5. Ordentlicher Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig, , 22. September 2019

Der Bundespräsident hat am 22. September beim 5. Ordentlichen Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Leipzig eine Rede gehalten: "ver.di ist durch und durch politisch, aber politisiert nicht die Tarifverhandlungen. Sie sind überparteilich, aber Sie ergreifen Partei für ein solidarisches Land – für unsere Demokratie. Dieser Anspruch ist heute unverändert wichtig. Offenheit, Freiheit, Solidarität – davon lebt unsere Demokratie."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede beim 5. Ordentlichen Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Leipzig

ver.di und Leipzig – Leipzig und ver.di: Da haben sich zwei gefunden. Heute treffen Sie sich schon zum vierten Mal in dieser Stadt. Es weht also ein besonderer, ein Leipziger Geist durch diese Hallen.

Möge er so wehen, dass er viel Rückenwind gibt für gute Diskussionen. Ich wünsche einen erfolgreichen Bundeskongress. Herzlichen Dank für die Einladung.

Wenn Leipzig und ver.di so eine enge Beziehung haben, dann kann das kein Zufall sein. Leipzig ist wichtig für Ihre Gewerkschaftsgeschichte. Und Leipzig ist wichtig für unsere Demokratiegeschichte.

Vor 30 Jahren begannen vor der Nikolaikirche die ersten Montagsdemonstrationen. Am 9. Oktober werden wir hier in Leipzig in besonderer Weise daran erinnern. Zwei mutige Frauen entrollten damals ein Banner, darauf in Großbuchstaben: Für ein offenes Land mit freien Menschen.

Stasi-Beamte entrissen hastig das Laken. Aber es war zu spät. Der Ruf nach Freiheit war draußen, festgehalten von Fernsehkameras, seh- und hörbar in aller Welt.

Der Ruf nach Freiheit ließ sich nicht mehr einfangen.

Der Ruf nach Freiheit ließ sich nicht mehr zensieren.

Der Ruf nach Freiheit ließ sich nicht mehr unterdrücken.

Für ein offenes Land mit freien Menschen – was für ein kraftvoller Satz. Und eine Botschaft, die sich nicht erledigt hat. Im Gegenteil!

Offenheit, Freiheit, Solidarität, Demokratie – das zu schützen ist wichtig in diesen Zeiten. Dafür steht ver.di. Und dafür sage ich als Bundespräsident: Herzlichen Dank Ihnen allen!

Ich habe die Aktion der ver.di-Jugend beim Hereinkommen gesehen. Solidarität ist keine Altersfrage. Das haben die jungen, bei ver.di organisierten, Menschen mit ihren Rettungswesten gezeigt. Solidarität gilt im eigenen Land, aber Solidarität darf nicht an den Grenzen haltmachen. Deshalb wiederhole ich, was ich in Italien gesagt habe: Wir dürfen Italien mit dieser Aufgabe nicht alleine lassen.

Die Friedliche Revolution vor 30 Jahren nahm ihren Anfang auch in Gotteshäusern – in der Nikolaikirche oder der Gethsemanegemeinde, nicht in Gewerkschaftshäusern. In der DDR hießen die Gewerkschaften freie Gewerkschaften. Tatsächlich versuchte die SED-Bezirksleitung mit Partei-, FDJ- und Gewerkschaftsmitgliedern den Zugang zur Nikolaikirche zu blockieren. Die Feinde der Demokratie hatten immer auch Hand an Gewerkschaften und Berufsverbände gelegt.

Ein Blick auf die deutsche Geschichte und unsere Soziale Marktwirtschaft zeigt: Gewerkschaften sind mehr als Schönwettervereine und Tarifmaschinen. Wahrlich freie Gewerkschaften sind ein Signum der Demokratie. Sie leisten einen Dienst an der Demokratie.

Denn Gewerkschaftsarbeit ist mehr als die nächste Gehaltserhöhung. Es geht um mehr als den Tarifvertrag. Es geht um die großen politischen Fragen unserer Zeit:

Es geht um die Digitalisierung – um eine Zukunft, die nicht Angst vor dem Abstieg, sondern Lust auf mehr macht.

Es geht um bezahlbare Mieten und faire Renten.

Und es geht um eine ambitionierte und eine gerechte Klimapolitik.

Der Kampf gegen den Klimawandel braucht kraftvolle Entscheidungen, besser heute als morgen. Ich bin überzeugt:

Klimapolitik ist umso wirksamer, je mehr Menschen die Chance haben mitzutun.

