Einweihung eines Denkmals für den NS-Widerstandskämpfer Georg Elser

Schwerpunktthema: Rede

Hermaringen, , 4. November 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Einweihung eines neuen Denkmals für den NS-Widerstandskämpfer Georg Elser in Hermaringen am 4. November eine Ansprache gehalten: "Er war einer unter uns. Ein Hermaringer. Einer, der nicht auffiel. Doch in seinem Handeln, in seiner Bereitschaft, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen und für seine Taten einzustehen, war Georg Elser ein großer Mann."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Einweihung eines Denkmals zur Erinnerung an den NS-Widerstandskämpfer Georg Elser auf dem Marktplatz von Hermaringen.

Ich bin sehr dankbar für diese Einladung, vor allem aber freue ich mich über den Anlass, der uns heute hier zusammenführt: die Ehrung eines außergewöhnlich mutigen Menschen. Wir sind Georg Elser die verdiente Anerkennung lange schuldig geblieben. Wenn wir ehrlich miteinander sind und aufrichtig im Umgang mit unserer Geschichte, dann müssen wir eingestehen: Wir haben lange Zeit gebraucht, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu würdigen, und noch einmal so lange, um einen der herausragenden Widerstandskämpfer, Georg Elser, zu entdecken, seine Haltung zu würdigen und ihn zu ehren.

Warum das so ist? Vielleicht, weil dieser Mann, der in unseren Geschichtsbüchern lange keinen Platz fand und heute wahlweise als kleiner oder einfacher Mann aus dem Volk firmiert, all das war und doch auch nicht war, weil er sich in keines der Bilder wirklich fügte, das wir uns von ihm gemacht haben.

Doch das zu erkennen, beantwortet noch nicht die Frage, warum Elser sah, was andere nicht sehen konnten oder wollten, warum er in Adolf Hitler den skrupellosen Massenmörder erkannte, lange bevor er seine Mordpläne ins Werk setzte. Vor allem aber, warum Elser – und mit ihm nur sehr wenige andere – sich nicht verführen und mitreißen ließ, wie so viele andere.

Der Einzelne, der klüger ist, sich verweigert und entzieht, fasziniert uns, er beschämt uns auch – wie im Fall Georg Elsers. Eine mindestens ebenso große, erschreckende Faszination aber geht von dem Phänomen der massenhaften Gefolgschaft Adolf Hitlers aus, der Bewunderung, Verehrung für ihn und schließlich der Komplizenschaft mit einem Massenmörder. Wir lernen in der Beschäftigung mit der Geschichte Georg Elsers vor allem viel über die vielen anderen, die Verführten, die Mitläufer, und damit möglicherweise auch etwas über uns.

Georg Elser war ein einfacher Mann, ein guter Handwerker und Zitherspieler, ein geselliger und beliebter Mensch. Er war einer unter uns. Ein Hermaringer. Einer, der nicht auffiel.

Doch in seinem Handeln, in seiner Bereitschaft, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen und für seine Taten einzustehen, war Georg Elser ein großer Mann. Einer unter uns, ja. Aber einer, der herausragt. Eine Ausnahmeerscheinung.

Was Georg Elser von seinen Zeitgenossen unterschied, waren sein waches Auge und sein ebenso waches Herz.

Georg Elser war ein besonderer Mensch, kein Durchschnittsbürger. Der große liberale Politiker und Soziologe Ralf Dahrendorf klagte noch lange nach dem Ende der NS-Diktatur einmal, unter deutschen Bürgern herrsche eine große Ruhe. Man errege sich nicht, schon gar nicht über Unmenschlichkeiten in der eigenen Welt. Man sieht sie erst gar nicht. Man schließt die Augen. Man nimmt sie nicht zur Kenntnis.

Aus dieser Momentaufnahme Dahrendorfs sprach 1965 – zwei Jahrzehnte nach Kriegsende – nicht wenig Bitterkeit. Was er uns Deutschen da ins Stammbuch schrieb, galt nicht für Georg Elser. Er war die Ausnahme von der Regel. Elser hat genau hingesehen und wahrgenommen, nicht nur, was sich ereignete, sondern auch, was sich vorbereitete.

Ich stelle mir vor, dass er seine Umwelt mit dem präzisen Blick des Schreiners beobachtete, dem Blick eines Handwerkers, der sieht, ob und wie zusammenpasst, was er in den Händen hält. Ich vermute, er sah auch mit dem Herzen, dem Herz eines Zitherspielers, mit der Empfindsamkeit eines Musikers, der Dissonanzen hörte, dem der anschwellende Lärm des Krieges und die Klage der Misshandelten in den Ohren gellte.

Und Georg Elser sah nicht nur aufmerksam hin, er handelte auch so. Er handelte wie ein guter, umsichtiger Handwerker, nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Plan, vorausschauend und mit großer Präzision.

Dass der Plan scheiterte, Adolf Hitler aufzuhalten, war ein Unglück. Dass der Diktator, dass das Regime seinen Krieg weiterführen und unser Land, unseren Kontinent, ja die halbe Welt mit sich in den Abgrund reißen konnte, war eine Katastrophe. Es gibt keine größere in unserer Geschichte. Und es gibt wohl niemanden unter uns, die wir heute hier zusammen stehen, der das nicht bezeugen könnte. Egal wie jung oder wie alt wir sind – keine Familie in Deutschland und auch keine in Europa, die nicht einen Bruder, Vater, Großvater oder Urgroßvater verloren hat. Weit über 50 Millionen Menschen sind umgekommen in diesem Krieg, den Georg Elser beenden wollte. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden in Vernichtungslagern ermordet. Millionen weitere als politische Gegner und als Kriegsgefangene. So viele Existenzen sind vernichtet worden in dieser Zeit! So viele Leben zerstört!

