Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit: "Mut zur Zukunft: Grenzen überwinden"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 2. Oktober 2019

Der Bundespräsident hat am 2. Oktober bei der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an 25 Bürger in Schloss Bellevue eine Rede gehalten: "Ihre Lebensgeschichten sind sehr verschieden, manche sind sehr berühmt, andere etwas weniger, aber sie alle zeichnet aus, dass sie in ihrem Leben nicht einfach auf 'bessre Zeiten' warten, sondern immer wieder den Mut fassen, zu widersprechen, anders zu denken, neue Wege zu gehen und Grenzen zu überwinden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede bei der Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit mit dem Motto "Mut zur Zukunft: Grenzen überwinden" im Großen Saal von Schloss Bellevue.

Warte nicht auf bessre Zeiten / Warte nicht mit deinem Mut, Zeilen, geschrieben von Wolf Biermann in den frühen siebziger Jahren, nicht lange vor seiner Ausbürgerung aus der DDR. Sein Lied war damals für viele Menschen eine Ermutigung zum Aufbruch, ein musikalisches Fanal, die Zukunft nicht länger vor sich herzuschieben, sondern das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Heute Mittag wollen wir 25 Frauen und Männer aus fast allen Teilen unseres Landes ehren, die genau diese Haltung miteinander verbindet: Ihre Lebensgeschichten sind sehr verschieden, manche sind sehr berühmt, andere etwas weniger, aber sie alle zeichnet aus, dass sie in ihrem Leben nicht einfach auf bessre Zeiten warten, sondern immer wieder den Mut fassen, zu widersprechen, anders zu denken, neue Wege zu gehen und Grenzen zu überwinden – eigene Grenzen, aber auch Grenzen zwischen Menschen, zwischen Ländern, zwischen Welten. Sie alle stehen dafür, dass wir etwas verändern und die Welt von morgen mitgestalten können, im Osten wie im Westen, von den Tiefen der Ozeane bis in die Höhen des Alls – und alles, was dazwischen liegt.

Ich freue mich sehr, Sie heute hier zu haben, eine wirklich großartige Mischung aus Bürgerrechtlern und Friedlichen Revolutionären, Künstlern und Wissenschaftlern. Jede und jeder von Ihnen hat sich besonders verdient gemacht um unser Land. Und jede und jeder Einzelne führt uns auf ganz eigene Art vor Augen: Nicht alle Grenzen müssen bleiben, oder in den Worten eines der Beteiligten heute: Hinterm Horizont geht’s weiter.

Schön, dass Sie da sind, Ihnen allen ein ganz herzliches Willkommen hier in Bellevue!

Morgen feiern wir den Tag der Deutschen Einheit, und in diesem Herbst feiern wir 30 Jahre Friedliche Revolution. Die Erinnerung an die Demonstrationen in Plauen, in Leipzig und vielen anderen ostdeutschen Städten macht uns noch einmal bewusst: Die DDR implodierte nicht einfach wie ein alter Schwarz-Weiß-Fernseher, die Mauer fiel nicht plötzlich und nicht von selbst in sich zusammen. Es waren mutige Bürgerinnen und Bürger, die damals vorangingen und sich ihre Freiheit erkämpften. Sie brachten die Mauer zum Einsturz, ganz ohne Gewalt, und sie bahnten den Weg zur Deutschen Einheit.

Einige von ihnen sind heute Mittag hier: Frauen und Männer, die mitgeholfen haben, die DDR-Diktatur zu stürzen und die deutsch-deutsche Grenze zu überwinden, und das nicht nur in den historischen Jahren 1989 und 1990, sondern oft schon lange davor, in einem jahrzehntelangen zähen Kleinkrieg gegen den verknöcherten Machtapparat, wie Sie, lieber Jens Reich, einmal gesagt haben.

Sie alle überwanden irgendwann ihre Angst und ihre Zweifel, wagten sich hinaus aus gesellschaftlichen, auch aus privaten Nischen, weil sie sich als Künstler, Forscher, Andersdenkende und Unangepasste eingemauert und eingeschränkt fühlten; weil sie das Unrecht, das sie täglich sahen und dem sie selbst ausgesetzt waren, nicht länger hinnehmen wollten; weil sie sich ihrer Verantwortung bewusst wurden, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.

