Geteilte Geschichte(n): "Von Erwartungen und Enttäuschungen"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 16. September 2019

Der Bundespräsident hat am 16. September zum Auftakt des zweiten Gesprächs in der Reihe Geteilte Geschichte(n) zum Thema "Von Erwartungen und Enttäuschungen" in Schloss Bellevue eine Rede gehalten: "Viele Ostdeutsche fühlen sich bis heute nicht verstanden. Ihre Geschichten sind kein selbstverständlicher Bestandteil unseres gemeinsamen Wir geworden. Ich finde, 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es höchste Zeit, dass sich das ändert."


Die Erde unter unseren Füßen war in Bewegung geraten,
befremdet sah ich, wie aus dem Chaos etwas entstand,
das nicht das war, wovon wir geträumt hatten.
Erst da begriff ich, dass unsere Träume sehr verschieden gewesen waren.

Die Träume der Menschen in Regina Scheers wunderbarem Roman Machandel sind tatsächlich sehr verschieden. Sie handeln von der Sehnsucht nach Freiheit und der Sehnsucht nach Rückzug, von Hoffnungen und Ängsten und vom ganz privaten Glück, damals in den letzten Jahren der DDR.

Ja, die Träume waren sehr verschieden. Heute, 30 Jahre nachdem die Bürgerinnen und Bürger der DDR die Mauer zum Einsturz brachten, fragen wir uns: Was ist aus den Erwartungen und Träumen von damals geworden? Welche gingen in Erfüllung? Und welche wurden enttäuscht? Wo unser Land heute steht – das treibt uns stärker um als bei manch früherem Jubiläum.

Geteilte Geschichte(n) – in dieser Gesprächsreihe wollen wir über Geschichte und Geschichten reden, in einem geteilten und wieder vereinten Land. Liebe Gäste, ich möchte Sie zum zweiten Teil dieser Reihe hier bei uns in Schloss Bellevue begrüßen. Seien Sie alle herzlich willkommen!

Von Mut- und Glücksmomenten – davon handelte der erste Teil unserer Gesprächsreihe. Damals, als die Bürgerinnen und Bürger der DDR mit sehr viel Mut die Öffnung der Mauer erzwungen hatten, verspürten viele ein großes Glück. Heute soll es um Erwartungen und Enttäuschungem gehen. Denn auch Enttäuschungen gehören zur Realität der letzten 30 Jahre.

Friedliche Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung – waren sie der größte Glücksmoment der Deutschen? Die Antwort darauf fällt heute sehr unterschiedlich aus. Jeder Einzelne hat eine von den eigenen Erfahrungen geprägte Sichtweise auf die Ereignisse von damals.

Die Sichtweise unterscheidet sich, je nachdem, ob man aus dem Westen oder aus dem Osten kommt. Aber das ist nicht alles. Auch die Erfahrungen im Westen und im Osten unterscheiden sich sehr stark, und das gilt nicht nur für die Zeit vor und während des Mauerfalls, sondern auch für die Jahre danach. Die Härten des Umbruchs trafen im Osten jede einzelne Familie, und diese Erfahrung prägt auch die Sichtweise der nachfolgenden Generationen bis heute.

Viele Ostdeutsche fühlen sich bis heute nicht verstanden. Ihre Geschichten sind kein selbstverständlicher Bestandteil unseres gemeinsamen Wir geworden. Ich finde, 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es höchste Zeit, dass sich das ändert.

Geschichte und Geschichten sind nie einfach vergangen – das spüren wir in diesen Tagen und Wochen ganz besonders.

Wir sehen, dass sich neue, tiefe Risse auftun – Risse, die sich auch in Wahlergebnissen zeigen. Wir sehen eine wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Jung und Alt, zwischen Besserverdienenden und prekär Beschäftigten. Gerade in Regionen, in denen sich die Menschen vernachlässigt fühlen, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Jungen weggehen, in denen es weit ist bis zum nächsten Arzt, zur nächsten Schule, gibt es Verunsicherung, gibt es Unzufriedenheit.

Wir müssen diese Unzufriedenheit verstehen. Es ist wichtig, dass Politikerinnen und Politiker vor Ort unterwegs sind, dass sie zuhören, hinhören, was die Menschen umtreibt, und wo sie sich Veränderungen erhoffen. Niemand soll in unserem Land das Gefühl haben, nicht gehört zu werden oder nicht sagen zu dürfen, was er denkt.