Elser handelte schon zwei Monate nach Beginn dieses Krieges. Georg Elser hätte mit seiner Tat, wäre sie geglückt, mit hoher Wahrscheinlichkeit erreicht, was er beabsichtigte: Er wollte diesen Krieg und das Unrecht des nationalsozialistischen Regimes beenden. Er wollte Adolf Hitler töten. Sein Anschlag galt aber auch der gesamten Spitze des Nazi-Regimes: Auch Himmler, Heß, Goebbels und viele andere waren damals im Bürgerbräukeller. Der von den Nationalsozialisten gekaperte Staat wäre im Wortsinn führerlos gewesen.

Was darauf gefolgt wäre, wissen wir nicht. Wir kennen nur die Motive Georg Elsers und die Folgen seiner Tat. Vor allem aber wissen wir um die Folgen seines Scheiterns. Acht Menschen starben. Hitler dagegen lebte und mit ihm auch seine Entourage. Die Folgen ihres Überlebens waren furchtbar.

Georg Elser wurde noch am selben Tag verhaftet. Es ist ihm vieles angedichtet und vieles vorgeworfen worden: Er habe nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag des britischen Geheimdienstes gehandelt. Er sei SS-Mitglied gewesen und habe mit seiner Tat dem Mythos der Vorsehung und der Unverwundbarkeit Hitlers Vorschub leisten sollen.

Die Verhörprotokolle offenbaren etwas anderes. Wer sie liest, kommt zu der Überzeugung, dass es weder an der alleinigen Verantwortung Elsers für seine Tat noch an der Lauterkeit seiner Motive einen Zweifel geben kann. Dass manche ihm trotzdem – auch in jüngster Zeit noch – die moralische Legitimation für seine Tat absprechen, sollte uns nicht irritieren. Wir sollten vielmehr dankbar sein, dass Hermaringen engagierte Bürgerinnen und Bürger hat, die gemeinsam mit jungen Leuten dieses neue Denkmal für Georg Elser möglich gemacht haben.

Aber Sie könnten mich auch fragen, welchen zentralen Konflikt ich Ihnen hier aufzulösen versuche. Kann es lautere Motive für einen Anschlag geben, bei dem acht Menschen starben?

Es gab unter den Frauen und Männern des Widerstands Zweifel an und auch Auseinandersetzungen um die moralische Legitimität des Tyrannenmords, etwa zwischen Helmuth James Graf von Moltke und Dietrich Bonhoeffer. Moltke lehnte die Attentatspläne ab. Bonhoeffer dagegen befürwortete sie, ja er unterstützte sie. Er wusste, dass es aus dem moralischen Dilemma dieser Situation kein Entrinnen gab. Wer handelte, machte sich einer Gewalttat schuldig. Doch wer nicht handelte, ließ dem Verbrechen seinen Lauf und blieb deshalb nicht ohne Schuld.

Das Dilemma ist unauflösbar, denn die acht Toten des Attentats lasteten sehr wohl auf Elsers Gewissen, wir lesen es in den Verhörprotokollen. Doch er nahm diese Schuld auf sich. Er tat, was er tat, als Georg Elser. Dieses Wort, Schuldübernahme, finden wir auch bei Dietrich Bonhoeffer. Beide handelten in dem Bewusstsein, dass dem Terror und der Gewalt des nationalsozialistischen Regimes nicht mehr auf andere Weise begegnet werden konnte.

Und lassen Sie mich als Jurist hinzufügen: An dem Beispiel, das beide uns gaben, hat schließlich auch unsere Verfassung Maß genommen. Das Grundgesetz kennt das Widerstandsrecht, weil es Georg Elser kennt. Gegen jeden, der es unternimmt, unsere freiheitlich-demokratische Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Wenn andere Abhilfe nicht möglich ist – und welche Abhilfe hätte es in einer totalitären Diktatur ohne Rechtsstaat, ohne Wahlen, ohne Presse- und Meinungsfreiheit, unter einer Gewaltherrschaft, die jede Abweichung, jede Verweigerung willfähriger Gefolgschaft mit Verfolgung, Folter und Mord vergalt, welche Abhilfe hätte es unter solchen Verhältnissen denn geben sollen? Wir verdanken diesen Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes vor allem einem Mann, der selbst viel Mut brauchte, der Ablehnung und Ausgrenzung erfahren hat, der gegen die Mehrheit in Gesellschaft und Justiz die Auschwitzprozesse ins Rollen brachte, fast zwanzig Jahre nach Ende der Naziherrschaft, Fritz Bauer, der als Generalstaatsanwalt in Braunschweig schon in den frühen 50er Jahren dafür kämpfte, den deutschen Widerstand gegen seine Verleumder zu verteidigen. Auch er: aufrecht, einsam und mutig – so wie Georg Elser.

Georg Elser ist in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ein Großer, ein Großer, an den die Erinnerung lange, viel zu lange kleingehalten worden ist. Dieses Land, Deutschland, ist Georg Elser Anerkennung, Respekt und Dank schuldig.