wiedererstehen, von der nur noch drei Mitglieder lebten.

Nach dem Krieg und nach dem Holocaust an die besten kulturellen und geistigen Traditionen Deutschlands wieder anzuknüpfen, das sah er als eine seiner wichtigsten Aufgaben an. Professor Heuss selber war ja als Intellektueller und Künstler ganz und gar Teil dieser im besten Sinne bürgerlichen Tradition.

Für ihn war einer der Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik ihre mangelnde Verankerung in den Herzen der Bürger: zu wenig Symbole, zu wenig lebendige Tradition, zu wenig emotionale Identifikation. So kannte die Weimarer Republik keine eigenen Auszeichnungen und Orden. Selbst das Tragen ausländischer Orden war verboten.

Heuss fand, der Staat muss auch sichtbar danken können. Er stiftete deswegen im Juni 1950 zunächst das Silberne Lorbeerblatt für herausragende sportliche Leistungen. Zu den ersten Trägern gehörte wohl nicht ganz zufällig die Mannschaft des VfB Stuttgart.

Im September 1951 folgte dann die Stiftung des Bundesverdienstkreuzes. Die Form dieses Ordens gestaltete der begabte Zeichner, wie zuvor das Silberne Lorbeerblatt, gleich selber. Seine Originalzeichnungen findet man noch im Bundesarchiv. Heuss freute sich, das allererste Verdienstkreuz am Bande einem Bergmann aushändigen zu können, der zwei Kameraden gerettet hatte. Von vornherein wollte er zeigen: Dieser Orden der neuen Republik soll gerade die vielen Unbekannten erreichen, von dessen vorbildlichem Einsatz unser Gemeinwesen lebt. Und an dieser, seiner Tradition, orientieren wir uns bis heute.

Heuss hat hier etwas bis heute ganz wichtiges gespürt: Ein Ja zu diesem Staat, ein Ja zur Demokratie und zur freiheitlichen Ordnung, ein Ja zum solidarischen und toleranten Gemeinwesen wird nie nur im Kopf gesprochen werden. Auch Gefühl und Herz müssen dabei sein.

Deswegen seine Genugtuung darüber, dass die schwarz-rot-goldene Flagge an die demokratische Geschichte Deutschlands erinnert. Deswegen auch sein Einsatz für eine Nationalhymne. Er ist zwar mit seiner ursprünglichen Idee, eine ganz neue Hymne schreiben zu lassen, gescheitert, aber dass vom alten Deutschlandlied als offizielle Hymne nur noch die dritte Strophe infrage kam, war auch seiner klaren Haltung zu verdanken.

Die Menschen fassten schnell Vertrauen zu Theodor Heuss. Dass man Achtung vor seiner großen Bildung hatte, war das eine. Aber man hatte auch Achtung vor seinem offenen Wort und seiner moralischen Unbestechlichkeit. Und schließlich gewann er Herzen und Verstand durch seinen hintergründigen Humor, seine Selbstironie und seinen schwäbischen Eigensinn.

Zu diesem Eigensinn gehören zum Beispiel seine zwei Hobbys, wie er sagte: Flick bekommt von mir keinen Orden und ich gehe nicht nach Bayreuth. Beides hatte natürlich nicht nur mit Eigensinn, sondern mit ganz reflektierter politischer Überzeugung zu tun.

Apropos Schwaben. Heuss‘ Sprache war eindeutig von jenem Honoratioren-Schwäbisch geprägt, das den Zuhörer beinahe denken lässt, man säße in einer Weinstube, und ihn hoffen lässt, im vertrauten Gespräch werde sich auch für das ein oder andere schwierige Problem schon eine Lösung finden.

Überhaupt darf man wohl gar nicht unterschätzen, welche Wirkung es hatte, dass beide Männer, die im ersten Jahrzehnt die Republik prägten, so deutlich hörbar regional verwurzelt waren: Konrad Adenauer als Rheinländer, Heuss als Württemberger. Es war ein ziviler Ton, ein regionaler Ton, der im föderal strukturierten Land zu neuer Identifikation einlud. Das einheitliche Geschrei und Gebrüll des untergegangenen Reiches war vorbei.