Streit gehört zur Demokratie. Aber auch im Streit müssen Anstand und Vernunft gelten. Es hat nichts mit Anstand zu tun, menschenfeindlichen Parolen Beifall zu klatschen. Es hat nichts mit Vernunft zu tun, zwischen Fakt und Lüge keine Grenze mehr zu ziehen. Und – weil manche das so gerne für sich beanspruchen: Es hat auch nichts mit Patriotismus zu tun, diese Republik als System zu verhöhnen und mit Diktaturen zu vergleichen.

Ich verstehe die Unzufriedenheit. Ich sage aber auch: Unzufriedenheit ist kein Freibrief. Es gibt Grenzen im demokratischen Streit, und wer Hass und Hetze verbreitet oder mit neonazistischen Netzwerken paktiert, der überschreitet diese Grenzen! Das gilt im Osten wie im Westen.

Geschichte besteht immer aus Geschichten. Unser Gast Jana Hensel gehört als Autorin und Journalistin zu denen, die sich auf die Kunst des Geschichtenerzählens verstehen. Liebe Jana Hensel, Sie kommen selbst aus Leipzig und waren 13 Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie haben das als Bruch erlebt: Ihre Kindheit ging damit, wie Sie schreiben, abrupt zu Ende. In Ihrem Buch Zonenkinder haben Sie die Heimatlosigkeit beschrieben, die Sie als ganz junge Frau im vereinten Deutschland verspürt haben.

Der Osten Deutschlands hat Sie nie losgelassen: Sie haben zahlreiche Porträts und Reportagen über Ostdeutsche und Ostdeutschland geschrieben. Sie haben viel zugehört und dabei beobachtet, dass sich bei einigen bis in die zweite und dritte Generation das Gefühl weitervererbt, zu den Verlierern zu gehören. Manch einer möchte sicher widersprechen. Und doch: Darüber müssen wir diskutieren.

Herzlich willkommen also, liebe Jana Hensel!

Auch unser zweiter Gast heute versteht sich auf die Kunst des Geschichtenerzählens – mit bewegten Bildern. Liebe Regina Schilling, Sie porträtieren in Ihren Filmen Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen: Sie wollen Geschichte festhalten. Besonders berührend ist Ihr neuester Film Kulenkampffs Schuhe – ein Sittengemälde der jungen Bundesrepublik. Sie spüren dabei Ihrer eigenen Familiengeschichte nach, der Geschichte Ihres Vaters, den – wie so viele seiner Generation – ein großes Schweigen umgab.

Ihre Liebe gilt auch der Literatur. Seit vielen Jahren sind Sie mitverantwortlich für lit.Cologne, eines der größten Literaturfestivals in Europa. Und weil Sie mit all dem offenbar nicht ausgelastet sind, schreiben Sie auch noch Kinderbücher.

Anders als Jana Hensel sind Sie, liebe Regina Schilling, im tiefen Westen, in Köln, aufgewachsen. Und Sie waren bereits erwachsen, als die Mauer fiel und hätten sich das nie vorstellen können. Jetzt leben Sie seit vielen Jahren auch in Berlin.

Ein herzliches Willkommen auch Ihnen, liebe Regina Schilling!

Und schließlich darf ich unsere Moderatorin begrüßen: Maybrit Illner kennen die meisten von Ihnen als Fernsehmoderatorin und vor allem als Gastgeberin ihrer eigenen Talkshow. Sie sind in Ost-Berlin aufgewachsen, haben in der DDR studiert und waren ebenfalls schon erwachsen, als die Mauer fiel. Und auch Sie haben ganz sicher Ihren eigenen Blick auf diese Zeit.

Schön, dass Sie heute bei uns sind – herzlich willkommen, liebe Maybrit Illner!

Jetzt bin ich wie Sie, liebe Gäste, gespannt auf das Gespräch hier auf dem Podium. Und ebenso gespannt bin ich auf das, was Sie im Publikum noch beitragen werden. Herzlichen Dank Ihnen allen.

Mitschnitt des anschließenden Gesprächs