Jom Kippur ist der Tag der Versöhnung, der höchste, der wichtigste jüdische Feiertag. Trotzdem: Ich bin voller Zorn. Mich erfüllt Trauer über die Toten des gestrigen Tages, und mich ergreift Zorn über die nicht enden wollende Dummheit, Feigheit und Brutalität der Angriffe auf die jüdische Gemeinschaft in unserem Land.
Ich bin die dumpfe Verachtung leid, die kaum verhohlene Bereitschaft zu Gewalt, das offene Schüren von Hass gegen Minderheiten, gegen Andersdenkende, gegen demokratische Institutionen in unserem Land. Ich bin es leid, dass Rechtsextremismus offen das Wort geredet wird und diese Borniertheit klammheimliche Zustimmung findet. Ich sage es deutlich: Wer dafür auch nur einen Funken Verständnis aufbringt, der macht sich mitschuldig für Taten anderer und Geschehnisse wie gestern in Halle.
Meine Gedanken sind bei den Ermordeten, den Verletzten des gestrigen Tages und ihren Angehörigen, und sie sind bei denen, die gestern darauf vertrauen mussten, dass eine Tür standhält und Schlimmeres verhüten möge. Meine Gedanken sind bei den Mitgliedern aller jüdischen Gemeinden in Deutschland, die dieser Anschlag in Angst versetzt hat.
Heute Morgen, im Gespräch mit einigen Gemeindemitgliedern in Halle, war die Angst, die Todesangst noch sehr präsent. Auch unter den Gästen heute Abend sind vier, die gestern in der Synagoge in Halle waren. Ich freue mich und bin froh, dass Sie hier bei uns sind, und wünsche Ihnen, dass Sie über die Angst und den Schrecken hinwegkommen mögen. Und dass es nie wieder Grund für diese Angst geben möge! Danke, dass Sie gekommen sind.
Seit vielen Wochen laufen die Vorbereitungen für den heutigen Abend. Ein Abend, an dem die Freude im Vordergrund stehen sollte: Freude über die Auszeichnung eines langen und beeindruckenden Lebenswerks einer ganz besonderen Frau. Und auch Freude über das zehnjährige Bestehen eines noch vergleichsweise jungen, aber eindrucksvollen Teils des jüdischen Lebens in unserem Land.
Liebe Charlotte Knobloch, ich habe mich auf diesen Abend und auf diese Laudatio gefreut. Wir kennen uns seit vielen Jahren, und ich darf – glaube ich – sagen, wir schätzen uns. Unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten. Und weil ich Sie kenne, weiß ich, dass Sie mir zustimmen werden, dass ich meiner Laudatio diese Worte voranstellen musste. Doch so entschlossen wir uns unseren Gegnern entgegenstellen, so entschlossen sollten wir auch sein, uns von denen nicht die Agenda diktieren zu lassen.
Deshalb lassen Sie mich meine Laudatio beginnen, wie Charlotte Knobloch selbst es tun würde. Sie würde charmant, aber bestimmt auf den Punkt kommen wollen, ohne Umschweife und lange Vorrede. Ich will es ihr gleichtun und Ihnen sagen, was die meisten von Ihnen ganz sicher aus persönlichen Begegnungen und Erfahrungen mit ihr bestätigen werden: Charlotte Knobloch ist eine unüberhörbare Stimme, ein Orientierungslicht, ein unschätzbar wertvoller Mensch für uns alle – für das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, das sie heute ehren will, für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, für unser Land und auch für mich persönlich.
In fast drei Jahrzehnten, liebe Charlotte Knobloch, begegnen wir uns bei freundlichen und weniger freundlichen Anlässen. Viel zu häufig waren antisemitische Äußerungen oder Übergriffe der Anlass für unseren persönlichen Austausch.
Aber ich erinnere mich auch an Begegnungen, die Glanzpunkte waren, wie die Wiedereröffnung der Synagoge zum Weißen Storch in Breslau, die für mich ein besonderer ästhetischer Genuss und vor allem ein Hörerlebnis war: Der wunderbare Gesang der drei Kantoren ist mir ebenso unvergesslich wie die Ordinierung der vier Rabbiner, die am deutschen Abraham Geiger Kolleg ausgebildet wurden – die erste Auslandsordinierung des Instituts. Und die in Polen!
