Feierlichkeiten am Brandenburger Tor zu 30 Jahren Friedlicher Revolution und Mauerfall

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 9. November 2019

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 9. November bei den Feierlichkeiten zu 30 Jahren Friedlicher Revolution und Mauerfall eine Ansprache am Brandenburger Tor in Berlin gehalten: "Die Berliner Mauer, die hatte Ulbricht gebaut. Die hat ein Unrechtsregime errichtet. Aber die neuen Mauern in unserem Land, die haben wir selbst gebaut. Und nur wir selber können sie einreißen. Also schauen wir nicht zu, klagen wir nicht darüber: Reißen wir diese Mauern endlich ein!"


Was für ein wunderbarer Anblick! So viele Menschen sind gekommen, hier ans Brandenburger Tor, das so lange ein Symbol der Teilung unseres Landes war. Heute ist es ein anderes: ein Symbol der Einheit und Freiheit – ein Symbol für ein starkes Land und eine weltoffene Stadt. Guten Abend, Berlin!

Wir alle sind hier, um zu erinnern. An die Nacht der Nächte, nach der nichts mehr war wie zuvor. Liebe Landsleute, liebe Gäste aus aller Welt: Heute Nacht vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer! Welch ein Glück für uns Deutsche. Welch ein Glück für ganz Europa. Lassen Sie uns das feiern heute Abend.

Diese Mauer, sie fiel ja nicht einfach. Die friedlichen Revolutionäre haben sie eingerissen. Sie, die Mutigen in der DDR, haben Geschichte geschrieben: Demokratiegeschichte, Weltgeschichte. Dafür können ihnen wir auch 30 Jahre später nicht dankbar genug sein.

Die Mauer, sie fiel nicht einfach. Die Menschen in Osteuropa haben sie ins Wanken gebracht. Unsere Gedanken sind heute auch bei unseren Freunden in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Ihr Mut hat den Menschen in Ostdeutschland Mut gemacht. Ihr Mut hat die Teilung Europas beendet. Wir danken Euch dafür!

Die Mauer, sie fiel nicht einfach. Sie war brüchig geworden, weil Michail Gorbatschow in Moskau eine andere Politik eingeleitet hat, eine Politik der Entspannung. Er hat mutig und menschlich gehandelt – und wir sind bis heute dankbar dafür!

Die Mauer, sie fiel nicht einfach. Auch ein starker Arm aus dem Westen war am Werk. Ich sehe ihn noch vor mir: Ronald Reagan hier vor dem Brandenburger Tor. Und ich höre noch sein Tear down this wall! Diesem Amerika verdanken wir Deutschen viel. Und dieses Amerika als Partner in gegenseitigem Respekt, als Partner für Demokratie und Freiheit, gegen nationalen Egoismus – das wünsche ich mir auch in Zukunft.

Und: Die Mauer, sie fiel nicht einfach, die Wiedervereinigung geschah nicht einfach, ohne dass unsere Nachbarn in ganz Europa uns Deutschen neues Vertrauen geschenkt hätten, nach all dem Unheil, das von diesem Land ausgegangen war.

Auch dafür steht der 9. November. Er steht für den Aufbruch in die erste deutsche Demokratie, für die Ausrufung der Republik vor gut einem Jahrhundert. Aber der 9. November erinnert auch an die Zerstörung dieser ersten deutschen Demokratie, an den Absturz in die Barbarei, an brennende Synagogen, an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.

Spätestens, allerspätestens nach dem Anschlag von Halle haben hoffentlich alle in diesem Land begriffen: Die Jahre vergehen, die Vergangenheit rückt in die Ferne – ja. Aber das Nie wieder, der Kampf gegen Rassenhass und Antisemitismus, diese Verantwortung vergeht nicht!

Der 9. November ist ein Tag der widersprüchlichen Erinnerungen – ein ambivalenter Tag. Ambivalenzen auszuhalten, Licht und Schatten, Freude und Trauer im Herzen zu tragen, das gehört dazu, wenn man Deutscher ist. Wenn man Teil dieses Landes und seiner Geschichte ist.

Wir diskutieren und wir streiten in diesen Wochen so intensiv wie lange nicht über die deutsche Wiedervereinigung und ihre Folgen. Ich denke: Gut so. Denn es wird nie die eine, die definitive, die offizielle Geschichte der Deutschen Einheit geben. Und die brauchen wir doch gar nicht. Geschichte besteht aus Geschichten. Und die Geschichte unseres Landes besteht aus unseren Geschichten – aus Ihren Geschichten. Sie alle haben Ihre ganz eigenen Erinnerungen an die Zeit vor 30 Jahren, an das Zusammenwachsen von Ost und West.

Ich wünsche mir: Erzählen wir einander unsere Geschichten. Vor allem: Hören wir einander zu und nehmen wir uns gegenseitig ernst.

Manche von Ihnen waren vielleicht sogar selbst dabei, an der Mauer, auf der Mauer, damals, in jener magischen Nacht hier in Berlin. Ich muss ehrlich sagen: Ich beneide Sie. Wie gern wäre ich dabei gewesen. Wie gern hätte ich diese ungeheure Kraft gespürt. Wie gern hätte ich den Jubel der Mauerstürmer gehört. Die Bilder und Filmaufnahmen von damals jagen uns noch heute Schauer über den Rücken.

Es geht aber heute nicht nur um die alten Bilder. Um die Sternstunden von damals. Sondern wir spüren: Es geht um uns. Hier und heute. Es geht um den Zusammenhalt in unserem Land. Wenn wir heute Abend mit Dankbarkeit, mit Tränen in den Augen, an die Mutigen von damals erinnern, dann können wir doch nicht gleichzeitig dabei zugucken, wie das, was sie erkämpft haben, in Vergessenheit gerät. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen ausgegrenzt und angegriffen werden, dass die Demokratie verhöhnt, dass der Zusammenhalt in diesem Land zerstört wird! Das dürfen wir nicht zulassen!

Diese große Mauer, dieses unmenschliche Bauwerk, das so viele Opfer gefordert hat, steht nicht mehr. Diese Mauer ist weg, ein für alle Mal.

Aber quer durch unser Land sind neue Mauern entstanden: Mauern aus Frust, Mauern aus Wut und Hass. Mauern der Sprachlosigkeit und der Entfremdung. Mauern, die unsichtbar sind, aber trotzdem spalten. Mauern, die unserem Zusammenhalt im Wege stehen.

Und wissen Sie was? Die Berliner Mauer, die hatte Ulbricht gebaut. Die hat ein Unrechtsregime errichtet. Aber die neuen Mauern in unserem Land, die haben wir selbst gebaut. Und nur wir selber können sie einreißen. Also schauen wir nicht zu, klagen wir nicht darüber: Reißen wir diese Mauern endlich ein!

Jeder und jede, die hier heute steht, jeder und jede in unserem Land, kann etwas dafür tun. Denn Zusammenhalt, den kann man nicht von oben verordnen. Zusammen hält, wer zusammen tut. Also tun wir was! Ziehen wir uns nicht zurück hinter Mauern und in Echokammern. Sondern streiten wir für diese Demokratie!

Ich wünsche mir, dass wir etwas von dem Mut, etwas von der Zuversicht, etwas von dem Selbstbewusstsein jener Tage des Mauerfalls in unsere Zeit heute holen. Einheit, Freiheit, Demokratie – das haben die Mutigen damals erkämpft. Welch ein großartiges, welch ein stolzes Erbe. Machen wir was draus!