Klimapolitik wird besser funktionieren, wenn die Lasten fair verteilt sind.

Klimapolitik ist stärker, wenn sie sozial Schwächere nicht einfach zur Seite schiebt und als Kollateralschäden abtut oder ganze Regionen und Menschen in ganzen Branchen nicht einfach abschreibt, sondern Perspektiven gibt. Klimapolitik funktioniert, wenn sie auch dort, wo Veränderung unvermeidbar ist, für neue Zukunft sorgt.

Die richtige Antwort auf die Erderwärmung ist nicht soziale Kälte, sondern solidarische Verantwortung.

Gewerkschaften wollen unsere Gesellschaft gestalten: solidarisch, zukunftsgewandt und – wie Sie Ihren Kongress überschrieben haben – zukunftsgerecht.

ver.di ist durch und durch politisch, aber politisiert nicht die Tarifverhandlungen. Sie sind überparteilich, aber Sie ergreifen Partei für ein solidarisches Land – für unsere Demokratie.

Dieser Anspruch ist heute unverändert wichtig. Offenheit, Freiheit, Solidarität – davon lebt unsere Demokratie.

Das gilt heute umso mehr, weil Demokratieverächter wieder Zulauf haben. Weil Hass und Hetze wieder aufflammen. Weil es Leute gibt, die Kolleginnen und Kollegen in Gruppen einteilen und ausgrenzen: nach Herkunft oder Hautfarbe, in Bio- oder Passdeutsche, in Bürger und Nachbarn erster und zweiter Klasse.

Deswegen ist es gut, dass wir starke Gewerkschaften haben, die sagen: so nicht! Und deswegen ist es gut, dass wir eine starke Dienstleistungsgewerkschaft haben, die sagt: so nicht mit uns!

Meine einfache Botschaft heute lautet: ver.di, wie gut, dass es Euch gibt!

Und erlauben Sie mir, im Namen aller zu ergänzen: Wie gut, dass es Frank Bsirske gibt.

Diesen Satz werden vermutlich zuallererst Ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ver.di unterschreiben. Kolleginnen und Kollegen beschreiben Sie als empathisch, interessiert, zugewandt, mit einem offenen Ohr für Argumente und für Gegenargumente. Und als Fußballverrückten. Offenbar werden Besprechungen immer so angesetzt, dass diese auf keinen Fall mit wichtigen Spielen kollidieren. Ich glaube, so einen Chef wünschen sich viele.

Wie gut, dass es Frank Bsirske gibt – diesen Satz werden auch ganz viele Menschen in diesem Land unterschreiben. Wenn man Passanten auf der Straße anspricht und nach ver.di fragt, dann hört man vermutlich: Das ist doch der Typ mit der Jeans und dem Schnauzbart.

Frank Bsirske war 20 Jahre lang ver.di. und ver.di war 20 Jahre lang Frank Bsirske.

Unzählige Tarifrunden, durchverhandelte Nächte, Kundgebungen im strömenden Regen, mitreißende Reden bis die Stimme heiser war. Mit der Rente mit 63 wollte Frank Bsirske bei sich selbst jedenfalls nicht anfangen.

Ich spreche nicht als Bundespräsident, sondern als Frank Steinmeier, wenn ich sage: Lieber Frank, wir kennen uns jetzt eine ganze Weile, bestimmt 25 Jahre, ganz sicher länger als es ver.di gibt. Wir kennen uns, seit wir beide unsere Büros nicht viel weiter als einen Steinwurf voneinander entfernt in Hannover hatten.

Und ich weiß noch von damals, Du hast zu Hause eine beeindruckende Bibliothek, die stetig anwächst: Krimis, Soziologie, Literatur. Das Erbe eines klassisch linken Politikstudiums. Peter Weiss ist einer Deiner Lieblingsautoren, hört man, Die Ästhetik des Widerstands – ein Kultbuch der Arbeiterbewegung, ein Buch über die Bedeutung von Bildung, das Dich und Deine Sicht auf die Welt geprägt hat.

Ich weiß, wir beide glauben an ein starkes Land. Wir glauben an ein solidarisches Land. Dafür haben wir uns über die Jahre mit aller Kraft eingesetzt – nicht immer mit den gleichen Antworten, aber immer mit den gleichen Idealen. Wir hatten eine persönlich freundschaftliche, politisch mitunter sehr intensive Beziehung. Wir haben viel miteinander erlebt – und wo Nähe war, blieb Reibung nicht aus.