Viele von ihnen engagierten sich zu DDR-Zeiten in kirchlichen Kreisen, schlossen sich der Umwelt- und Friedensbewegung an, traten für Meinungsfreiheit und Menschenrechte ein, sammelten Unterschriften und gründeten Initiativen. Sie verbreiteten unerwünschte Schriften und sangen unerwünschte Lieder; dokumentierten die Vergiftung der Umwelt und den Verfall der Städte; knüpften Kontakte zu Bürgerrechtlern in den östlichen Nachbarstaaten und zu Journalisten im Westen.

Und sie alle wussten, wie viel sie riskierten, für sich selbst und für ihre Familien. Sie wurden von der Stasi bespitzelt, verfolgt, manche schikaniert; sie durften ihren Beruf nicht mehr ausüben, nicht mehr auftreten oder publizieren; einige wurden verhaftet oder ausgebürgert. Aber Repressalien konnten den Freiheitswillen nicht brechen, ganz im Gegenteil – sie boten der Staatsmacht die Stirn; aufrechter Gang gegen die verlangte blinde Gefolgschaft. Und das verdient unseren allerhöchsten Respekt!

Es waren viele Rinnsale der Dissidenz und des Widerstands, die in der DDR allmählich zu jenem gewaltigen Strom zusammenflossen, der die Mauer schließlich hinwegspülte, und mit ihr einen ganzen Staat. Manche von Ihnen hier im Saal prangerten 1989 die Fälschungen bei den Kommunalwahlen an, gründeten das Neue Forum mit, ergriffen auf Straßen und Plätzen das Wort. Und Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger schlossen sich dieser Bewegung an.

Hier im Saal sind heute auch einige derjenigen, die am 9. Oktober in Leipzig auf den Turm der Reformierten Kirche stiegen, die die Montagsdemonstration unten auf dem Innenstadtring filmten und die verbotenen Bilder über die Grenze brachten. Sie sorgten dafür, dass der Ruf Wir sind das Volk! durch die Wohnzimmer schallte, im Westen und im Osten. Ihre Bilder bewegten Deutschland, Europa, die ganze Welt, und es war auch ihr Verdienst, dass die Friedliche Revolution nun und fortan nicht mehr aufzuhalten war.

Sie alle haben damals unvorstellbaren Mut gezeigt, und Ihr Mut hat Grenzen gesprengt. Dafür sind wir Ihnen heute im wiedervereinigten Deutschland nicht nur Respekt, sondern vor allen Dingen Dank schuldig.

Der Aufbruch von 1989/90 war mit dem Fall der Mauer nicht an sein Ende gekommen, auch das gilt es in Erinnerung zu behalten. Die Runden Tische, der Sturm auf die Stasi-Zentralen, die ersten freien Wahlen, die Arbeit in Volkskammer und Bundestag, die Wiedervereinigung von Staat und Gesellschaft, auch dafür steht ein Großteil unserer Ehrengäste.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie Ihre Freiheitsgeschichten, Ihre Ideen, Ihren Widerspruchsgeist mit eingebracht haben und weiter mit einbringen in unsere gemeinsame Demokratie. Und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie als Zeitzeugen nicht müde werden, die Erinnerung an die DDR wachzuhalten – an Diktatur und Unrecht, Schuld und Leid, aber auch an das große Glück der Friedlichen Revolution.

Denn der Kampf gegen das Vergessen bleibt wichtig, gerade heute. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wissen manche Westdeutsche immer noch wenig, und viele junge Menschen wissen nur noch wenig über die DDR. Manche haben kaum eine Vorstellung davon, wie es sich anfühlte, im SED-Staat zu leben; wofür die Oppositionellen kämpften; wie hart auch der Umbruch war, der ab 1990 jede einzelne Familie in Ostdeutschland traf.

Viele ostdeutsche Geschichten sind noch kein selbstverständlicher Bestandteil unseres gesamtdeutschen Wir geworden, und ich finde, das müssen wir dringend ändern! Sie alle, meine Damen und Herren, tragen mit Ihrer Erinnerungsarbeit dazu bei, unsere Gesellschaft weiter zusammenwachsen zu lassen. Sie helfen immer noch mit, Grenzen zu überwinden – Grenzen zwischen Ost und West, aber auch zwischen Älteren und Jüngeren.

Wie sehr unser Land Sie weiterhin braucht, das sehen wir heute vielleicht noch klarer als vor zehn oder zwanzig Jahren. Der Kampf für Freiheit und Demokratie ist ganz offensichtlich nicht ein für allemal erledigt. Auch bei uns in Deutschland erleben wir heute, wie Freiheit und Menschenwürde angefochten werden, wie das Gift des Hasses in die Sprache und die Gesellschaft einsickert, auch, wie Menschen sich abwenden von der Demokratie.