Mit dem Vertrauen zur Person kam das Vertrauen in den neuen Staat. Das ist eine Lehre, die man gar nicht genug herausstreichen kann und die nichts von ihrer Geltung verloren hat: Demokratie lebt nicht zuletzt auch vom Vertrauen in die, die sie repräsentieren.

Mit diesem Vertrauen ausgestattet konnte Heuss sich auch an die andere wichtige Aufgabe machen: an den, wie er sagte, Feldzug gegen das Vergessen.

Seine vielleicht bedeutendste Rede zur nationalsozialistischen Vergangenheit hielt er schon 1952 im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Es war in den 1950er Jahren eine Provokation, als das Staatsoberhaupt nicht nur den systematischen, industriellen Mord an den Juden das tiefste Verderbnis dieser Zeit nannte. Es war erst recht eine Provokation, als er sogar das am meisten Beschwiegene offen aussprach: Wir haben von den Dingen gewusst.

Diese große Rede in Bergen-Belsen wurde in Übersetzungen über die deutschen Auslandsmissionen weltweit verbreitet. So stärkte sie die Glaubwürdigkeit eines neuen Deutschland, das seiner Vergangenheit und seiner Verbrechen eingedenk blieb.

Noch Jahre später, bei seinem Besuch in Italien 1957, als er in Rom zum Gedenken eines deutschen Massakers an 355 willkürlich ausgesuchten Geiseln einen Kranz niederlegte, fand sich in der italienischen Presse diese Rede in vollem Wortlaut. Und auch, als er bei seinem ersten Staatsbesuch überhaupt, in Griechenland, in Kalavryta der schrecklichen deutschen Verbrechen gedachte – war er glaubwürdig durch seine Rede, die er in Bergen-Belsen an die Deutschen selbst gehalten hatte.

Natürlich, wir wissen: Längst nicht alle und längst nicht das ganze Land bekannten sich zu den nationalsozialistischen Verbrechen. In vielen Ämtern und öffentlichen Funktionen waren alte Nazis aktiv. Vertuschen, Verheimlichen, Vergessen – das war in jenen Jahren allgegenwärtig. Oft wurde Heuss auch wegen seiner Reden zur Nazivergangenheit angegriffen. Viel kritische Post kam im Bundespräsidialamt an, gerade weil er es für seine Pflicht hielt, den Deutschen das Vergessenwollen und Nichtgewussthaben möglichst schwer zu machen. Er bekannte sich dabei auch offen zu seinem eigenen schweren politischen Fehler, wie er sagte, nämlich seiner Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz 1933.

Wo es ihm wichtig war, war er kompromisslos, ansonsten mit Herzenswärme und Gescheitheit überzeugend: So redete er den Deutschen ins Gewissen – und so erreichte er ihr Herz. Das vielleicht bezeichnendste Foto von ihm zeigt Theodor Heuss mit erhobenem Zeigefinger und lachend. Durch diese Kombination aus Mahnung und Zuneigung, aus strenger Belehrung und weisem Verständnis wuchs seine Popularität und sie wuchs mit jedem Jahr seiner Amtszeit.

Zu dieser Popularität hat entscheidend auch die Frau des ersten Bundespräsidenten beigetragen: Elly Heuss-Knapp. Hoch gebildet, gläubige evangelische Christin, Kandidatin für die Deutsche Nationalversammlung 1919, nach dem Zweiten Weltkrieg Abgeordnete im württembergisch-badischen Landtag. In ihrem Haus hatten sich im Dritten Reich früh schon Widerständler wie Pfarrer Martin Niemöller getroffen.

Nicht die Frau hinter einem starken Mann, vielmehr die starke Frau an seiner Seite. Sie war wohl die entschieden modernere von beiden. Im Krieg, als Theodor Heuss Berufsverbot hatte, ernährte sie mit ihrer Arbeit die Familie. Sie arbeitete unter anderem in der Werbung, wobei sie – manche wissen es vielleicht – in den 1930er Jahren bereits die Radiowerbung durch die patentierte Erfindung des Jingles revolutionierte, also des akustischen Warenzeichens.