Ja, wir haben es uns nie leicht gemacht miteinander. Ich erinnere mich etwa an unsere Debatten auf Ihrem Bundeskongress 2011, über das Für und Wider der großen Arbeitsmarktreformen. Einig waren wir uns jedenfalls, dass vieles einfacher gewesen wäre, hätten wir den Mindestlohn von Anfang an eingeführt. Du warst dafür, ich auch. Nicht alle in der Politik waren dafür. Aber die ganze Wahrheit ist: Auch nicht alle in den Gewerkschaften. Die Befürchtung, dass der Staat sich der Lohnpolitik bemächtigt, war noch stärker als die Argumente der Befürworter. Wir mussten lange Umwege gehen, zehn Jahre zunächst vergebliches Ringen, die Akzeptanz gekostet haben, ja! Aber Deutschland hat den gesetzlichen Mindestlohn; diese Lücke im ordnungspolitischen Rahmen der sozialen Marktwirtschaft ist geschlossen.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Ohne ver.di, ohne Frank Bsirske, wären wir vermutlich nicht so weit gekommen.

ver.di ist sichtbar und hat Schlagkraft. Heute wird die Schlagkraft von ver.di oftmals als selbstverständlich betrachtet. Dabei wird gerne übersehen: Das war ein Stück harter Arbeit und der Erfolg war keinesfalls selbstverständlich. Das war eine ganz starke Leistung und das war auch Deine Leistung, lieber Frank!

Dafür müssen wir uns gedanklich auf eine kleine Zeitreise zum ÖTV-Kongress im Jahr 2000 in Leipzig machen, als das Projekt ver.di überhaupt nicht sicher war – gar auf der Kippe stand. Die ÖTV suchte damals in schwieriger Lage einen neuen Vorsitzenden. Du warst gerade in Deinem Büro in Hannover, als das Telefon klingelte. Da blieb keine Zeit zum Überlegen – also Koffer gepackt und ab in den Zug. Deine Frau Bettina an Deiner Seite. Nach einer Stunde Nachdenken und Diskutieren sagte sie: Mach das! Der Rest ist Geschichte.

Sie, lieber Frank Bsirske – und jetzt spricht wieder der Bundespräsident – haben sich um ver.di verdient gemacht. Und Sie haben sich um Deutschland verdient gemacht. Dafür gebührt Ihnen heute unsere besondere Anerkennung und der Dank des gesamten Landes.

ver.di kann einen Gestaltungsanspruch für unsere Gesellschaft formulieren, weil Sie die ganze Breite unserer Gesellschaft abbilden. Sie sind die Gewerkschaft der 1.000 Berufe: von den Angestellten bei Greenpeace bis zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kohlekraftwerken.

Sie wissen, was es heißt, Interessen zu bündeln. Sie wissen, wie schwer das permanente Aushandeln ist und Sie wissen auch, wie unverzichtbar der Kompromiss für den Zusammenhalt Ihrer Gewerkschaft und unserer Gesellschaft ist.

Manchmal frage ich mich, ob der Zusammenschluss zu ver.di auch heute zustande gekommen wäre. Eine Segmentierung der Interessen ist unübersehbar. Übergreifende Interessensvertretungen verlieren an Strahlkraft – gerade auch in der Wirtschaft, Volksparteien an Bindekraft, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände an Mitgliedern. Partikularinteressen gewinnen an Gewicht, die Tarifbindung leidet, oft scheint das Trennende größer als das Verbindende.

Das sind schwierige Zeiten für Gewerkschaften als Experten für den Zusammenhalt unserer sozialen Ordnung. Deswegen bin ich heute gekommen, um Ihre Arbeit zu würdigen und zu unterstützen. Und ich will ein Signal der Wertschätzung an Ihre Mitglieder senden – an die Leistungsträger unserer Gesellschaft.

Ich finde, die Leistungsträger unserer Gesellschaft erkennt man nicht unbedingt am dicken Gehaltsscheck, nicht am großen Eckbüro und am Dienstwagen. Die Leistungsträger erkennt man daran, dass sie nicht nur etwas für sich, sondern auch für andere und für unsere Gesellschaft leisten. Darauf wird es ankommen. In Zukunft viel mehr als in der Vergangenheit.

Das tun Ihre Mitglieder in vielfältiger Weise. Auf Ihrer Webseite stellen sich einige persönlich vor. Da ist Fier Baauw, seit 40 Jahren bei der Berliner Stadtreinigung. Müllwerken ist Schwerstarbeit, sagt er. Nebenbei kümmert er sich um einen besseren Gesundheitsschutz in den Müllverbrennungsanlagen.