Bei all diesen Begegnungen habe ich Ihre persönliche Unabhängigkeit, Ihre Loyalität und Ihre Freundschaft erfahren und schätzen gelernt. Aber das dürfen Sie nicht missverstehen: Charlotte Knobloch, wie ich sie kennenlernen durfte, war stets zu unabhängig und zu klug, sich für politische Interessen einspannen oder gar instrumentalisieren zu lassen. Ich erinnere mich an Gespräche, die niemals Einbahnstraßen waren, an ihre genauen Nachfragen, ihr aufmerksames Zuhören und ihre klugen Kommentare und manchen guten Rat. Für all das, liebe Charlotte Knobloch, will ich Danke sagen.
Ich bin heute hier, um eine Frau zu ehren, die sich verdient gemacht hat um unser Land. Sie war und ist eine gewichtige und verlässliche Stimme – für den Zentralrat ebenso wie für die jüdischen Gemeinden und Institutionen in Deutschland. Sie war und ist eine Stimme gegen Vorurteile und Ausgrenzung und für ein aufgeklärtes Miteinander der Religionen. Dem Namensgeber dieses Studienwerks ist Charlotte Knobloch mit diesen Anliegen eng verbunden. Und sie ist – auch das macht sie zu einer so wichtigen Person – eine engagierte Demokratin und Patriotin.
Sie gehört zu jenen Deutschen jüdischen Glaubens, die in diesem Land etwas wieder aufgebaut haben, das unrettbar verloren schien. Heute, ein Lebensalter nach der Shoah, sehen wir, wie wichtig es war, dass Menschen wie Sie, liebe Charlotte Knobloch, mit Leidenschaft für ein jüdisches Leben in Deutschland eingetreten sind und dass Sie sich, wann immer es geboten war, zu Wort gemeldet haben.
Wir sehen, wie wertvoll es war, dass Sie – und mit Ihnen auch andere – Vertrauen fassen konnten in dieses Land und diesen demokratischen Staat, in dessen Verfassung die Erfahrung der Shoah und das Wissen um die Verletzlichkeit der Menschenwürde eingeschrieben sind.
Wenn wir die Verdienste Charlotte Knoblochs angemessen würdigen wollen, dann müssen wir würdigen, was sie und die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zum Aufbau dieses demokratischen Staates beigetragen haben. Das Vertrauen, das Sie in dieses Land gesetzt haben, und die Kritik, mit der Sie es begleitet haben, waren unverzichtbar für die Entwicklung der Bundesrepublik. Ohne Vertrauen und Kritik ist kein demokratischer Staat zu machen.
Die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen. Doch wie viel Mut brauchte es, sich als Jüdin nach der Shoah für ein Leben in Deutschland zu entscheiden! Wie viel Courage, teilzunehmen am demokratischen Wiederaufbau des Landes! Dafür gebührt Ihnen unser Dank! Ihnen, aber auch Ihrer Familie, Ihrem Vater Fritz Neuland, der die Shoah überlebte und nach München zurückkam, um seine Rechtsanwaltskanzlei neu zu eröffnen. Später führte er die Israelitische Kultusgemeinde in München und gehörte dem Bayerischen Senat an.
Dass Sie selbst in Deutschland geblieben sind, verdanken wir auch Ihrem Ehemann Samuel Knobloch, einem Überlebenden der Shoah aus Krakau, der als erfolgreicher Kaufmann an Ihrer Seite in München eine neue Heimat fand.
Ihnen allen haben wir zu danken, vor allen aber Charlotte Knobloch selbst. Wir haben Ihnen zu danken, weil Sie sich für dieses Land entschieden haben. Wir danken Ihnen für Ihr Lebenswerk, für den Aufbau und die Leitung der jüdischen Gemeinde in München, der Israelitischen Kultusgemeinde, für Ihr Engagement im Zentralrat der Juden in Deutschland, dessen Vorsitzende Sie von 2006 bis 2010 waren, und für Ihre Arbeit als Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses und des Europäischen Jüdischen Kongresses.
Schließlich aber will ich die Institution nicht vergessen, die uns heute hierher geführt hat, um Charlotte Knobloch auszuzeichnen: das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, an dessen Gründung vor zehn Jahren Charlotte Knobloch ebenfalls ganz wesentlichen Anteil hatte. Seine Stipendiatinnen und Stipendiaten stärken nicht nur unser Land und seine jüdische Gemeinschaft, sie sorgen auch für die Zukunft dieser Gemeinschaft, für ihre religiöse ebenso wie für ihre wissenschaftliche und künstlerische Zukunft – und sie treten ein für einen Austausch über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinweg. Die Initiative des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks, den jüdisch-muslimischen Thinktank Karov-Qareeb gemeinsam mit dem Avicenna-Studienwerk aus der Taufe zu heben, ist dafür nur ein beeindruckendes Beispiel.
