Geteilte Geschichte(n): "Vom Weggehen und Heimkehren"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 25. Oktober 2019

Der Bundespräsident hat am 25. Oktober das dritte Gespräch in der Reihe Geteilte Geschichte(n) in Schloss Bellevue mit einer Rede eingeleitet: "Niemand muss schweigen, wenn ihm etwas nicht gefällt. Aber andere zum Schweigen bringen zu wollen, nur weil sie das eigene Weltbild irritieren, ist nicht akzeptabel. Der offene Streit, selbstverständlich im Respekt für den jeweils anderen, das ist etwas, was wir uns gegenseitig zumuten müssen. Er ist das Herzstück der Demokratie."


Nach zwei Monaten fand ich was Neues, bei Stuttgart.
Ernst nannte mich Verräterin.
Er meinte das nicht politisch.

Was Ingo Schulze in Simple Storys erzählt, kennen viele Ostdeutsche: Renate Meurer, verheiratet mit dem einst SED-treuen Schuldirektor Ernst Meurer, sieht keine Perspektive mehr und sucht sich Arbeit im Westen. Zwischen diesen Zeilen liegt ein Leben. Oder zwei halbe, das eine im Osten, das andere im Westen. Wir lesen drei Sätze dieser wunderbar lakonischen Sprache von Ingo Schulze. Und erfahren doch viel mehr.

Renate geht in den Westen. Im Roman ist sie die einzige, die diesen Schritt wagt. Im wirklichen Leben waren es damals, in den neunziger Jahren, Millionen.

Und deshalb auch Millionen Geschichten. Der große Umbruch vor 30 Jahren, er traf vor allem die Ostdeutschen. Viele ihrer Geschichten sind noch nicht erzählt, sind noch kein Bestandteil einer gemeinsamen deutschen Erzählung geworden. Ich würde sie gern hören. Und ich bin mir sicher: Viele von ihnen würden ihre Geschichte auch gern erzählen.

Das offene Ohr, das beherzte Wort, die schonungslos ehrliche, aber auch respektvolle Auseinandersetzung – das sind die Tugenden, die unser Land heute so dringend braucht. Was wir gewiss nicht brauchen – lassen Sie mich das auch aus gegebenem Anlass sagen –, das sind aggressive Gesprächsverhinderungen, Einschüchterungen und Angriffe. Angriffe auf vermeintlich unbequeme Politikerinnen und Politiker, wie es sich jüngst in Göttingen und Hamburg zugetragen hat, oder auf umstrittene Professoren in Hörsälen und Seminarräumen. Niemand muss schweigen, wenn ihm etwas nicht gefällt. Aber andere zum Schweigen bringen zu wollen, nur weil sie das eigene Weltbild irritieren, ist nicht akzeptabel. Der offene Streit, selbstverständlich im Respekt für den jeweils anderen, das ist etwas, was wir uns gegenseitig zumuten müssen. Das ist das Herzstück der Demokratie. Und wenn die Universität ein Lernort der Demokratie sein will und sein muss, dann haben alle Gruppen an der Universität ihren Respekt vor der Demokratie und den für sie geradezu konstitutiven Wettbewerb unterschiedlicher Positionen zu zeigen. Zur Demokratie gehört die Beteiligung am Streit und nicht seine Verhinderung.

Auch in der Gesprächsreihe Geteilte Geschichte(n) wollen wir uns 30 Jahre nach Friedlicher Revolution und Mauerfall mit anderen Perspektiven auseinandersetzen. Wir wollen über Geschichte und Geschichten reden, in unserem so lange geteilten und dann wieder vereinten Land. Liebe Gäste, zu einer Erzählung gehören mindestens zwei: jemand, der erzählt, und ein anderer, der zuhört. Dazu möchte ich Sie ganz herzlich einladen: zum Erzählen und zum Zuhören im dritten Teil unserer Reihe. Ich freue mich, dass Sie alle hier sind. Herzlich Willkommen Ihnen allen hier in Schloss Bellevue!

Von Mut- und Glücksmomenten – darum ging es im ersten Teil dieser Reihe. Der zweite Teil handelte Von Erwartungen und Enttäuschungen. Unser heutiges Thema ist Weggehen und Heimkehren. Stephanie Auras-Lehmann und Jana Simon, unsere heutigen Gäste, haben damit ihre ganz eigenen Erfahrungen gemacht, und ich freue mich auf ihre Geschichten. Und auch auf Ihre Geschichten, verehrte Gäste im Saal. Ich begrüße auch die Gäste aus Anklam und Heide, aus Ostritz und Schloß Holte-Stukenbrock, die über Städtepartnerschaften die Einheit leben, die wir eigentlich wollen. Ich freue mich, dass Sie heute hier sind. Meine herzliche Bitte an Sie alle: Ergreifen Sie die Gelegenheit, erzählen Sie uns Ihre Geschichten!