Da ist Regine Richter. Sie arbeitet als Friseurin hier in Leipzig. Sie kennt das Problem mit niedrigen Löhnen in ihrer Branche und setzt sich als Betriebsrätin für einen fairen Tarifvertrag in ihrem Salon ein.

Da sind Beate Mickasch und Bärbel Thamhayn. Beide arbeiten im Einzelhandel – kein einfaches Terrain für Gewerkschaften. Aber beiden ist es gelungen, viele Kolleginnen und Kollegen vom Mitmachen zu überzeugen, und damit gemeinsame Interessen besser zu vertreten.

Vier Menschen in drei unterschiedlichen Branchen, die eines eint: Sie tun etwas, um Dinge zu ändern, für sich selbst, aber vor allem auch solidarisch mit anderen. Dafür haben sie stellvertretend für viele andere unsere Anerkennung verdient. Herzlichen Dank Ihnen allen für Ihr Engagement.

Anerkennung ist wichtig, aber reicht nicht aus. Anerkennung allein ersetzt keine fairen Löhne, Anerkennung allein sorgt nicht für gute Arbeitsbedingungen und Anerkennung allein tröstet nicht über prekäre Arbeitsverhältnisse hinweg.

Ich finde, das oberste Prinzip unserer Sozialen Marktwirtschaft muss sein: Jeder hat einen fairen Lohn für seine Arbeit verdient. Jeder sollte vom Lohn seiner Arbeit auch leben können.

Das ist eine Frage von Gerechtigkeit. Das ist auch im Interesse der Wirtschaft allgemein. Nur so können wir die soziale Balance in unserem Land erhalten und nur so werden sich auch in Zukunft junge Menschen für Berufe im Dienstleistungsbereich entscheiden. Die Jüngeren brauchen wir dringender denn je in den nächsten Jahren.

In den vergangenen Jahren war häufig zu hören, dass die jungen flexiblen Spezialisten […] keine Interessenvertretung brauchten. […] Wir haben aber erlebt, dass auch neu gegründete und schnell gewachsene Unternehmen des neuen Marktes Anpassungsprobleme und Existenzsorgen bekommen können. Das hat auch zu einer ganz neuen Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften in der New Economy geführt.

Diese Sätze klingen ganz aktuell, stammen aber von Johannes Rau, gesprochen vor 18 Jahren auf dem ver.di Gründungskongress. Heute sagt man nicht mehr New Economy, sondern Digitalisierung, KI und Industrie 4.0. Aber das Gefühl ist ähnlich: Alles ändert sich grundlegender und schneller als je zuvor.

Dieser Wandel kommt mit Umbrüchen und Unsicherheit. Auch heute, 18 Jahre nach der Rede von Johannes Rau, können wir den Wandel nicht verhindern, aber gerade die Gewerkschaften können ihn gestalten. Sie können dabei helfen, den Menschen Sicherheit zu geben und mit dem Wandel Schritt zu halten. Sie können dafür sorgen, dass die Digitalisierungsdividende nicht nur wenigen, sondern möglichst vielen zugutekommt, nicht nur den Shares der Anteilseigner, sondern auch den Löhnen der Beschäftigten. Selbst im Herzen der Plattformwirtschaft – in Kalifornien – erstreiten Aktivisten inzwischen soziale Rechte für digitale Arbeit. Weiß Gott nicht üblich, aber das macht Mut.

Das ist die vornehmste Aufgabe der Sozialpartner und das ist auch eine große Chance für die Gewerkschaften. Wie sichern moderne Tarifverträge die Zukunft der Arbeit? Wie sehen faire Regeln für die Arbeit der Zukunft aus?

Darauf wollen Sie in Leipzig Antworten geben. Besonders gefällt mir: Sie haben Lust auf Zukunft! Sie wollen die Chancen der Digitalisierung ergreifen. Nicht naiv und blind vor den Risiken, sondern auf Grundlage solider Fakten, mit Gestaltungswillen und mit einer Portion gesundem Optimismus.

Dafür haben Sie guten Grund. Das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit hat auf seiner Webseite einen Job-Futuromaten. Damit kann man für jeden Beruf nachschauen, welche Tätigkeiten heute schon ein Roboter übernehmen könnte.