Die Süddeutsche Zeitung nannte Charlotte Knobloch in einem Interview einmal Münchens stimmgewaltigste Mahnerin – und lag damit auf eine sehr erhellende Weise daneben. Vielleicht erinnern Sie sich, liebe Frau Knobloch: Sie wurden gefragt, ja eigentlich mehr noch gebeten, ob Sie in den Angelegenheiten, die Sie vertreten, nicht manchmal etwas konzilianter und weniger kompromisslos sein könnten. Sie entgegneten darauf, dass Sie sich selbst in einer ganz anderen Rolle sähen. Sie seien keine Mahnerin, sondern eine Verteidigerin. Ich will nicht mahnen. Ich will herausfordern!
Es ist das Beispiel, das Charlotte Knobloch uns gibt. Wer wie sie als Kind erleben musste, dass der eigene Vater, ein Rechtsanwalt, auf offener Straße verhaftet, entrechtet und entwürdigt wird, weil er Jude ist, wird als Erwachsene gegenüber Unrecht, Ausgrenzung und Gewalt kaum zu Konzilianz neigen. Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen
, sagte Hannah Arendt.
Aber was bedeutet das in unserer Zeit? Charlotte Knobloch war es in der Tat nie genug, bloß zu mahnen. Sie will das Recht eines jeden verteidigen, sich gegen Unrecht, das ihm geschieht, zur Wehr zu setzen. Ihr Eintreten für die Belange der jüdischen Gemeinden in Deutschland war immer auch ein Eintreten für die Rechte aller, die in diesem Land nach seinen demokratischen Regeln leben wollen. Es geht um das Recht, zu leben, wie man will, und zu glauben, was man will, solange man dieses Recht auch anderen zugesteht.
Es geht ihr um die jüdische Sache, aber ihr Engagement gilt gleichzeitig der liberalen und weltoffenen Gesellschaft, für die die große Mehrheit in unserem Land steht. Charlotte Knobloch zeigt uns mit diesem Engagement, dass, wer als Demokrat angegriffen wird, sich als Demokrat verteidigen muss, ja mehr noch: die Pflicht hat, die Demokratie zu verteidigen, in unser aller Interesse.
Dieses Engagement für die Demokratie verdient nicht nur unsere Unterstützung, sondern wir müssen es, wo immer es in Frage gestellt wird, verteidigen. Wir werden es vor allem auch weiter und eher stärker und entschiedener gegen antisemitische Angriffe verteidigen müssen.
Charlotte Knobloch hat vor nicht allzu langer Zeit unter dem Eindruck der öffentlichen Auseinandersetzung um die Beschneidung einmal öffentlich gefragt: Wollt Ihr uns Juden noch? Ich beantworte diese Frage mit großer Überzeugung und aus vollem Herzen mit Ja.
Wir wollen die jüdische Gemeinschaft in unserem Land. Wir verurteilen Angriffe auf jüdische Bürger. Und wir begreifen den Antisemitismus als Angriff auf uns alle, auf unsere liberale Ordnung, auf unser Zusammenleben in einer Gesellschaft, die stolz ist auf ihre Vielfalt, die sich bewusst entschieden hat, nicht im Gleichschritt zu marschieren.
Und so, wie der Antisemitismus ein Angriff auf uns alle ist, so müssen wir ihn gemeinsam offen und ohne Furcht bekämpfen. Antisemitismus ist eine sehr bewusste Haltung, eine aktive Haltung. Umso mehr werden wir, die wir ihn bekämpfen wollen, Haltung zeigen müssen, eine aufrechte, kämpferische, eindeutige und demokratische Haltung. Das wollen wir tun, liebe Charlotte Knobloch!
Ich wünsche mir, dass diese aufrechte Haltung für die jüdische Gemeinschaft in unserem Land spürbar und erkennbar wird. Ich bin mir sicher, die große Mehrheit der Deutschen wünscht sich ein friedliches Zusammenleben und will, dass jüdisches Leben zu unserem Land gehört. Diese Mehrheit darf nicht länger schweigen, es darf auch nicht länger bei bloßen Bekenntnissen bleiben. Der Staat muss Verantwortung übernehmen für jüdische Leben in Deutschland, und unsere Solidarität muss sichtbar werden, nicht nur nach Ereignissen wie gestern in Halle. Die Vergangenheit mahnt uns. Die Gegenwart fordert uns. Lassen Sie uns zusammenstehen gegen Hass und Gewalt!