Elly Heuss-Knapp verdanken wir schließlich eine der segensreichsten praktischen Ideen, die je im Bundespräsidialamt geboren wurden, und zwar bereits 1950, nämlich die Gründung des Müttergenesungswerkes. Heute ist es als Elly-Heuss-Knapp-Stiftung – Deutsches Müttergenesungswerk auch mit ihrem Namen verbunden. Ohne zu übertreiben, kann man sagen, dass diese Einrichtung unzähligen Frauen in oft schwierigsten Lebenssituationen eine unersetzbare Hilfe war und ist.

Ihr Tod – bereits im Jahre 1952 – hat Theodor Heuss tief getroffen. Begraben hat sie der Pfarrer und Theologe Helmut Gollwitzer. Es hätte sie beide, Elly und Theodor Heuss, vielleicht nicht gewundert, dass dieser, dann schon ein älterer Herr, eine solche Autorität war für die 1967/68 protestierenden Berliner Studenten und zum Freund Rudi Dutschkes wurde. Auch das sind Linien, die mit dem Ehepaar Heuss zu tun haben und die Bundesrepublik tief prägten.

Zum Schluss darf ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die der eine oder andere vielleicht kennt, die aber so viel über das Geheimnis der Wirkung von Theodor Heuss verrät.

Zu Beginn der 1950er Jahre herrschte zum Beispiel im Bundespräsidialamt noch ein strenges Protokoll. Es verlangte zum Beispiel, dass Gäste des Bundespräsidenten erst dann den Raum verlassen durften, wenn zunächst der Bundespräsident gegangen war. Nun saß aber Heuss gerne noch länger bei einem Viertele, dem vielleicht noch ein nächstes Viertele folgte, und die unvermeidliche Zigarre ging auch noch lange nicht aus.

So war es auch an diesem Abend wieder spät geworden. Als dann sein Referent ihm leise bedeutete: Herr Bundespräsident, da möchten einige Gäste langsam gehen, wenn Sie vielleicht …, da erhob sich Professor Heuss, wahrscheinlich die Zigarre in der einen und das Weinglas in der anderen Hand, und sagte in seinem schwäbischen Bass: Meine Damen und Herren: der Bundespräsident verlässt den Raum. Der Heuss bleibt hocke‘.

Genau diese Unterscheidung zwischen Person und Amt, die Selbstdistanz, mit der er oft von sich als dem Heuss sprach, hat auch das Amt des Bundespräsidenten geprägt. Auch die von Anfang an selbstverständliche Überparteilichkeit gehört zu diesem Erbe: eine von jedem Amtsinhaber immer wieder neu zu findende Mischung aus Engagement und souveräner Gelassenheit.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – eine Zeile, die Sie alle kennen, von Hermann Hesse, mit dem Heuss, wie mit so vielen Künstlern, befreundet war. Es ist gut und wichtig, von Zeit zu Zeit an diesen Anfang der damals so bescheidenen Bundesrepublik zu erinnern, an den Anfang, von dem wir bis heute immer noch viel lernen können.

Wenn schwere Zeiten wiederkommen und wenn die Zukunft ungewiss ist, wissen wir: Es gab schon einmal und es gibt deshalb unverlierbar einen Stil, es gibt eine Haltung, es gibt eine menschenfreundliche Ausrichtung der Politik, die in schweren Zeiten Bestand hatte und deshalb auch heute Bestand haben kann, haben muss, und die uns gelassen und tatkräftig zugleich in die Zukunft gehen lässt.

Benno Reifenberg, ein Freund und früherer Journalistenkollege von Heuss aus den Zeiten der Weimarer Republik erinnerte in seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1963 an dessen letzte Tage – und mit diesen Sätzen möchte ich schließen:

Als Heuss, aus der Klinik entlassen, noch einige Wochen in seinem Stuttgarter Haus verbringen konnte, schaute er aus den Kissen über die weite Hügellandschaft. Das Gesicht schmal, wie es einst nach den bösen Jahren erschienen war, zeigte eine leichte Röte auf den Wangen. Es erinnerte an Gesichter der Deutschen aus dem frühen vorigen Jahrhundert. Es lag ein Widerschein von Jugend darüber.

Vielen Dank.