Die gute Nachricht: Für viele Dienstleistungsberufe ist die Automatisierbarkeit eher niedrig. Gerade in Altenheimen, in Schulen, Kitas und Krankenhäusern – überall dort, wo es auf den Dienst des Menschen am Menschen ankommt. Überall dort können digitale Helfer die Arbeit vielleicht erleichtern, aber nie ersetzen.

Es geht also darum, diese Berufe aufzuwerten, oder besser gesagt, ihnen die Wertigkeit und die Anerkennung zu geben, die ihnen zusteht. Deswegen freue ich mich, dass Sie zum Beispiel in guten Gesprächen mit dem neuem Arbeitgeberverband in der Pflegebranche sind.

Natürlich gibt es auch Dienstleistungsberufe, die durch die Digitalisierung unter Druck geraten. Aber auch dort, wo Maschinen die menschliche Arbeitskraft verdrängen könnten, bedeutet das nicht automatisch den Weg zur Agentur für Arbeit.

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Eurogate. Geschäftsführung und Betriebsrat haben sich an einen Tisch gesetzt. Sie haben gemeinsam eine Digitalisierungsstrategie erarbeitet, die Effizienzgewinne ausschöpft und Jobs sichert. Ein Kompromiss, der den einzelnen Arbeitnehmer schützt, nicht die spezifische Tätigkeit erhält, aber den Arbeitsplatz im Betrieb. Ein Kompromiss, der die Dividende der Digitalisierung fair aufteilt.

Wettbewerbsfähigkeit und soziale Verantwortung sind eben kein unauflösbarer Widerspruch – beide gehören zusammen. Und ver.di zeigt, dass es geht.

Dazu gehört auch: Neue Formen der Beschäftigung brauchen neue Ideen der sozialen Sicherung. Ich finde, wir können offen für neue Jobs sein – auch für solche, die nicht dem klassischen Neun-bis-Fünf-Uhr-Arbeitsvertrag entsprechen.

Aber wenn Plattformunternehmen die Hände heben und sagen: Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter – das geht uns nichts an, dann kann und darf das nicht das Modell für unsere Zukunft sein. Soziale Verantwortung der Unternehmen ist auch in der digitalen Moderne möglich. Und damit diese Verantwortung angenommen wird, brauchen wir starke Interessensvertretungen und die Bereitschaft, sich in ihnen zu organisieren. Die digitale Moderne stellt uns große Aufgaben, die ohne Gewerkschaften nicht zu lösen sind. ver.di wird gebraucht und die anderen Gewerkschaften nicht minder – das ist mühelos vorauszusehen.

Weil ich aus besonderem Anlass heute so viel über Frank Bsirske gesprochen habe, dann weil er während dieses Kongresses den Stab an seine Nachfolger übergibt. Das ist für ver.di ein tiefer Einschnitt. Aber in einer Demokratie dürfen wichtige Institutionen nicht allein von einzelnen Menschen abhängen. Ich bin sicher: Die Mitglieder tragen ver.di und werden ver.di weitertragen – auch mit neuen Frauen und Männern am Ruder. Sogar die Briefe an den Vorsitzenden können voraussichtlich weiterhin mit Lieber Frank beginnen. Wenn das keine Kontinuität ist.

Frank Bsirske geht von der Brücke, aber – das war und ist sein Amtsverständnis – er übergibt ein sturmerprobtes und hochseetaugliches Schiff. Wir müssen uns also keine Sorgen machen: Es wird eine starke ver.di auch nach Frank Bsirske geben.

Und auch für Frank Bsirske – selbst wenn er sich das im Moment vermutlich noch nicht vorstellen kann – wird es ein Leben nach dem ver.di-Vorsitz geben. Ich werde jetzt nicht das Klischee vom Unruhestand bemühen. Du wirst Dich weiter einmischen. Langweilig wird es Dir jedenfalls nicht werden. Dafür wird der Stapel mit neuen Kriminalromanen sorgen, der nur darauf wartet, verschlungen zu werden. Ich habe gehört, bei einem zweiwöchigen Urlaub haben zehn Krimis nicht ausgereicht. Und weil ich das nun öffentlich gesagt habe, was meinst Du, lieber Frank, wie viele Du nun geschenkt bekommst.

Ihnen allen, liebe Delegierte, rufe ich zu: Die Stimme von ver.di hat Gewicht – auch auf Ihre Stimme kommt es an in der Demokratie. Bleiben Sie lautstark, bleiben Sie meinungsstark, bringen Sie sich ein – für unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und für unsere Demokratie!

Herzlichen Dank.