Von Ihnen, den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, können wir lernen, für die Demokratie zu streiten. Und für die Demokratie streiten, gegen Ausgrenzung und Abschottung kämpfen, das müssen wir heute tun, und zwar überall im Land, in Ost und West!

Grenzen überwinden auch die Künstlerinnen und Künstler, die wir heute auszeichnen. Sie alle haben Großes in Literatur, Theater, Musik geschaffen. Sie alle lassen Kunst und Gesellschaft einander begegnen, und sie bringen ganz unterschiedliche Menschen zusammen. Manche von ihnen zeichnen sich durch ihren Eigensinn und ihre Unangepasstheit aus, dadurch, dass sie abseits des Mainstreams nach Inspiration suchen – und gerade deshalb Zukunftsweisendes entdecken helfen.

Da ist die Theaterregisseurin, die alte Figuren für aktuelle Fragen entdeckt und Freiräume für das Unerhörte schafft. Die Lyrikerin, die im Gewöhnlichen das Geheimnisvolle entdeckt und sich in neue Wortlandschaften vorwagt. Der Rocksänger, dessen Musik bis heute Menschen in Ost und West bewegt und verbindet, ein Sonderzug nach Pankow auf zwei Beinen und mit Hut, wenn Sie so wollen. Und da ist der Liedermacher, der gern ins Offene träumt und junge Menschen zugleich aufrüttelt, aufzustehen und sich einzumischen.

Wir haben heute eine Schauspielerin hier, die sozial benachteiligten Kindern Brücken in die Welt der Kultur baut. Eine Sopranistin, die das musikalische Erbe von Mendelssohn-Bartholdy über Grenzen hinweg lebendig hält, von Leipzig über New York bis nach Tokio. Und eine andere Sopranistin hier im Saal ist nicht nur ein Weltstar, sondern auch überirdisch unterwegs: Eine Schallplatte mit einer von ihr gesungenen Arie der Königin der Nacht düst seit 1977 durchs All, als Botschafterin der Menschheit.

Sie alle machen unser Land zu einem humanen und solidarischen, zu einem klangvollen und geistreichen Ort. Zu einem Ort, an dem viele Menschen Tag für Tag gern leben. Auch dafür einen herzlichen Dank!

Nicht zuletzt wollen wir heute Frauen und Männer hier ehren, die sich um die Wissenschaft in unserem Land verdient gemacht haben. Es sind herausragende Forscherinnen und Forscher, die über Fachgrenzen hinausdenken, die andere anspornen und begeistern, die sich den großen Herausforderungen unserer Zeit stellen und uns immer wieder neue Horizonte öffnen.

Das gilt für die Meeresbiologin, die Ozeane erforscht und neue Tiefen entdeckt, ebenso wie für den Astronauten, dessen Blick aus dem All auf uns Millionen erst vor kurzer Zeit wieder bewegt hat. Beide helfen uns, die dramatischen Folgen von Umweltverschmutzung und Klimawandel besser zu verstehen – und hoffentlich auch Lösungen zu entwickeln und durchzusetzen, mit denen wir die Zukunft unseres Planeten sichern können.

Das gilt auch für die Informatikerin, deren Forschung hilft, die Lebensdauer von Materialien in Fahrzeugen, Solaranlagen oder eben auch Raumstationen zu verlängern, ebenso wie für ihren Fachkollegen, der künstliche Intelligenz und die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter entwickelt.

Wir haben eine Mikrobiologin hier, deren Erfindung Hoffnung macht, dass heute unheilbare Krankheiten in Zukunft besiegt werden können; zwei Historiker, die unseren Blick auf die Welt und für internationale Verflechtungen im Guten wie im Schlechten schärfen und uns andere Kulturen näherbringen; einen jungen Mathematiker, der auf neuen Pfaden nach Lösungen für alte Rätsel sucht.

Wenn ich Sie alle hier sehe, dann ist mir um die Zukunft nicht bange. So viel Energie und Exzellenz, so viel Neugier und Offenheit, so viel Mut und so viel Tatkraft! So viele Menschen, die nicht auf bessre Zeiten warten, sondern sich mit Leidenschaft engagieren und auch das Gespräch mit der jungen Generation suchen und finden! Was für ein Glück, in einem Land zu leben, das Menschen wie Sie in seiner Mitte hat. Und auch das dürfen wir am Tag der Deutschen Einheit wahrlich feiern.

Sie alle haben Außergewöhnliches geleistet, und ich freue mich sehr, Sie nun mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen.

Herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch!