Filmvorführung "Mauerfall – Ein Jahr, das Geschichte schrieb"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 7. November 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender haben am 7. November in Berlin an der Vorführung des Dokumentarfilms "Mauerfall – Ein Jahr, das Geschichte schrieb" von Stefan Aust und Katrin Klocke teilgenommen. In seiner Ansprache zu Beginn des Abends sagte der Bundespräsident: "Wir können heute mit großer Dankbarkeit und mit noch einmal wiedererlebbarer Freude diese damals so unglaublichen Bilder ansehen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache vor der Vorführung des Films "Mauerfall – Ein Jahr, das Geschichte schrieb" im Kino International

Als sich im Herbst 1989 mit den großen Demonstrationen in Plauen, Leipzig und anderswo in der DDR, mit Fluchtbewegungen in Richtung Ungarn und Prag, mit der endlich erlaubten Ausreise tausender dorthin Geflohener, mit den Demonstrationen am Rande der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR und mit der großen Kundgebung am Alexanderplatz die Ereignisse überstürzten und zuspitzten, und als sich schließlich in der Nacht des 9. November in Berlin die Mauer öffnete – da hatten wohl viele die Zeile aus dem damals gar nicht mehr neuen Song von Fehlfarben im Sinn: Geschichte wird gemacht.

Ob hier in Berlin oder sonstwo im Norden, Süden, Westen und Osten Deutschlands – das war das beherrschende Gefühl in jenen Tagen: Geschichte wird gemacht. Und auch Es geht voran, wie es dann weiter in dem Lied heißt.

Aber dieser Satz ist für diese Wochen, für die Nacht des 9. November und für die darauf folgenden Monate auch noch vieltausendmal ins persönliche, ins individuelle und ganz subjektive Leben zu übersetzen und dafür auszubuchstabieren. Die Geschichte, die gemacht wird, besteht aus vielen tausenden, ja Millionen einzelnen Geschichten. Jeder Einzelne macht Geschichte, jeder Einzelne erlebt Geschichte in seinem eigenen, unverwechselbaren und unvertretbaren Leben.

Das gilt zwar immer, aber manchmal sind windstille Zeiten, in denen das nicht so spürbar ist. Und dann auf einmal verdichtet sich historisches Geschehen in so kurzer Zeit, finden tagtäglich so unwahrscheinliche, für unmöglich gehaltene Geschehnisse statt, dass für jeden Einzelnen hautnah und unausweichlich spürbar wird: Jetzt findet Geschichte statt – und ich erlebe sie selber, ich mache dabei mit.

Der Ausgang ist offen. Wie viel Glück oder wie viel Leid das bringen wird, was gerade geschieht, ob die Hoffnungen sich erfüllen oder Enttäuschung Platz greifen wird, ob es gut ausgehen wird oder schlecht – und für wen das eine gilt und für wen das andere –, das steht in solchen historischen Momenten noch dahin.

Es ist gut, wenn wir uns heute, da sich diese Tage des Aufbruchs, diese Tage der Eroberung von Freiheit und neuen Lebensmöglichkeiten, diese Tage der Freude und des unbändigen Jubels, diese Tage auch des Zusammenbruchs eines diktatorischen Systems zum dreißigsten Male jähren, es ist gut, wenn wir uns heute noch einmal die Bilder dieses Aufbruchs ansehen, noch einmal mitten hineingenommen werden in jene Tage.

Wohl kein historisches Ereignis der jüngeren Geschichte ist live so miterlebbar gewesen. Wie gut, dass manche Reporter oder Redakteure dann noch ein so gutes Näschen hatten wie die Leute von Spiegel TV, die im entscheidenden Moment am Übergang Bornholmer Straße waren und aus deren Aufnahmen der Film zusammengestellt ist. So konnten sie von den allerersten Anfängen an übertragen und damit gegen unser eigenes Vergessen und für das Gedächtnis späterer Generationen festhalten, wie aus einem kleinen Rinnsal der ersten Mutigen der unaufhaltsame Strom wurde, der die Mauer zu Fall brachte.

Wir können heute mit großer Dankbarkeit und mit noch einmal wiedererlebbarer Freude diese damals so unglaublichen Bilder ansehen.

Und es ist gut, wenn wir uns dabei noch einmal vor Augen halten, dass diese große kollektive Erfahrung, die wir als Deutsche in Ost und West machen durften, dass diese Tage, die die Teilung überwunden und uns zusammengebracht haben, sich in Millionen einzelnen Erfahrungen brechen und spiegeln. Jeder wird sich ein Stück weit anders erinnern, an seine eigene Geschichte, an seine eigenen Träume und Hoffnungen. Ja, im Großen haben wir gemeinsam erlebt, wie Geschichte gemacht wird. Aber damit es wirklich eine gemeinsame Geschichte wird und bleibt, müssen wir unsere einzelnen, oft so unterschiedlichen Geschichten miteinander teilen.

Wenn dieser Film nicht nur Erinnerung lebendig werden lässt, sondern zu solchem Teilen und zum Austausch über individuelle Erfahrungen bewegt und ermutigt, dann können wir ihn gerade heute gut gebrauchen. Und noch besser wäre es, wenn wir etwas von dem Mut, der Zuversicht und dem Selbstbewusstsein in unsere Zeiten heute holen würden.