Die Erfahrungen der Menschen im Westen und im Osten unseres Landes unterscheiden sich stark. Und diese Erfahrungen prägen die Sichtweise auf die Ereignisse von damals und auf die folgenden Jahre. Im Osten traf der Umbruch jede einzelne Familie. Millionen Menschen verloren ihre Arbeit, viele mussten umschulen – oder sie gingen eben in den Westen. Es waren vor allem die Jungen, viele Frauen, die diesen Schritt wagten. Ein riesiger, ein schmerzhafter Aderlass. Dieser Aderlass wirkt bis heute fort, in manchen Gegenden fehlt eine ganze Generation. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Es ist vor allem Aufgabe von Politik, für gute Lebensverhältnisse in den ländlichen Regionen zu sorgen – im Osten und natürlich genauso im Westen.

Aber es kommt auch auf den Einzelnen an. Und deshalb finde ich es so ermutigend, dass heute sogar etwas mehr Menschen von West nach Ost ziehen als umgekehrt. Hoffentlich folgen noch viel mehr!

Eine, die zurückgekehrt ist, sind Sie, liebe Frau Auras-Lehmann. Sie sind in Finsterwalde aufgewachsen. An den Mauerfall haben Sie keine direkten Erinnerungen – Sie waren noch ein Kind. Aber Sie haben gut in Erinnerung, dass Ihre Eltern in den Jahren danach beruflich immer wieder etwas Neues angefangen haben.

Sie selbst sind dann als junge Frau weggegangen, nach Hessen, Berlin, Leipzig, sogar New York. Dann aber zog Sie die Liebe zurück in die Heimat: Heimat – Heeme – ist für Sie etwas ganz Positives. Und weil es anderen genauso geht, haben Sie die Agentur Comeback Elbe-Elster gegründet. Sie beraten und helfen Menschen in allen Lebensbereichen, die in den Südosten Brandenburgs zurückgehen oder zurückgehen wollen. Sie selbst sehen sich heute als Einheitskind mit ostdeutschen Eigenheiten – und was das ist, darüber werden wir sicher gleich mehr von Ihnen hören. Ein ganz herzliches Willkommen, liebe Frau Auras-Lehmann!

In die Ferne gezogen hat es auch Sie, liebe Jana Simon. Sie sind in Ost-Berlin aufgewachsen und kommen aus einer der bekanntesten Schriftstellerfamilien der DDR: Ihre Großeltern sind Christa und Gerhard Wolf. Die Gespräche, die Sie mit ihnen geführt haben, als Ihre Großmutter noch lebte, berühren jeden und haben auch mich beim Lesen sehr berührt.

Liebe Frau Simon, Sie waren 17 Jahre alt, als die Mauer fiel. Nach der Schule zog es Sie ins Sehnsuchtsland der Deutschen, nach Italien. Ostdeutsche gab es damals vermutlich in Perugia kaum. Später haben Sie in London studiert und auch in den USA gelebt. Und auch Sie sind immer wieder zurückgekehrt.

Heimat, das ist für Sie vor allem und zuallererst Sprache, Sprache, in der Sie als Journalistin und Autorin schreiben. Heimat, das ist für Sie auch Berlin. Sie sehen sich vielleicht eher als Ostdeutsche, aber haben Westdeutschland genauso gut kennengelernt – wie das bei vielen heute in unserem Land so ist. Gerade haben Sie mit Unter Druck ein Buch veröffentlicht, in dem Sie das getan haben, was wir heute auch tun wollen: Sie haben zugehört. Im Unterschied zu uns haben Sie es sogar aufgeschrieben. In Geschichten von ganz verschiedenen Menschen malen Sie ein Bild unseres heutigen vereinten Deutschlands und zeichnen die Problemlinien nach, die uns Sorgen machen. Haben Sie Dank auch für dieses Buch und seien Sie ganz herzlich willkommen, liebe Jana Simon!

Und schließlich möchte ich unseren heutigen Moderator begrüßen. Lieber Marco Seiffert, Sie sind im damaligen West-Berlin geboren und haben den Mauerfall in der Schulzeit erlebt. Viele Berliner kennen Ihre Stimme ebenso wie Ihr Gesicht, Sie arbeiten als Reporter und Moderator beim RBB. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen, lieber Marco Seiffert!

Liebe Gäste, jetzt bin ich gespannt auf die Geschichten, die wir zunächst hören werden, und nach einer Dreiviertelstunde sind Sie dann dran und haben die Möglichkeit, das Gehörte mit Ihren Geschichten zu ergänzen. Danke fürs Kommen!

Mitschnitt des anschließenden Gesprächs